EuGH: Zur Überprüfung der Missbräuchlichkeit einer Klausel im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des Mahnbescheids von Amts wegen
EuGH, Urteil vom 18.2.2016 – Rs. C 49/14, Finanmadrid EFC SA gegen Jesús Vicente Albán Zambrano, María Josefa García Zapata, Jorge Luis Albán Zambrano, Miriam Elisabeth Caicedo Merino, ECLI:EU:C:2016:98
Volltext: BB-Online BBL2016-513-1
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Tenor
Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der das mit der Vollstreckung eines Mahnbescheids befasste Gericht die Missbräuchlichkeit einer in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher enthaltenen Klausel nicht von Amts wegen prüfen darf, wenn die mit dem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids befasste Stelle nicht befugt ist, eine solche Prüfung vorzunehmen.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29) und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Finanmadrid EFC SA (im Folgenden: Finanmadrid) einerseits und Herrn J. V. Albán Zambrano, Herrn J. L. Albán Zambrano, Frau García Zapata und Frau Caicedo Merino andererseits über Beträge, die aufgrund eines Verbraucherkreditvertrags geschuldet werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 3 der Richtlinie 93/13 lautet:
„(1) Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.
(2) Eine Vertragsklausel ist immer dann als nicht im Einzelnen ausgehandelt zu betrachten, wenn sie im Voraus abgefasst wurde und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluss auf ihren Inhalt nehmen konnte.
Die Tatsache, dass bestimmte Elemente einer Vertragsklausel oder eine einzelne Klausel im Einzelnen ausgehandelt worden sind, schließt die Anwendung dieses Artikels auf den übrigen Vertrag nicht aus, sofern es sich nach der Gesamtwertung dennoch um einen vorformulierten Standardvertrag handelt.
Behauptet ein Gewerbetreibender, dass eine Standardvertragsklausel im Einzelnen ausgehandelt wurde, so obliegt ihm die Beweislast.
(3) Der Anhang enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“
4 Art. 6 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Verbraucher den durch diese Richtlinie gewährten Schutz nicht verliert, wenn das Recht eines Drittlands als das auf den Vertrag anzuwendende Recht gewählt wurde und der Vertrag einen engen Zusammenhang mit dem Gebiet der Mitgliedstaaten aufweist.“
5 Art. 7 der Richtlinie 93/13 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
(2) Die in Absatz 1 genannten Mittel müssen auch Rechtsvorschriften einschließen, wonach Personen oder Organisationen, die nach dem innerstaatlichen Recht ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, im Einklang mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften die Gerichte oder die zuständigen Verwaltungsbehörden anrufen können, damit diese darüber entscheiden, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst wurden, missbräuchlich sind, und angemessene und wirksame Mittel anwenden, um der Verwendung solcher Klauseln ein Ende zu setzen.
...“
Spanisches Recht
6 Das Mahnverfahren ist im Gesetz über den Zivilprozess (Ley de Enjuiciamiento Civil) vom 7. Januar 2000 (BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, S. 575) in der durch das Gesetz 1/2013 zur Verbesserung des Schutzes der Hypothekenschuldner, Umschuldung und Sozialmieten (Ley 1/2013 de medidas para reforzar la protección de los deudores hipotecarios, reestructuración de la deuda y alquiler social) vom 14. Mai 2013 (BOE Nr. 116 vom 15. Mai 2013, S. 36373, im Folgenden: LEC) geänderten Fassung geregelt.
7 Art. 551 Abs. 1 LEC sieht vor:
„Auf den Vollstreckungsantrag hin erlässt das Gericht, sofern die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen und Erfordernisse vorliegen, der Vollstreckungstitel keinen Formmangel aufweist und die beantragten Vollstreckungsmaßnahmen mit Art und Inhalt des Titels übereinstimmen, den Vollstreckungsbefehl, mit dem die fragliche Vollstreckung angeordnet wird.“
8 Art. 552 Abs. 1 Unterabs. 2 LEC lautet:
„Stellt das Gericht fest, dass eine Klausel in einem der in Art. 557 Abs. 1 genannten Vollstreckungstitel missbräuchlich sein könnte, gibt es den Parteien auf, binnen 15 Tagen Stellung zu nehmen. Nach ihrer Anhörung trifft es binnen fünf Tagen die erforderlichen Anordnungen gemäß Art. 561 Abs. 1 Nr. 3.“
9 Art. 557 Abs. 1 LEC bestimmt:
„Wird die Vollstreckung aus [Titeln] angeordnet, [die weder gerichtlich noch schiedsgerichtlich sind,] kann der Vollstreckungsschuldner ihr in der im vorstehenden Artikel vorgesehenen Form und Frist widersprechen, sofern er sich auf einen der folgenden Gründe stützt:
...
7. Vorhandensein missbräuchlicher Klauseln im Titel.“
10 Art. 812 Abs. 1 LEC sieht vor:
„Ein Mahnverfahren kann von jedem beantragt werden, der einen anderen auf Zahlung einer entstandenen und fälligen Geldschuld über einen bestimmten Betrag in Anspruch nimmt, wenn dieser Betrag auf folgende Art und Weise belegt wird:
1. durch Dokumente unabhängig von Form, Art oder Träger, die der Schuldner unterzeichnet hat …;
...“
11 In Art. 815 LEC heißt es:
„(1) [Begründen] die dem Antrag beigefügten Dokumente … einen Prima-facie-Beweis für den Anspruch des Antragstellers, der durch den Inhalt des Antrags bestätigt wird, gibt der ,Secretario judicial‘ dem Schuldner auf, innerhalb einer Frist von 20 Tagen an den Antragsteller zu zahlen und dem Gericht diese Zahlung nachzuweisen oder vor Gericht zu erscheinen und diesem summarisch mit schriftlichem Widerspruch darzulegen, aus welchen Gründen er den geforderten Betrag ganz oder teilweise nicht schulde. …
...
(3) Ergibt sich aus den dem Antrag beigefügten Dokumenten, dass der geltend gemachte Betrag nicht korrekt ist, legt der ,Secretario judicial‘ ihn dem Richter vor, der gegebenenfalls dem Antragsteller mit Beschluss aufgeben kann, einen Vorschlag für eine Zahlungsaufforderung über einen von ihm festgesetzten Betrag, der niedriger ist als der ursprünglich genannte, anzunehmen oder abzulehnen.
In dem Vorschlag ist der Antragsteller darauf hinzuweisen, dass, wenn er in einer Frist von höchstens zehn Tagen nicht antwortet oder den Vorschlag ablehnt, der Antrag als zurückgenommen gilt.“
12 Art. 816 LEC bestimmt:
„(1) Reagiert der Schuldner auf die Zahlungsaufforderung nicht oder erscheint er nicht, erlässt der ,Secretario judicial‘ ein Dekret, mit dem er die Beendigung des Mahnverfahrens feststellt und den Schuldner auffordert, die Zwangsvollstreckung zu beantragen; hierfür ist ein einfacher Antrag ausreichend.
(2) Die Zwangsvollstreckung wird nach ihrer Anordnung gemäß den Bestimmungen über die Zwangsvollstreckung aus gerichtlichen Urteilen durchgeführt, und es kann der für diese Fälle vorgesehene Widerspruch erhoben werden, doch können der Antragsteller des Mahnverfahrens und der Vollstreckungsschuldner nicht nachträglich in einem ordentlichen Verfahren den im Mahnverfahren geltend gemachten Betrag bzw. die Erstattung des in der Zwangsvollstreckung Erlangten verlangen.
...“
13 In Art. 818 Abs. 1 Unterabs. 1 LEC heißt es:
„Legt der Schuldner rechtzeitig Widerspruch ein, wird der Rechtsstreit im hierfür vorgesehenen Gerichtsverfahren endgültig entschieden; das verkündete Urteil erwächst in Rechtskraft.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Am 29. Juni 2006 schloss Herr J. V. Albán Zambrano mit Finanmadrid einen Darlehensvertrag über 30 000 Euro, um den Kauf eines Kraftfahrzeugs zu finanzieren.
15 Herr J. L. Albán Zambrano, Frau García Zapata und Frau Caicedo Merino waren gegenüber Finanmadrid gesamtschuldnerische Bürgen dieses Darlehens.
16 Es wurde eine Kreditprovision von 2,5 % des Kapitals und eine Tilgung in 84 Monatsraten mit einem Jahreszinssatz von 7 % vereinbart. Für den Fall des Verzugs der Zahlung der Monatsraten war ein Verzugszinssatz von monatlich 1,5 % sowie eine Gebühr von 30 Euro für jede nicht bezahlte Rate vorgesehen.
17 Da die Raten des von Herrn J. V. Albán Zambrano aufgenommenen Darlehens seit Anfang 2011 nicht mehr gezahlt worden waren, löste Finanmadrid den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag am 8. Juli 2011 vorzeitig auf.
18 Am 8. November 2011 beantragte Finanmadrid beim „Secretario judicial“ des Juzgado de Primera Instancia n° 5 de Cartagena (Gericht erster Instanz von Cartagena, Spanien) die Einleitung eines Mahnverfahrens gegen die Antragsgegner des Ausgangsverfahrens.
19 Mit Entscheidung vom 13. Februar 2012 erklärte der „Secretario judicial“ des Juzgado de Primera Instancia n° 5 de Cartagena (Gericht erster Instanz von Cartagena) diesen Antrag für zulässig und gab den Antragsgegnern des Ausgangsverfahrens auf, entweder innerhalb von 20 Tagen den Betrag von 13 447,01 Euro zuzüglich der seit dem 8. Juli 2011 angefallenen Zinsen zu bezahlen oder durch einen Rechtsanwalt und einen „procurador“ Widerspruch gegen die Geltendmachung der Forderung einzulegen und vor diesem Gericht zu erscheinen, um darzulegen, aus welchen Gründen sie den geforderten Betrag ganz oder teilweise nicht schuldeten.
20 Nachdem die Antragsgegner des Ausgangsverfahrens innerhalb dieser Frist weder der Zahlungsaufforderung nachgekommen noch vor dem Gericht erschienen waren, beendete der „Secretario judicial“ gemäß Art. 816 LEC mit Dekret vom 18. Juni 2012 das Mahnverfahren.
21 Am 8. Juli 2013 reichte Finanmadrid beim Juzgado de Primera Instancia n° 5 de Cartagena (Gericht erster Instanz von Cartagena) einen Antrag auf Anordnung der Vollstreckung dieses Dekrets ein.
22 Am 13. September 2013 forderte dieses Gericht die Parteien des Ausgangsverfahrens auf, insbesondere dazu Stellung zu nehmen, ob bestimmte Klauseln des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags missbräuchlich seien und ob die Vorschriften über das Mahnverfahren gegen das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verstießen. Zu letzterem Gesichtspunkt führte das Gericht aus, dass es weder über den von Finanmadrid eingereichten Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids noch über seine Bearbeitung durch den „Secretario judicial“ und über die insoweit ergangene Entscheidung in Kenntnis gesetzt worden sei.
23 Lediglich die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens gab eine Stellungnahme ab.
24 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das spanische Verfahrensrecht die Beteiligung eines Richters im Rahmen des Mahnverfahrens nur dann vorsehe, wenn sich aus den dem Antrag beigefügten Dokumenten ergebe, dass der geltend gemachte Betrag nicht korrekt sei – in diesem Fall müsse der „Secretario judicial“ den Richter hiervon in Kenntnis setzen –, oder wenn der Schuldner Widerspruch gegen den Mahnbescheid einlege. Da es sich bei dem Dekret des „Secretario judicial“ um einen rechtskräftigen gerichtlichen Vollstreckungstitel handle, dürfe der Richter im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens nicht mehr von Amts wegen prüfen, ob der dem Mahnverfahren zugrunde liegende Vertrag missbräuchliche Klauseln enthalte.
25 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht wegen seiner Zweifel an der Vereinbarkeit der einschlägigen spanischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der des spanischen Mahnverfahrens – Art. 815 und 816 LEC – entgegensteht, die die von Amts wegen durchzuführende richterliche Kontrolle von Verträgen, die missbräuchliche Klauseln enthalten könnten, erschwert oder verhindert, da sie weder die Kontrolle der missbräuchlichen Klauseln noch die Beteiligung eines Richters zwingend vorschreibt, es sei denn, dass der „Secretario judicial“ dies für angebracht hält oder die Schuldner Widerspruch einlegen?
2. Ist die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der spanischen entgegensteht, nach der es nicht möglich ist, im nachfolgenden Vollstreckungsverfahren von Amts wegen und vorab den gerichtlichen Vollstreckungstitel – ein vom „Secretario judicial“ erlassenes Dekret, mit dem das Mahnverfahren beendet wird – im Hinblick darauf zu prüfen, ob der Vertrag, der dem Erlass des Dekrets, dessen Vollstreckung beantragt wird, zugrunde liegt, missbräuchliche Klauseln enthält, da das nationale Recht davon ausgeht, dass Rechtskraft eingetreten ist (Art. 551 und 552 in Verbindung mit Art. 816 Abs. 2 LEC)?
3. Ist die Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der des Mahnverfahrens und des Verfahrens zur Vollstreckung gerichtlicher Titel entgegensteht, in der eine richterliche Kontrolle nicht in allen Fällen in dem die Feststellung des Anspruchs betreffenden Abschnitt vorgesehen ist und nach der es auch im Vollstreckungsverfahren nicht möglich ist, dass der in diesem Verfahren erkennende Richter die vorangehende Entscheidung des „Secretario judicial“ überprüft?
4. Ist die Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es nicht möglich ist, von Amts wegen die Beachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu prüfen, da Rechtskraft eingetreten ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
26 Die deutsche Regierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit der ersten, der dritten und der vierten Frage, weil sie für das vorlegende Gericht zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht sachdienlich seien. Dieser Rechtsstreit betreffe das Verfahren zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Mahnbescheids und nicht das Mahnverfahren selbst. Daher weise eine Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit des Mahnverfahrens mit der Richtlinie 93/13 keinen Zusammenhang mit dem Gegenstand des Rechtsstreits auf.
27 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung in dem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist. Ebenso hat nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts kann demnach nur dann zurückgewiesen werden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Dies ist hier aber nicht der Fall.
30 Wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge dargelegt hat, müssen nämlich sämtliche einschlägigen verfahrensrechtlichen Vorschriften im Auge behalten werden. Es ist zwar richtig, dass nach den spanischen Verfahrensregeln der Schuldner, sofern er Widerspruch gegen einen Mahnbescheid einlegt, die etwaige Missbräuchlichkeit einer Klausel des betreffenden Vertrags rügen kann; diese Regeln schließen jedoch aus, dass eine Kontrolle dieser Missbräuchlichkeit von Amts wegen vorgenommen wird, und zwar sowohl im Stadium des Mahnverfahrens, wenn dieses durch ein Dekret des „Secretario judicial“ beendet wird, als auch im Stadium der Vollstreckung des Mahnbescheids, wenn der Richter mit einem Widerspruch gegen diese Vollstreckung befasst wird.
31 Vor diesem Hintergrund sind die Fragen des vorlegenden Gerichts in einem weiten Sinn zu verstehen, nämlich dahin gehend, dass es angesichts des Ablaufs des Mahnverfahrens und der dem „Secretario judicial“ im Rahmen dieses Verfahrens eingeräumten Befugnisse um die Beurteilung der Frage geht, ob es mit der Richtlinie 93/13 vereinbar ist, dass der Richter im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens nicht befugt ist, von Amts wegen zu prüfen, ob eine in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher enthaltene Klausel missbräuchlich ist.
32 Unter diesen Umständen und in Anbetracht dessen, dass es Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteile Roquette Frères, C‑88/99, EU:C:2000:652, Rn. 18, und Attanasio Group, C‑384/08, EU:C:2010:133, Rn. 19), ist festzustellen, dass die Auslegung des Unionsrechts, um die mit der ersten, der dritten und der vierten Frage ersucht wird, nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.
33 Somit sind die Vorlagefragen zur Gänze zulässig.
Zur Begründetheit
34 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 93/13 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der das mit der Vollstreckung eines Mahnbescheids befasste Gericht die Missbräuchlichkeit einer in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher enthaltenen Klausel nicht von Amts wegen prüfen darf, wenn die mit dem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids befasste Stelle nicht befugt ist, eine solche Prüfung vorzunehmen.
35 Um dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Banco Español de Crédito (C‑618/10, EU:C:2012:349) bereits darüber befunden hat, welche Aufgaben das nationale Gericht aufgrund der Bestimmungen der Richtlinie 93/13 im Rahmen eines Mahnverfahrens hat, wenn der Verbraucher keinen Widerspruch gegen den gegen ihn erlassenen Mahnbescheid erhoben hat.
36 Der Gerichtshof hat in diesem Urteil u. a. entschieden, dass die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, nach der das mit einem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids befasste Gericht, sofern der Verbraucher keinen Widerspruch erhebt, weder a limine noch in irgendeiner anderen Phase des Verfahrens von Amts wegen prüfen darf, ob eine Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher missbräuchlich ist, obwohl es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt (Urteil Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Nr. 1 des Tenors).
37 Zu beachten ist, dass die nationale Regelung in der Fassung, die auf den Rechtsstreit, in dessen Rahmen das Vorabentscheidungsersuchen gestellt wurde, das zum Urteil Banco Español de Crédito (C‑618/10, EU:C:2012:349) geführt hat, anwendbar war, dem Richter – nicht dem „Secretario judicial“ – die Befugnis zum Erlass eines Mahnbescheids übertrug.
38 Seit der Änderung durch das Gesetz 13/2009 (BOE Nr. 266 vom 4. November 2009, S. 92103), das am 4. Mai 2010 in Kraft trat, ist es jedoch nunmehr, wenn der Schuldner auf die Zahlungsaufforderung nicht reagiert oder nicht vor Gericht erscheint, Sache des „Secretario judicial“, ein Dekret zur Feststellung der Beendigung des Mahnverfahrens zu erlassen, das rechtskräftig ist.
39 Diese Gesetzesänderung, mit der eine Beschleunigung des Mahnverfahrens bezweckt wurde, ist nicht als solche Gegenstand der vom Juzgado de Primera Instancia n° 5 de Cartagena (Gericht erster Instanz von Cartagena) im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens geäußerten Zweifel.
40 Hierzu ist festzustellen, dass mangels einer Vereinheitlichung der nationalen Zwangsvollstreckungsverfahren die Modalitäten ihrer Durchführung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ihrer jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung unterfallen. Der Gerichtshof hat allerdings hervorgehoben, dass diese Modalitäten die doppelte Voraussetzung erfüllen müssen, dass sie nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der den Verbrauchern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Was zum einen den Äquivalenzgrundsatz angeht, ist festzustellen, dass der Gerichtshof über keinerlei Anhaltspunkte verfügt, die Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit diesem Grundsatz wecken könnten.
42 Es geht nämlich insbesondere aus Art. 551 in Verbindung mit Art. 552 und Art. 816 Abs. 2 LEC hervor, dass das mit der Vollstreckung eines Mahnbescheids befasste Gericht nach spanischem Verfahrensrecht weder von Amts wegen prüfen darf, ob eine Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher missbräuchlich im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 93/13 ist, noch von Amts wegen prüfen darf, ob eine solche Klausel gegen zwingendes nationales Recht verstößt, was allerdings vom vorlegenden Gericht festzustellen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 52).
43 Was zum anderen den Effektivitätsgrundsatz betrifft, hat der Gerichtshof wiederholt darauf hingewiesen, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist (Urteil Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteile Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, EU:C:2013:800, Rn. 34, und Pohotovosť, C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Im vorliegenden Fall ist zum Ablauf und zu den Besonderheiten des spanischen Mahnverfahrens festzustellen, dass dieses Verfahren, sofern nicht die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Umstände vorliegen, die zum Einschreiten des Richters führen, beendet wird, ohne dass geprüft werden könnte, ob ein zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossener Vertrag missbräuchliche Klauseln enthält. Ist also das mit der Vollstreckung eines Mahnbescheids befasste Gericht nicht befugt, von Amts wegen das Vorliegen solcher Klauseln zu prüfen, könnte der Verbraucher einem Vollstreckungstitel ausgesetzt sein, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Gewähr zu haben, dass eine solche Kontrolle vorgenommen wird.
46 Vor diesem Hintergrund ist somit festzustellen, dass eine solche Verfahrensregelung geeignet ist, die Wirksamkeit des mit der Richtlinie 93/13 beabsichtigten Schutzes zu beeinträchtigen. Ein solcher wirksamer Schutz der in der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Rechte kann nämlich nur dann garantiert werden, wenn die nationalen Verfahrensregeln es ermöglichen, dass die im betreffenden Vertrag enthaltenen Klauseln im Rahmen des Mahnverfahrens oder im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des Mahnbescheids von Amts wegen auf ihre Missbräuchlichkeit überprüft werden.
47 Nichts anderes gilt dann, wenn das nationale Verfahrensrecht wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem vom „Secretario judicial“ erlassenen Dekret Rechtskraft verleiht und ihm Wirkungen zuerkennt, die denen einer gerichtlichen Entscheidung vergleichbar sind.
48 Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie zwar Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist, die Modalitäten der Wirkung der Rechtskraft festzulegen, dass diese Bedingungen jedoch den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Was den Äquivalenzgrundsatz angeht, deutet, wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, im Ausgangsverfahren nichts darauf hin, dass die im spanischen Verfahrensrecht vorgesehenen Modalitäten für die Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft bei Rechtssachen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fallen, ungünstiger sind als bei anderen Rechtssachen.
50 Zum Effektivitätsgrundsatz, dessen Einhaltung seitens der Mitgliedstaaten insbesondere anhand der in den Rn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkte zu prüfen ist, ist festzustellen, dass sich der „Secretario judicial“ bei der Prüfung eines Antrags auf Erlass eines Mahnbescheids nach dem Wortlaut der Art. 815 und 816 LEC darauf beschränkt, die Einhaltung der für einen solchen Antrag geltenden Formalitäten, insbesondere die Richtigkeit des geforderten Betrags anhand der dem Antrag beigefügten Urkunden, zu überprüfen. Daher ist der „Secretario judicial“ nach spanischem Verfahrensrecht nicht befugt, eine Klausel, die in einem der Forderung zugrunde liegenden Vertrag enthalten ist, auf ihre Missbräuchlichkeit zu überprüfen.
51 Außerdem ist daran zu erinnern, dass das Dekret, mit dem der „Secretario judicial“ das Mahnverfahren beendet, in Rechtskraft erwächst, so dass die Kontrolle missbräuchlicher Klauseln im Stadium der Vollstreckung eines Mahnbescheids allein deshalb unmöglich ist, weil die Verbraucher nicht innerhalb der dafür vorgesehenen Frist Widerspruch gegen den Bescheid erhoben haben und der „Secretario judicial“ nicht den Richter befasst hat.
52 In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass eine nicht zu vernachlässigende Gefahr besteht, dass die betroffenen Verbraucher nicht den erforderlichen Widerspruch erheben, sei es wegen der besonders kurzen Frist, die hierfür vorgesehen ist, sei es, weil sie im Hinblick auf die Kosten, die ein gerichtliches Verfahren im Vergleich zur Höhe der bestrittenen Forderung mit sich brächte, davon abgehalten werden könnten, sich zu verteidigen, sei es, weil sie den Umfang ihrer Rechte nicht kennen oder nicht richtig erfassen, oder auch wegen der knappen Angaben in dem von den Gewerbetreibenden eingereichten Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids und folglich der Unvollständigkeit der Informationen, über die sie verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 54).
53 Zweitens geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass der „Secretario judicial“ nur dann verpflichtet ist, den Richter zu befassen, wenn sich aus den dem Antrag beigefügten Dokumenten ergibt, dass der geltend gemachte Betrag nicht korrekt ist.
54 Unter diesen Umständen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge im Wesentlichen dargelegt hat, festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung über die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft im Rahmen des Mahnverfahrens nicht mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist, soweit sie in Verfahren, die von Gewerbetreibenden gegen Verbraucher betrieben werden, die Sicherstellung des Schutzes, der den Verbrauchern mit der Richtlinie 93/13 gewährt werden soll, unmöglich macht oder übermäßig erschwert.
55 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der das mit der Vollstreckung eines Mahnbescheids befasste Gericht die Missbräuchlichkeit einer in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher enthaltenen Klausel nicht von Amts wegen prüfen darf, wenn die mit dem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids befasste Stelle nicht befugt ist, eine solche Prüfung vorzunehmen.
Zur dritten und zur vierten Frage
56 Mit der dritten und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Charta und insbesondere das in ihrem Art. 47 verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens entgegenstehen.
57 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht nicht ausgeführt hat, aus welchen Gründen ihm die Vereinbarkeit dieser Regelung mit Art. 47 der Charta fraglich erscheint, und die Vorlageentscheidung damit keine Angaben enthält, die so genau und vollständig sind, dass der Gerichtshof diese Fragen sachdienlich beantworten könnte.
58 Daher sind die dritte und die vierte Frage nicht zu beantworten.