BGH: Zur sog. Svensson-Methode
BGH, Urteil vom 1.7.2025 – XI ZR 16/24
ECLI:DE:BGH:2025:010725UXIZR16.24.0
Volltext: BB-Online BBL2025-1794-4
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Amtlicher Leitsatz
Zur sogenannten Svensson-Methode bei der Bestimmung der Referenzzinsen bei Prämiensparverträgen durch ergänzende Vertragsauslegung.
BGB §§ 133 D, 157 D
Sachverhalt
1 Der Musterkläger, ein seit über vier Jahren als qualifizierte Einrichtung in die Liste nach § 4 UKlaG eingetragener Verbraucherschutzverband, begehrt im Wege der Musterfeststellungsklage Feststellungen zu den Voraussetzungen für das Bestehen von Ansprüchen von Verbrauchern auf weitere Zinsbeträge aus Prämiensparverträgen (sog. "S-Prämiensparen flexibel", nachfolgend: Sparverträge) gegen die Musterbeklagte.
2 Die Musterbeklagte bzw. deren Rechtsvorgänger (nachfolgend einheitlich: Musterbeklagte) schloss seit Anfang der 1990er Jahre mit Verbrauchern Sparverträge ab, die eine variable Verzinsung der Spareinlage und ab dem dritten Sparjahr eine der Höhe nach - bis zu 50% der jährlichen Spareinlage ab dem 15. Sparjahr - gestaffelte verzinsliche Prämie vorsahen. Die Vertragsformulare enthielten keine konkreten Bestimmungen zur Änderung des variablen Zinssatzes.
3 Der Musterkläger hält die Regelungen zur Änderung des variablen Zinssatzes für unwirksam und die während der Laufzeit der Sparverträge von der Musterbeklagten vorgenommene Verzinsung für zu niedrig.
4 Mit der Musterfeststellungsklage hat er - soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung - die Feststellung begehrt, dass die Musterbeklagte verpflichtet ist, die Zinsanpassungen für die Sparverträge vorzunehmen auf der Grundlage des gleitenden Durchschnittswerts der letzten 10 Jahre des Referenzzinssatzes für Umlaufsrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen/Hypothekenpfandbriefe mit einer garantierten Restlaufzeit von 10 Jahren (ehemalige Zeitreihe WX4260 der Zinsstatistik der Deutschen Bundesbank), hilfsweise entsprechend der Laufzeit eines von der Deutschen Bundesbank für inländische Banken erhobenen langfristigen (9 bis 10 Jahre) Referenzzinssatzes, welcher dem konkreten Geschäft möglichst nahekommt, wobei die Auswahl des Referenzzinssatzes in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, hilfsweise entsprechend der Laufzeit eines langfristigen (9 bis 10 Jahre), angemessenen und in öffentlich zugänglichen Medien abgebildeten Referenzzinssatzes, der dem konkreten Geschäft möglichst nahekommt, wobei die Auswahl des Referenzzinssatzes in das Ermessen des Gerichts gestellt wird (Feststellungsziel 2).
5 Das Oberlandesgericht hat die Musterfeststellungsklage mit Urteil vom 9. September 2020 (BeckRS 2020, 53346) hinsichtlich des Hauptantrags und des ersten Hilfsantrags zum Feststellungsziel 2 zunächst abgewiesen und ihr hinsichtlich des zweiten Hilfsantrags zum Feststellungsziel 2 stattgegeben. Auf die Revisionen des Musterklägers und der Musterbeklagten hat der Senat (Urteil vom 24. November 2021 - XI ZR 461/20, juris) die Entscheidung des Oberlandesgerichts in diesen Punkten aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Im wiedereröffneten Verfahren hat das Oberlandesgericht nach Hinzuziehung eines Sachverständigen - unter Abweisung des Hauptantrags - nunmehr festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Zinsanpassung für die Sparverträge auf der Grundlage der Zeitreihe der Deutschen Bundesbank "Umlaufsrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen/Börsennotierte Bundeswertpapiere/RLZ von über 8 bis 15 Jahren/Monatswerte" (ehemalige Kennung WU9554) vorzunehmen.
6 Die Musterbeklagte erstrebt mit der Revision die Bestimmung eines ihr günstigeren Referenzzinssatzes. Der Musterkläger hat seine Revision zurückgenommen.
Aus den Gründen
7 Die Revision der Musterbeklagten ist unbegründet.
8 I. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
9 Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen habe es dem "verobjektivierten" Willen der Parteien am ehesten entsprochen, als Referenzzinssatz die von der Deutschen Bundesbank veröffentlichte Zeitreihe der Ist-Zinssätze des Kapitalmarkts für börsennotierte Bundeswertpapiere mit 8- bis 15-jähriger Restlaufzeit zugrunde zu legen. Die Renditen für börsennotierte Bundeswertpapiere entstammten den Kapitalmarktprodukten mit längeren Laufzeiten und entsprächen damit dem langfristigen Charakter der Prämiensparverträge. Die Zeitreihe mit Restlaufzeiten von 8 bis 15 Jahren komme nicht nur der in den Sparverträgen angelegten Laufzeit von 15 Jahren bis zum Erreichen der höchsten Prämienstufe am nächsten. Sie stütze sich auch auf die breiteste Grundlage mehrerer Jahre, was sie der Zeitreihe von Bundeswertpapieren mit 10-jähriger Laufzeit überlegen mache, weil sich eine (kalkulatorische) Laufzeit von genau 10 Jahren aus dem streitgegenständlichen Vertrag nicht aufdränge und diese Zinsen aufgrund der allgemeinen Beliebtheit von Produkten mit genau 10-jähriger Laufzeit Ausreißereffekte - außergewöhnliche Zinsphänomene an bestimmten Tagen - hätten, die im Rahmen der Zeitreihe für Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von 8 bis 15 Jahren nivelliert würden. Die Zeitreihe für Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von 8 bis 15 Jahren komme der typisierten Sparzeit von 15 Jahren bis zum Erreichen der höchsten Prämienstufe am nächsten und lasse mit ihrer Durchschnittslaufzeit von unter 15 Jahren Spielraum für zusätzliche Liquiditätsaspekte.
10 Nicht entscheidend gegen die Heranziehung der Zeitreihe für Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von 8 bis 15 Jahren spreche, dass in dieser möglicherweise nicht alle Laufzeitsequenzen gleichermaßen berücksichtigt seien, weil die Bundesbank insoweit ihre Erkenntnisse nicht veröffentliche. Jedenfalls seien in dieser Zeitreihe alle Produkte im Laufzeitbereich von 8 bis 15 Jahren und damit auch die 10-jährigen Produkte enthalten, weswegen sie den besten Durchschnittswert für diesen Bereich angebe. Eine weitere Verkürzung der mittleren Laufzeit wäre angesichts der hohen Liquidität der börsennotierten Bundeswertpapiere sowie des Umstands, dass die Sparverträge auch jenseits des 15. Sparjahres noch attraktive Prämien geboten hätten, nicht angemessen, was ebenfalls gegen die Zeitreihe für Bundeswertpapiere mit vergleichsweise kürzeren Restlaufzeiten spreche.
11 II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand, so dass die Revision der Musterbeklagten zurückzuweisen ist. Auf die Musterfeststellungsklage sind gemäß § 46 EGZPO die §§ 606 bis 614 ZPO in der bis einschließlich 12. Oktober 2023 geltenden Fassung (nachfolgend: aF) anzuwenden, weil die Klage vor dem 13. Oktober 2023 anhängig gemacht worden ist.
12 1. Die vom Oberlandesgericht als Referenzzins herangezogenen Umlaufsrenditen inländischer Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von über 8 bis 15 Jahren genügen den Anforderungen, die im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung an einen Referenzzins für die variable Verzinsung der Sparverträge zu stellen sind.
13 a) Die Regelungslücke, die durch die Unwirksamkeit der Zinsänderungsklausel bei gleichzeitiger Wirksamkeit der Vereinbarung über die Variabilität der Zinshöhe entstanden ist, hat das Gericht - auch im Rahmen einer Musterfeststellungsklage nach §§ 606 ff. ZPO aF - im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB) zu schließen, die der selbständigen und uneingeschränkten Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt. Dabei muss es die maßgeblichen Parameter einer Zinsanpassung und damit insbesondere einen Referenzzins für die variable Verzinsung des Sparguthabens bestimmen. Maßstab für die ergänzende Vertragsauslegung ist bei Massengeschäften wie den streitgegenständlichen Sparverträgen ebenso wie für die Auslegung und Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht der Wille der konkreten Vertragsparteien. Es ist vielmehr aufgrund einer objektiv-generalisierenden Sicht auf die typischen Vorstellungen der an Geschäften gleicher Art beteiligten Verkehrskreise abzustellen (Senatsurteil vom 9. Juli 2024 - XI ZR 44/23, BGHZ 241, 107 Rn. 23 mwN).
14 Bei dem Referenzzins muss es sich um einen in öffentlich zugänglichen Medien abgebildeten Zinssatz handeln, der von unabhängigen Stellen nach einem genau festgelegten Verfahren ermittelt wird und der die Bank nicht einseitig begünstigt. Die in den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank veröffentlichten Zinssätze genügen diesen Anforderungen. Unter den Bezugsgrößen des Kapitalmarkts ist dabei diejenige oder eine Kombination derjenigen auszuwählen, die dem konkreten Geschäft möglichst nahekommt. Dabei ist es allein interessengerecht, einen Referenzzinssatz für langfristige Spareinlagen heranzuziehen, wobei die Ansparphase Berücksichtigung finden kann. Da die Sparverträge angesichts der Ausgestaltung der Prämienstaffel auf ein langfristiges Sparen bis zum Ablauf des 15. Sparjahres ausgerichtet sind, sind als Referenz die in den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank veröffentlichten Zinssätze für Spareinlagen zugrunde zu legen, die einer Laufzeit von 15 Jahren möglichst nahekommen. Dabei hat der als Referenz heranzuziehende Marktzinssatz oder die als Referenz heranzuziehende Umlaufsrendite auch widerzuspiegeln, dass es sich bei den streitgegenständlichen Sparverträgen um eine risikolose Anlageform handelt (Senatsurteil vom 9. Juli 2024 - XI ZR 44/23, BGHZ 241, 107 Rn. 29 mwN).
15 b) Wie der Senat bereits entschieden und eingehend begründet hat, genügt die vom Oberlandesgericht bestimmte Zeitreihe der Deutschen Bundesbank mit der ehemaligen Kennung WU9554 diesen Anforderungen (Senatsurteil vom 9. Juli 2024 - XI ZR 44/23, BGHZ 241, 107 Rn. 33 f.). Dabei hat das Oberlandesgericht zu Recht angenommen, dass ein Referenzzinssatz mit langer Fristigkeit heranzuziehen ist. Da die Sparverträge angesichts der Ausgestaltung der Prämienstaffel auf ein langfristiges Sparen bis zum Ablauf des 15. Sparjahres ausgerichtet sind, sind als Referenz die in den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank veröffentlichten Zinssätze für Spareinlagen zugrunde zu legen, die einer Laufzeit von 15 Jahren möglichst nahekommen (vgl. Senatsurteil, aaO Rn. 34). Maßgeblich ist damit - entgegen der Ansicht der Revision - nicht die durchschnittliche tatsächliche Haltedauer der mit der Musterbeklagten geschlossenen Sparverträge, sondern sind die typischen Vorstellungen der an Geschäften gleicher Art beteiligten Verkehrskreise.
16 Ohne Erfolg hält die Revision der Musterbeklagten dem entgegen, dass die von der Deutschen Bundesbank nach der sogenannten Svensson-Methode ermittelten Renditen für Bundeswertpapiere geeigneter seien und dass der mittleren Kapitalbindung der Sparverträge Renditen von Bundeswertpapieren mit Restlaufzeiten von 7 Jahren am nächsten kämen (vgl. auch OLG Brandenburg, Urteil vom 3. Mai 2024 - 4 MK 1/21, juris Rn. 102 ff.). Revisionsrechtlich ist die vom Oberlandesgericht als Referenz herangezogene Zeitreihe nicht zu beanstanden, weil sie den dargestellten Anforderungen des Senats genügt, der typisierten Spardauer bis zum Erreichen der höchsten Prämienstufe nach 15 Jahren hinreichend nahekommt und den risikolosen Marktzins abbildet (Senatsurteil vom 9. Juli 2024 - XI ZR 44/23, BGHZ 241, 107 Rn. 33 f.).
17 Der vom Oberlandesgericht bestimmten Zeitreihe kann - anders als die Revision meint - aus revisionsrechtlicher Sicht auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass sie inhaltlich "schwanke", weil sie vom jeweiligen Emissionsverhalten der Bundesrepublik Deutschland abhänge, so dass keine Nähe zur typisierten Fristigkeit der Sparverträge hergestellt werden könne. Die durchschnittliche Restlaufzeit der Zeitreihe unterliegt zwar gewissen Schwankungen (vgl. Kaserer, BKR 2024, 802, 803; Irresberger/Weiß, ZBB 2025, 200, 201), sie bildet aber gleichwohl die Zinsen am Kapitalmarkt ohne Risikoaufschlag hinreichend ab.
18 2. Soweit das Oberlandesgericht rechtsfehlerhaft nur solche Zeitreihen als Referenz in Betracht gezogen hat, die zum Zeitpunkt der Abschlüsse der Sparverträge bereits veröffentlicht waren, beruht die Entscheidung nicht auf diesem Rechtsfehler.
19 Der Senat hat bereits entschieden und eingehend begründet, dass ein Rückgriff auf Zeitreihen, die erst nach Vertragsschluss veröffentlicht worden sind, nicht ausgeschlossen ist. Der Zeitpunkt des Abschlusses eines einzelnen Sparvertrags hat für die Bestimmung eines geeigneten Referenzzinses im Rahmen einer Musterfeststellungsklage keine Bedeutung (Senatsurteil vom 9. Juli 2024 - XI ZR 44/23, BGHZ 241, 107 Rn. 36 mwN). Da das sachverständig beratene Oberlandesgericht mit der Umlaufsrendite inländischer Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von über 8 bis 15 Jahren einen Referenzzins bestimmt hat, der den Anforderungen genügt, die an den Referenzzins für die typisierten Sparverträge zu stellen sind (siehe oben, 1.), beruht die Entscheidung nicht auf dieser Rechtsverletzung (vgl. Senatsurteil, aaO Rn. 35 ff.). Mit dem ersten Hilfsantrag hat der Musterkläger die Auswahl des Referenzzinses in das Ermessen des Gerichts gestellt. Dieses Ermessen hat das Oberlandesgericht dahin ausgeübt, dass es einen Referenzzins ausgewählt hat, der den an ihn zu stellenden Anforderungen genügt. Dass das Oberlandesgericht dabei solche Zeitreihen nicht in Betracht gezogen hat, die nicht in dem gesamten Anlagezeitraum zur Verfügung standen, ist für die Entscheidung unerheblich.
20 3. Entgegen der Ansicht der Revision beruht die Entscheidung schließlich nicht auf einer unzureichenden Auseinandersetzung mit von der Musterbeklagten vorgebrachten Argumenten und vorgelegten Gutachten. Auch dieser - unterstellte - Rechtsfehler ist für die Entscheidung unerheblich, nachdem das Oberlandesgericht einen Referenzzins ausgewählt hat, der den an ihn zu stellenden Anforderungen genügt.