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Wirtschaftsrecht
09.02.2023
Wirtschaftsrecht
BGH: Zur internationalen Zuständigkeit deutscher Insolvenzgerichte

BGH, Beschluss vom 8.12.2022 – IX ZB 72/19

ECLI:DE:BGH:2022:081222BIXZB72.19.0

Volltext: BB-Online BBL2023-322-2

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Amtlicher Leitsatz

Nach dem autonomen internationalen Insolvenzrecht hindert ein in einem Drittstaat gestellter Eröffnungsantrag allein nicht die internationale Zuständigkeit deutscher Insolvenzgerichte.

InsO §§ 3, 343

Sachverhalt

    I.

Die Schuldnerin ist eine im April 2014 gegründete Holdinggesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in Luxemburg. Sie beschäftigt keine Arbeitnehmer. Im Juni 2019 beabsichtigte sie, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Fareham in England zu verlegen. Ihre am 13. Juni 2019 berufenen Direktoren beantragten am 22. August 2019 die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin beim High Court of Justice, Business and Property Court of England and Wales, Insolvency and Companies List (ChD) (fortan: High Court). Sie wurden am nächsten Tag auf Betreiben einer Gläubigergruppe aufgrund einer Anteilsverpfändung durch einen neuen Direktor ersetzt, der für die Schuldnerin ein Büro in Düsseldorf einrichtete und dort tätig wurde. Er wies die anwaltlichen Vertreter der Schuldnerin an, den Insolvenzantrag beim High Court zurückzunehmen. Zur Rücknahme kam es nicht. Stattdessen erfolgte der Eintritt einer anderen Gläubigergruppe in den Insolvenzantrag, weshalb das Verfahren als Gläubigerverfahren weitergeführt wurde. Der High Court hat bis zum Ablauf des 31. Dezember 2020 über den Insolvenzantrag nicht entschieden.

Auf einen Insolvenzantrag der Schuldnerin vom 23. August 2019 bei dem Amtsgericht Düsseldorf ordnete dieses mit Beschluss vom selben Tag Sicherungsmaßnahmen an und bestellte den weiteren Beteiligten zu 1 zum vorläufigen Insolvenzverwalter. Ab dem 25. August 2019 wurden Kapitalmarkt und Anleihegläubiger über eine Verlegung des Verwaltungssitzes nach Düsseldorf unterrichtet. Auf sofortige Beschwerde von Gläubigern hob das Insolvenzgericht seinen Beschluss am 6. September 2019 mangels internationaler Zuständigkeit wieder auf und wies den Schuldnerantrag als unzulässig zurück.

Am 6. September 2019 haben die weiteren Beteiligten zu 3 und 4 als Gläubigerinnen beim Amtsgericht Düsseldorf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin beantragt. Auf diesen Antrag hat das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 9. September 2019 Sicherungsmaßnahmen angeordnet und den Beteiligten zu 1 zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Es hat seine internationale Zuständigkeit darauf gestützt, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin bei Antragstellung in Düsseldorf befunden habe. Hiergegen hat die weitere Beteiligte zu 2, eine Tochtergesellschaft der Schuldnerin, als Gläubigerin sofortige Beschwerde eingelegt. Sie hat die internationale Zuständigkeit gerügt und behauptet, der Verwaltungssitz der Schuldnerin sei im Juni 2019 nach Fareham verlegt worden. Das Landgericht hat die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 30. Oktober 2019 zurückgewiesen. Mit ihrer vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde will die Beteiligte zu 2 die Aufhebung des insolvenzgerichtlichen Beschlusses und die Abweisung des Insolvenzantrags erreichen.

Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - IX ZB 72/19, WM 2021, 46 ff):

1. Ist Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. L 141 S. 19, ber. 2016 L 349 S. 6; fortan: Europäische Insolvenzverordnung - EuInsVO) dahin auszulegen, dass eine Schuldnergesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz sich in einem Mitgliedstaat befindet, den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen nicht in einem zweiten Mitgliedstaat hat, in dem der Ort ihrer Hauptverwaltung liegt, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, wenn die Schuldnergesellschaft unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens diesen Ort der Hauptverwaltung aus einem dritten Mitgliedstaat in den zweiten Mitgliedstaat verlegt hat, während in dem dritten Mitgliedstaat ein Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens über ihr Vermögen gestellt war, über den noch nicht entschieden ist?

2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen,

a) dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner bei Stellung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, für die Entscheidung über die Eröffnung dieses Verfahrens international zuständig bleiben, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt, und

b) dass diese fortbestehende internationale Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats die Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats für weitere Anträge auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens ausschließt, die nach der Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in einen anderen Mitgliedstaat bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats eingehen?

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die zweite Frage wie folgt beantwortet (EuGH, Urteil vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 36, 41 f):

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 ist dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird. Infolgedessen kann sich, soweit diese Verordnung auf diesen Antrag anwendbar bleibt, ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das später mit einem Antrag mit demselben Ziel befasst wird, grundsätzlich nicht für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens für zuständig erklären, solange das erste Gericht nicht entschieden und seine Zuständigkeit nicht verneint hat.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat von einer Beantwortung der ersten Frage mit folgender Begründung abgesehen (EuGH, Urteil vom 24. März 2022, aaO Rn. 42 f):

Aus der Antwort, die auf die zweite Frage gegeben wurde, ergibt sich indessen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, unter derartigen Umständen nicht zu prüfen hat, ob der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in diesem Mitgliedstaat liegt. Unter diesen Umständen braucht die erste Frage daher nicht beantwortet zu werden.

Aus den Gründen

    II.

 

13                    Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

 

14        1. Wie der Senat mit Vorlagebeschluss vom 17. Dezember 2020 (IX ZB 72/19, WM 2021, 46 Rn. 5 ff) ausgeführt hat, ist die Rechtsbeschwerde gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit §§ 4, 6 Abs. 1 Satz 1 InsO, Art. 102c § 4 Satz 1 EGInsO, Art. 5 Abs. 1 EuInsVO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Daran hat der Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (fortan: Brexit) unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt etwas geändert. Die Anfechtungsberechtigung nach Art. 5 Abs. 1 EuInsVO schließt sämtliche Gläubiger - und damit auch die Beteiligte zu 2 - unabhängig davon ein, ob sie in einem Mitgliedstaat ansässig sind oder nicht (vgl. Mankowski in Mankowski/Müller/Schmidt, EuInsVO, Art. 5 Rn. 8; MünchKomm-InsO/Thole, 4. Aufl., Art. 5 EuInsVO Rn. 3; Vallender/Zipperer, EuInsVO, 2. Aufl., Art. 5 Rn. 3; Madaus in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2021, Art. 5 EuInsVO Rn. 3).

 

15        2. Das Beschwerdegericht hat gemeint, das Insolvenzgericht habe seine internationale Zuständigkeit in der Sache zu Recht angenommen. Es sei zutreffend davon ausgegangen, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin, bei der es sich um eine Holdinggesellschaft ohne eigenes operatives Geschäft handele, am 6. September 2019 in Deutschland gelegen habe. In Düsseldorf habe sich seit Anfang September das von der Geschäftsführung genutzte, technisch umfassend eingerichtete und voll funktionsfähige Büro befunden, in dem der einzige Geschäftsführer der Schuldnerin persönlich anwesend gewesen sei und von dem aus die täglichen Managemententscheidungen getroffen worden seien. Die Geschäftsanschrift der Hauptverwaltung in Düsseldorf sei auch Anfang September aufgrund einer Mitteilung des Geschäftsführers der Schuldnerin vom 23. August 2019, der im Schriftverkehr fortan ausschließlich verwendeten Düsseldorfer Anschrift sowie entsprechender zusätzlicher Benachrichtigungen von Gläubigern für außenstehende Dritte hinreichend erkennbar gewesen.

 

16        Aus dem am 22. August 2019 beim High Court gestellten Insolvenzantrag ergebe sich keine generelle Sperrwirkung für das deutsche Insolvenzverfahren. Der Grundsatz, dass die bei Antragstellung gegebene internationale Zuständigkeit eines Gerichts nicht dadurch beseitigt werden könne, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen zwischen Antrag und Eröffnung in einen anderen Mitgliedstaat verlegt werde, betreffe lediglich die fortbestehende Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts; er habe keine Auswirkung auf die Zuständigkeit für Folgeanträge bei anderen Gerichten.

 

17        3. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Das Insolvenzgericht war für die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen und die Bestellung des Beteiligten zu 1 zum vorläufigen Insolvenzverwalter international zuständig.

 

18        a) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte beurteilt sich nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 EuInsVO und nicht - wie die Rechtsbeschwerde meint - nach § 3 InsO. Dies gilt unabhängig von den Wirkungen, die der Vollzug des Brexit auf die Anwendbarkeit der Europäischen Insolvenzverordnung im Verhältnis zum Vereinigten Königreich hat.

 

19        aa) Die Anwendbarkeit der Europäischen Insolvenzverordnung setzt nach Maßgabe von Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO in räumlicher Hinsicht voraus, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners (Centre of Main Interest, COMI) in einem Mitgliedstaat befindet und dass dem Insolvenzverfahren ein grenzüberschreitender Sachverhalt zugrunde liegt (vgl. Uhlenbruck/Knof, InsO, 15. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 2, 4 f; HK-InsO/Dornblüth, 10. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 10; Madaus in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2021, Art. 1 EuInsVO Rn. 36). Unter diesen Voraussetzungen gilt das Zuständigkeitsregime der EuInsVO 2000 nach der noch zu Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (fortan: EuInsVO 2000) ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014 - C-328/12, Schmid, NJW 2014, 610 Rn. 17 ff, 29) selbst dann, wenn der Sachverhalt ausschließlich einen grenzüberschreitenden Bezug zu einem Drittstaat aufweist (vgl. auch BGH, Urteil vom 27. März 2014 - IX ZR 2/12, WM 2014, 1094 Rn. 7; MünchKomm-InsO/Reinhart, 4. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 29; Madaus in Kübler/Prütting/Bork, aaO Rn. 41; Freitag/Korch, ZIP 2016, 1849, 1850).

 

20        bb) Diese Grundsätze sind auf die Neufassung der Europäischen Insolvenzverordnung mangels abweichender Regelung ohne Weiteres übertragbar. Insoweit differenzieren auch Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO hinsichtlich des Zuständigkeitsregimes nicht zwischen Mitglied- und Drittstaatsbezügen (vgl. MünchKomm-InsO/Thole, 4. Aufl., § 343 Rn. 28; Freitag/Korch, aaO; Mankowski, EuZW-Sonderausgabe 1/2020, 3, 11 f mwN). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zudem mit Urteil vom 24. März 2022 (C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 26 ff, 29) bestätigt, dass sich durch die Neufassung der Europäischen Insolvenzverordnung gegenüber der EuInsVO 2000 an den Zuständigkeitsfragen nichts Wesentliches verändert habe und seine bisherige Rechtsprechung zur Auslegung der Regeln, die mit der EuInsVO 2000 für die internationale Zuständigkeit aufgestellt worden seien, für die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO einschlägig bleibe. Die Eröffnung des räumlichen Anwendungsbereichs der Europäischen Insolvenzverordnung bei grenzüberschreitenden Bezügen zu Drittstaaten ist demgemäß derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte claire"; vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 2005 - C-495/03, Intermodal Transports BV, Slg. 2005, I-08151 Rn. 33; BGH, Urteil vom 25. Januar 2017 - VIII ZR 257/15, WM 2017, 1770 Rn. 40 mwN).

 

21        b) Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerfrei den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin in Deutschland gesehen.

 

22        aa) Gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO ist Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Diese Definition hat der Gerichtshof der Europäischen Union dahin präzisiert, dass bei einer Schuldnergesellschaft dem erkennbaren Ort der Hauptverwaltung der Vorzug zu geben ist (vgl. EuGH, Urteil vom 20. Oktober 2011 - C-396/09, Interedil, Slg 2011, I-9915 Rn. 59; vom 16. Juli 2020 - C-253/19, Novo Banco, WM 2020, 1493 Rn. 19 f; vgl. hierzu Erwägungsgrund 30 Satz 2 EuInsVO; siehe auch BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - IX ZB 72/19, WM 2021, 46 Rn. 15). Der für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen maßgebliche Zeitpunkt ist grundsätzlich die Insolvenzantragstellung (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Januar 2006 - C-1/04, Staubitz-Schreiber, Slg. 2006, I-719 Rn. 24 ff, 29; vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 20, 31, 36; Uhlenbruck/Knof, InsO, 15. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 77; MünchKomm-InsO/Thole, 4. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 60; FK-InsO/Wenner/Schuster, 9. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 23).

 

23        bb) Im Hinblick darauf hält die Annahme des Beschwerdegerichts, die Schuldnerin habe den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen bei Antragstellung am 6. September 2019 in Deutschland gehabt, rechtlicher Nachprüfung stand.

 

24        Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin, bei der es sich nach den von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen zweitinstanzlichen Feststellungen um eine Holdinggesellschaft ohne eigenes operatives Geschäft handelt, verweist nach der rechtsfehlerfreien Würdigung des Beschwerdegerichts spätestens seit Anfang September 2019 auf das Inland. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vom Tatrichter vorgenommene Gesamtbewertung, der Ort der Hauptverwaltung der Schuldnerin habe auch für Dritte erkennbar in Düsseldorf gelegen, lässt Rechtsfehler nicht erkennen.

 

25        c) Auf die internationale Zuständigkeit des Insolvenzgerichts haben nach Ablauf des 31. Dezember 2020 erfolgte Entscheidungen des High Court über den Insolvenzantrag vom 22. August 2019 keinen Einfluss.

 

26        aa) Nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien hat der High Court am 30. Juni 2022 auf den Antrag vom 22. August 2019 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin in Form einer "winding-up order" eröffnet. Es handelt sich hierbei um eine neue Tatsache, die erst nach Abschluss der Vor-instanzen eingetreten ist.

 

27        bb) Die vorgetragene Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den High Court ändert nichts daran, dass seit dem 6. September 2019 der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin im Sinne des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO als im Inland begründet gilt.

 

28        Da maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen gemäß Art. 3 Abs. 1 EuInsVO grundsätzlich die Insolvenzantragstellung ist, sind etwaige Veränderungen nach Antragstellung unbeachtlich. Vielmehr kommt es zu einer Perpetuierung der einmal begründeten internationalen Zuständigkeit (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Januar 2006 - C-1/04, Staubitz-Schreiber, Slg. 2006, I-719 Rn. 25, 29; Uhlenbruck/Knof, InsO, 15. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 78; FK-InsO/Wenner/Schuster, 9. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 26; HK-InsO/Dornblüth, 10. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 12; MünchKomm-InsO/Thole, 4. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 70 f; Mankowski in Mankowski/Müller/Schmidt, EuInsVO, Art. 3 Rn. 28 f).

 

29        d) Im Ergebnis rechtsfehlerfrei hat das Beschwerdegericht angenommen, dass das Insolvenzgericht an dem Erlass von Sicherungsmaßnahmen in Deutschland nicht deshalb gehindert war, weil bereits am 22. August 2019 ein Insolvenzantrag beim High Court gestellt worden war.

 

30        aa) Ursprünglich war zwar entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts die internationale Zuständigkeit des Insolvenzgerichts nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ausgeschlossen.

 

31        Wie der Gerichtshof der Europäischen Union auf die Vorlage des Senats entschieden hat (EuGH, Urteil vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 24 ff, 41 f), ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird. Infolgedessen kann sich, soweit die Europäische Insolvenzverordnung auf diesen Antrag anwendbar bleibt, ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das später mit einem Antrag mit demselben Ziel befasst wird, grundsätzlich nicht für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens für zuständig erklären, solange das erste Gericht nicht entschieden und seine Zuständigkeit nicht verneint hat. Im Hinblick darauf war das Insolvenzgericht bei Antragstellung am 6. September 2019 ebenso wie bei Beschlussfassung am 9. September 2019 nicht international zuständig, denn zu diesem Zeitpunkt hatte der High Court über den dort bereits am 22. August 2019 gestellten Insolvenzantrag noch nicht entschieden.

 

32        bb) Die aus dem bei dem High Court gestellten Antrag gemäß Art. 3 Abs. 1 EuInsVO folgende Sperrwirkung ist jedoch mit Ablauf des 31. Dezember 2020 entfallen.

 

33        (1) Mit dem Vollzug des Brexit ist die Europäische Insolvenzverordnung im Verhältnis zum Vereinigten Königreich nicht mehr anwendbar. Infolgedessen ist das Vereinigte Königreich Drittstaat für die Zwecke der Europäischen Insolvenzverordnung (vgl. MünchKomm-BGB/Kindler, 8. Aufl., Art. 19 EuInsVO Rn. 19; Graf-Schlicker/Bornemann, InsO, 6. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 12).

 

34        (a) Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 24. Januar 2020 (fortan: BrexitAbk) sieht einen Übergangszeitraum vor, der mit Ablauf des 31. Dezember 2020 endet. Nach Art. 127 Abs. 1 Unterabs. 1 BrexitAbk gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich, sofern im Abkommen nichts anderes bestimmt ist. Zum fortgeltenden Recht, das gemäß Art. 127 Abs. 3 BrexitAbk die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten entfaltet und nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen ausgelegt und angewendet wird, die auch innerhalb der Union gelten, gehört die Europäische Insolvenzverordnung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - IX ZB 72/19, WM 2021, 46 Rn. 37).

 

35        (b) Nach Art. 67 Abs. 3 Buchst. c BrexitAbk ist die Europäische Insolvenzverordnung im Verhältnis zum Vereinigten Königreich allerdings noch auf Verfahren anzuwenden, die bis zum Ablauf der Übergangsfrist eingeleitet worden sind. Hierbei ist jedoch, wie der Gerichtshof der Europäischen Union nunmehr entschieden hat, unter der Einleitung des Verfahrens nicht bereits die Antragstellung, sondern erst die Verfahrenseröffnung zu verstehen (vgl. EuGH, Urteil vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 38 f; siehe hierzu auch Graf-Schlicker/Bornemann, InsO, 6. Aufl., Art. 1 EuInsVO Rn. 12; Fuchs, VIA 2020, 33, 34; ders., GWR 2021, 81; Schmidt, ZInsO 2022, 925, 927; Paulus, EWiR 2022, 337, 338).

 

36        (2) Im Streitfall hat der High Court bis zum Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember 2020 nicht über den Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens entschieden. Dies ist - wie die zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 24. März 2022 eingeholten Stellungnahmen der Parteien ergeben haben - unstreitig und im Rechtsbeschwerdeverfahren zu berücksichtigen.

 

37        Dem stehen die Regelungen der §§ 559, 577 Abs. 2 Satz 4 ZPO, die im Grundsatz die Berücksichtigung neuer Tatsachen im Rechtsbeschwerdeverfahren ausschließen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juli 2010 - XII ZB 59/10, NJW-RR 2010, 1648 Rn. 6 mwN; MünchKomm-ZPO/Krüger, 6. Aufl., § 559 Rn. 25), nicht entgegen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass bei der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde das zum Zeitpunkt der Rechtsbeschwerdeentscheidung geltende Recht anzuwenden ist. Das gilt auch dann, wenn das Gericht der Vorinstanz dieses Recht noch nicht berücksichtigen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juni 2021 - II ZB 35/20, WM 2021, 1444 Rn. 41 mwN), wie es namentlich bei den Wirkungen des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (BrexitAbk) der Fall ist (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juni 2021, aaO Rn. 42). Ist demnach geändertes Recht zu berücksichtigen, sind infolgedessen auch neue Tatsachen, die aufgrund des geänderten Rechts entscheidungserheblich geworden sind, im Rechtsbeschwerdeverfahren zu beachten (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 - III ZR 73/09, K&R 2010, 110 Rn. 12; Musielak/Voit/Ball, ZPO, 19. Aufl., § 559 Rn. 10 mwN).

 

38        (3) Mit Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember 2020 ohne vorherige Beschlussfassung des High Court über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens entfiel die Sperrwirkung des beim High Court anhängigen Insolvenzverfahrens.

 

39        Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seiner Entscheidung (Urteil vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 37 ff) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das vorlegende Rechtsbeschwerdegericht bei der Beurteilung der Gültigkeit der Entscheidung des Insolvenzgerichts hinsichtlich der Frage der internationalen Zuständigkeit die Wirkungen berücksichtigen müsse, die aus der Einreichung des Antrags beim High Court resultierten. Insoweit sei auch in die Betrachtung einzubeziehen, ob der High Court bis zum Ablauf der Übergangsfrist über den bei ihm eingereichten Insolvenzantrag entschieden habe oder nicht (vgl. EuGH, Urteil vom 24. März 2022, aaO Rn. 38 f). Im letztgenannten Fall sei in einer Situation wie im Ausgangsverfahren das später angerufene Gericht eines Mitgliedstaats von der Sperrwirkung des ersten Antrags nicht mehr betroffen (vgl. EuGH, Urteil vom 24. März 2022, aaO Rn. 39).

 

40        cc) Der bei dem High Court am 22. August 2019 gestellte Insolvenzantrag steht der internationalen Zuständigkeit des Insolvenzgerichts auch nach autonomem deutschem Insolvenzrecht nicht entgegen.

 

41        (1) Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ist das Gericht eines Mitgliedstaats nicht gehindert, sich für international zuständig zu erklären, wenn ein Insolvenzantrag zeitlich vorausgehend in einem Drittstaat gestellt und dort noch nicht beschieden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 39). Das deutsche internationale Insolvenzrecht enthält keine Regelung, wie bei mehreren Insolvenzanträgen in verschiedenen Staaten zu verfahren ist. § 343 InsO regelt zwar die Anerkennung einer Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens. Daraus mag folgen, dass ein deutsches Gericht an einer Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens gehindert ist, wenn ein ausländisches Insolvenzverfahren zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags in Deutschland bereits eröffnet ist und die Eröffnung des ausländischen Insolvenzverfahrens gemäß § 343 InsO in Deutschland anzuerkennen ist. Jedenfalls enthält die Bestimmung keine Regelung dazu, unter welchen Voraussetzungen ein deutsches Insolvenzgericht von einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Hinblick auf einen im Ausland gestellten Insolvenzantrag absehen muss, wenn dieser nicht als eine Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens im Sinne des § 343 Abs. 1 Satz 1 InsO zu qualifizieren ist.

 

42        (2) Der Senat entscheidet die Frage dahin, dass jedenfalls in den Fällen, in denen die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Maßgabe des Art. 3 EuInsVO gegeben ist, die von einem deutschen Gericht erfolgte Eröffnung eines Insolvenzverfahrens einer erst später erfolgten Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens auch dann vorgeht, wenn der Eröffnungsantrag beim ausländischen Gericht früher gestellt worden ist und die Eröffnung des ausländischen Insolvenzverfahrens als solche gemäß § 343 InsO anerkennungsfähig wäre.

 

43        (a) Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Anknüpfungsmerkmale zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit ist der jeweilige Eingang des Eröffnungsantrags (vgl. Jaeger/Mankowski, InsO, § 343 Rn. 99; MünchKomm-InsO/Thole, 4. Aufl., § 343 Rn. 30 mwN). Waren die deutschen Gerichte zu diesem Zeitpunkt für das Insolvenzverfahren international zuständig, bleibt es dabei; es gilt insoweit der Grundsatz der perpetuatio fori (vgl. Jaeger/Mankowski, aaO).

 

44        Fehlt es zum Zeitpunkt der Antragstellung an einer internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte, genügt es jedoch, wenn die internationale Zuständigkeit erst zum Zeitpunkt der Entscheidung begründet ist (Jaeger/Mankowksi, aaO). Soweit gegen die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Rechtsmittel eingelegt wird, können zuständigkeitsbegründende Umstände auch bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts berücksichtigt werden, soweit nach den prozessualen Regeln neue Tatsachen bei der Entscheidung einbezogen werden können.

 

45        (b) Besteht nach diesen Maßstäben eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte und hat das deutsche Gericht das Insolvenzverfahren eröffnet, bevor eine Eröffnung des ausländischen Insolvenzverfahrens erfolgt, begründet dies einen Ausschließlichkeitsanspruch des deutschen Insolvenzverfahrens. Dieser beruht darauf, dass nach § 3 InsO die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts eine ausschließliche darstellt. Dieser Gedanke gilt auch für die internationale Zuständigkeit. Auf die Frage, ob die Eröffnung des ausländischen Insolvenzverfahrens als solche anerkennungsfähig wäre (etwa weil zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags im Ausland entsprechend § 3 InsO eine internationale Zuständigkeit des ausländischen Gerichts gegeben war), kommt es nicht an. Die Grundsätze zur Anerkennung einer zeitlich früheren ausländischen Rechtshängigkeit (vgl. hierzu Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 261 Rn. 53) gelten nicht für die Anhängigkeit mehrerer Insolvenzanträge.

 

46        Insoweit unterscheidet sich die Rechtslage nach autonomem internationalem Insolvenzrecht von der Rechtslage nach der EuInsVO. Die Regelungen der EuInsVO beruhen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der erfordert, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Entscheidung zur Eröffnung eines solchen Verfahrens anerkennen, ohne die vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit angestellte Beurteilung überprüfen zu können (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006 - C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, Slg. 2006, I-3813 Rn. 42; vom 24. März 2022 - C-723/20, Galapagos BidCo., WM 2022, 981 Rn. 35 f). Nur vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof der Europäischen Union einem in einem Mitgliedstaat anhängigen Antrag Sperrwirkung für die internationale Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats, der zeitlich nachfolgend mit einem auf dasselbe Ziel gerichteten Antrag befasst wird, beigemessen (vgl. EuGH, Urteil vom 24. März 2022, aaO Rn. 35 f, 41 ff).

 

47        Dieser Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens kann für das autonome Recht schon mangels vereinheitlichter Zuständigkeits- und Kollisionsnormen nicht in gleicher Weise gelten. Darauf weist insbesondere die Entscheidung des Gesetzgebers hin, dass die Anerkennung gemäß § 343 InsO ausdrücklich eine Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaats durch die deutschen Gerichte voraussetzt (vgl. MünchKomm-InsO/Thole, 4. Aufl., § 343 Rn. 7; HK-InsO/Swierczok, 10. Aufl., § 343 Rn. 6 f; Schmidt/Brinkmann, InsO, 19. Aufl., § 343 Rn. 2).

 

48        (c) Im Zeitpunkt der Entscheidung des Insolvenzverfahrens durch das Insolvenzgericht am 9. September 2019 lag nach den für den Senat gemäß § 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO bindenden Feststellungen des Beschwerdegerichts lediglich ein bei dem High Court gestellter Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor. Hingegen hat der High Court bis zu diesem Zeitpunkt weder ein Insolvenzverfahren in England eröffnet, noch hatte er Sicherungsmaßnahmen angeordnet. Es ist auch nicht ersichtlich, dass allein der Insolvenzantrag vor dem High Court in England als Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens im Sinne des § 343 Abs. 1 Satz 1 InsO zu qualifizieren ist.

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