BGH: Zur Herstellung einer Aufrechnungslage im Insolvenzverfahren
BGH, Urteil vom 8.12.2022 – IX ZR 175/21
ECLI:DE:BGH:2022:081222UIXZR175.21.0
Volltext: BB-Online BBL2023-322-3
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Amtlicher Leitsatz
Die Herstellung einer Aufrechnungslage ist nicht allein deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden ist.
InsO § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 131 Abs. 1 Nr. 1
Sachverhalt
Die Parteien streiten um die insolvenzrechtliche Wirksamkeit einer Aufrechnung. Der Beklagte ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. GmbH (nachfolgend: W. ). Die W. betrieb eine Papierfabrik. Der Beklagte führte das Unternehmen der W. im Eröffnungsverfahren fort. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens verkaufte er das Unternehmen an die P. GmbH (nachfolgend: Schuldnerin), die zunächst noch unter der Bezeichnung N. GmbH firmierte. Der Vertrag über den Verkauf des Unternehmens nahm bereits fertig gestellte Waren von der Veräußerung aus. Die Vertragsparteien vereinbarten im Unternehmenskaufvertrag, dass die Schuldnerin die Auslieferung der nicht mitverkauften Fertigwaren für den Beklagten durchführen sollte. Als Gegenleistung für die Auslieferung wurde eine "Handling Fee" in Höhe von 170.000 € zuzüglich der gesetzlichen Umsatzsteuer (= 202.300 € brutto) vereinbart. Zur Auslieferung von Fertigwaren kam es ab dem 23. Februar 2016. Die dadurch entstandene "Handling Fee" ist Gegenstand der vorliegenden Klage.
Der Beklagte ist der Ansicht, der Anspruch auf die "Handling Fee" sei infolge Aufrechnung erloschen. Das hat folgenden Hintergrund: Der Kaufpreis für das Unternehmen der W. (ohne Grundstück und aufstehende Gebäude) betrug (vorläufig) 6,7 Millionen Euro und sollte ursprünglich am 19. Februar 2016 fällig werden. Am 23. Februar 2016 regelten die Vertragsparteien die Fälligkeit abweichend dahingehend, dass der Kaufpreis in Höhe von 1 Million Euro am 23. Februar und in Höhe der restlichen 5,7 Millionen Euro am 18. März 2016 fällig sein sollte. Die Schuldnerin zahlte 1 Million Euro. Vor Fälligkeit des Restbetrags stellte sie am 15. März 2016 Insolvenzantrag. Das Insolvenzverfahren wurde am 23. Mai 2016 eröffnet, der Kläger wurde zum (Sonder-)Insolvenzverwalter bestellt. Der Beklagte meldete die offengebliebene Kaufpreisforderung aus dem Unternehmenskaufvertrag in mehreren Teilbeträgen zur Tabelle an. Die Teilforderung für die immateriellen Vermögensgegenstände in Höhe von 500.000 € wurde zur Tabelle festgestellt. Mit einem (erstrangigen) Teilbetrag dieser Forderung hat der Beklagte die Aufrechnung gegen die streitgegenständliche "Handling Fee" erklärt.
Das Landgericht hat die Klage aufgrund der Aufrechnung abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Aufrechnung für insolvenzrechtlich unwirksam gehalten. Die Berufung des Klägers hat deshalb Erfolg gehabt. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision will der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erreichen.
Aus den Gründen
4 Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. I.
5 Das Berufungsgericht hat die Aufrechnung für insolvenzrechtlich unwirksam gehalten, weil der Beklagte die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt habe (§ 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Verwirklicht sei der Anfechtungstatbestand des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Ob einem Gläubiger eine kongruente Deckung oder eine inkongruente Deckung verschafft worden sei, hänge im Fall einer Aufrechnung davon ab, ob der Aufrechnende vor Herstellung der Aufrechnungslage einen Anspruch auf die Vereinbarung gehabt habe, welche die Aufrechnungslage entstehen ließ. Werde der Gläubiger, der vom Insolvenzschuldner eine Zahlung zu fordern habe, durch pflichtgemäßes Verhalten seinerseits Schuldner einer Gegenforderung des späteren Insolvenzschuldners, so sei die Aufrechnungslage dem Grunde nach kongruent hergestellt. Dementsprechend liege eine kongruent hergestellte Aufrechnungslage regelmäßig vor, soweit die aufzurechnenden Ansprüche aus einem einheitlichen Vertrag erwachsen seien. Anders verhalte es sich, wenn der Gläubiger die Verpflichtung - insbesondere durch Abschluss eines Vertrags - erst innerhalb der kritischen Zeit des § 131 InsO begründe. So liege der Streitfall. Da der die Aufrechnungslage begründende (Unternehmenskauf-)Vertrag innerhalb der kritischen Zeit geschlossen worden sei, habe der Beklagte keine kongruente Deckung erlangt.
II.
6 Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Die vom Beklagten erklärte Aufrechnung mit einem (erstrangigen) Teilbetrag der zur Tabelle festgestellten Kaufpreisforderung für die immateriellen Vermögensgegenstände in Höhe von 500.000 € scheitert nicht an § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Es fehlt an einer inkongruenten Sicherung oder Befriedigung.
7 1. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist eine Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit dazu durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat. Die Verknüpfung der ursprünglichen Gläubigerstellung mit einer eigenen schuldrechtlichen Verpflichtung stellt eine sichernde und die spätere Erfüllung der Forderung vorbereitende Rechtshandlung dar, die unter den in den §§ 129 ff InsO bestimmten Voraussetzungen anfechtbar sein kann. Ob die Begründung der Aufrechnungslage zu einer kongruenten oder einer inkongruenten Deckung führt, richtet sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs danach, ob der Aufrechnende einen Anspruch auf Abschluss der Vereinbarung hatte, welche die Aufrechnungslage entstehen ließ, oder ob dies nicht der Fall war (vgl. BGH, Urteil vom 5. April 2001 - IX ZR 216/98, BGHZ 147, 233, 240; vom 29. Juni 2004 - IX ZR 195/03, BGHZ 159, 388, 393 f; vom 9. Februar 2006 - IX ZR 121/03, ZIP 2006, 818 Rn. 14; vom 14. Juni 2007 - IX ZR 56/06, NZI 2007, 515 Rn. 21; vom 11. Februar 2010 - IX ZR 104/07, ZInsO 2010, 673 Rn. 27). Die Vorschrift des § 131 InsO bezeichnet jede Rechtshandlung als inkongruent, die dem Insolvenzgläubiger eine Befriedigung gewährt, auf die er keinen Anspruch hatte. Deshalb ist die Herstellung einer Aufrechnungslage inkongruent, soweit die Aufrechnungsbefugnis sich nicht aus dem zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger zuerst entstandenen Rechtsverhältnis ergibt (BGH, Urteil vom 9. Februar 2006, aaO).
8 2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat der Bundesgerichtshof die Herstellung einer Aufrechnungslage für inkongruent gehalten, die durch einen Kauf der (Konkurs-)Gläubigerin bei der späteren Gemeinschuldnerin und die dadurch zur Entstehung gelangte Kaufpreisforderung der Schuldnerin gegen die Gläubigerin eingetreten war. Zwar habe es der Gläubigerin freigestanden, der Schuldnerin den Abschluss eines Kaufvertrags anzutragen. Die Schuldnerin sei aber nicht zur Vertragsannahme verpflichtet gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 5. April 2001, aaO). In einer weiteren Entscheidung hat der Bundesgerichtshof eine Pflicht zum Vertragsschluss und damit zur Begründung der Hauptforderung unterstellt, aber eine die Aufrechnungsbefugnis begründende Verknüpfung zwischen Haupt- und Gegenforderung vor Herstellung der Aufrechnungslage vermisst (vgl. BGH, Urteil vom 9. Februar 2006, aaO Rn. 15). Auch die Herstellung einer Aufrechnungslage zwischen dem Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts und dem Anspruch des Mandanten auf Herausgabe durch den Anwalt eingezogener (Fremd-)Gelder hat der Bundesgerichtshof für inkongruent gehalten. Der Rechtsanwalt habe aus dem Anwaltsvertrag keinen Anspruch auf die Erfüllung seines Vergütungsanspruchs durch Aufrechnung gegen den Anspruch des Mandanten auf Herausgabe der Fremdgelder gehabt. Dass der Rechtsanwalt die Fremdgelder, gestützt auf entsprechende Geldempfangsvollmachten und den diese begleitenden Auftrag, berechtigt entgegengenommen habe, bedeute nicht, dass er einen die Kongruenz begründenden Anspruch auf Einzug mit dem Ziel der Verrechnung gehabt habe (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 2007, aaO). Andererseits hat der Bundesgerichtshof die Bewertung einer Aufrechnungslage als kongruent gebilligt, die infolge der entgeltlichen Nutzung von Gegenständen durch den späteren Anfechtungsgegner begründet worden war. Maßgeblich dafür war, dass der Anfechtungsgegner die Nutzung schon vor der kritischen Zeit zu beanspruchen gehabt hatte (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2010, aaO).
9 3. Eine die Aufrechnungsbefugnis begründende Verknüpfung zwischen Haupt- und Gegenforderung setzt nicht voraus, dass die Aufrechnung ausdrücklich vereinbart wird. Es handelt sich um ein echtes Erfüllungssurrogat, die Aufrechnung ist deshalb nicht ohne weiteres inkongruent (vgl. MünchKomm-InsO/Kayser/Freudenberg, 4. Aufl., § 131 Rn. 32). Die Einordnung des Erwerbs einer Aufrechnungslage als kongruent oder inkongruent richtet sich entscheidend nach dem Inhalt der Rechtsbeziehungen zwischen dem Insolvenzschuldner und seinem Gläubiger (BGH, Urteil vom 29. Juni 2004 - IX ZR 195/03, BGHZ 159, 388, 394). Vor diesem Hintergrund genügt eine vor der Herstellung der Aufrechnungslage vorgenommene Verknüpfung, welche die Annahme einer Aufrechnungsbefugnis nach dem zuerst entstandenen Rechtsverhältnis rechtfertigt. Eine solche Verknüpfung ist regelmäßig anzunehmen, wenn Haupt- und Gegenforderung aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis erwachsen sind (vgl. G. Fischer, ZIP 2004, 1679, 1683; Uhlenbruck/Borries/Hirte, InsO, 15. Aufl., § 131 Rn. 52; Schoppmeyer in Kübler/Prütting/Bork, 2014, § 131 Rn. 137b). Werden in einem Vertrag wechselseitige Ansprüche begründet und ergibt sich aus den getroffenen Vereinbarungen nicht, dass eine Erfüllung durch Aufrechnung ausgeschlossen sein soll, besteht die zur Annahme der Kongruenz notwendige Aufrechnungsbefugnis.
10 4. Im Streitfall sind sowohl der streitgegenständliche Anspruch auf die "Handling Fee" als auch die zur Aufrechnung gestellte Teilkaufpreisforderung aus dem geschlossenen Unternehmenskaufvertrag und damit aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis erwachsen. Der Vertrag regelt eine Aufrechnungsbeschränkung gegen Zahlungsansprüche des Beklagten dahingehend, dass eine Aufrechnung nur mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Gegenansprüchen der Schuldnerin gestattet ist. Eine Aufrechnung durch den Beklagten gegen den Anspruch auf die "Handling Fee" ist hingegen nicht beschränkt oder gar ausgeschlossen.
11 5. Dass der Anspruch auf die „Handling Fee“ und die zur Aufrechnung gestellte Teilkaufpreisforderung aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis erwachsen sind, hat auch das Berufungsgericht gesehen. Es hat die Herstellung der Aufrechnungslage gleichwohl für inkongruent gehalten, weil der Unternehmenskaufvertrag innerhalb der kritischen Zeit des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO geschlossen worden sei. Diese Ansicht trifft nicht zu.
12 a) Die Herstellung einer Aufrechnungslage ist nicht allein deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden ist (aA möglicherweise MünchKomm-InsO/Kayser/Freudenberg, aaO Rn. 17). Anders als im Falle der Einzelzwangsvollstreckung (vgl. BGH, Urteil vom 11. April 2002 - IX ZR 211/01, NZI 2002, 378, 379; st.Rspr.) tritt die Befugnis des Gläubigers, sich in der kritischen Zeit durch Aufrechnung zu befriedigen, nicht hinter den Schutz der Gläubigergesamtheit zurück. Zwar kommen die Rechtsfolgen einer Aufrechnung im wirtschaftlichen Ergebnis einer (Einzel-)Zwangsvollstreckung gleich (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2010 - IX ZR 104/07, ZInsO 2010, 673 Rn. 13). Die Aufrechnung unterliegt jedoch eigenständigen insolvenzrechtlichen Regelungen (§§ 94 ff InsO). Insbesondere wird eine zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Aufrechnungslage durch das Verfahren im Grundsatz nicht berührt (vgl. § 94 InsO). Im Gegensatz zur Einzelzwangsvollstreckung ist daher die Annahme einer durch den Anfechtungstatbestand des § 131 InsO vermittelten Vorwirkung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Die Inkongruenz der Einzelzwangsvollstreckung beruht auf den vom Gläubiger in Anspruch genommenen hoheitlichen Zwangsmitteln (BGH, Urteil vom 10. Februar 2005 - IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143, 149).
13 b) Die Begründung der Aufrechnungsbefugnis - hier durch den Unternehmenskaufvertrag, aus dem sowohl Haupt- als auch Gegenforderung erwachsen sind - ist auch nicht selbständig anfechtbar. Anders als in den Fällen einer Aufrechnungs- (vgl. Obermüller, ZInsO 2009, 689, 694; MünchKomm-InsO/Kayser/Freudenberg, aaO Rn. 43a; Schoppmeyer in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2014, § 131 Rn. 135a) oder einer Kongruenzvereinbarung (vgl. BGH, Urteil vom 17. Dezember 2015 - IX ZR 287/14, BGHZ 208, 243, Rn. 18 mwN) wird weder eine von § 387 BGB abweichende Auf- oder Verrechenbarkeit durch Parteivereinbarung hergestellt (vgl. Schoppmeyer in Kübler/Prütting/Bork, aaO) noch eine zuvor nicht gegebene Kongruenz (vgl. BGH, Urteil vom 17. Dezember 2015, aaO Rn. 20). Die Aufrechnungsbefugnis ist lediglich ein Wertungskriterium, anhand dessen beurteilt wird, ob der Insolvenzgläubiger einen Anspruch auf Herstellung der Aufrechnungslage hatte, oder ob dies nicht der Fall war. Es fehlt daher an einer für sich genommen anfechtbaren Rechtshandlung. Die Beantwortung der Frage, ob die Begründung einer Aufrechnungslage zu einer kongruenten oder einer inkongruenten Deckung führt, richtet sich allein nach den vom Bundesgerichtshof hierzu entwickelten Grundsätzen (vgl. oben Rn. 7 f).
III.
14 Das angefochtene Urteil ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist, ist sie zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat die Unzulässigkeit der Aufrechnung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO bislang nicht unter dem vom Kläger geltend gemachten Gesichtspunkt einer Anfechtbarkeit nach § 130 Abs. 1 Satz 1 InsO geprüft.