EuGH: Zur Anwendbarkeit der lex fori durch das angerufene Gericht trotz fremder Rechtswahl im Handelsvertretervertrag
EuGH, Urteil vom 17.10.2013 - C-184/12
Leitsatz
Die Art. 3 und 7 Abs. 2 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom, sind in dem Sinne auszulegen, dass das von den Parteien eines Handelsvertretervertrags gewählte Recht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, das den durch die Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter vorgeschriebenen Mindestschutz gewährt, von dem angerufenen Gericht eines anderen Mitgliedstaats nur dann zugunsten der lex fori mit der Begründung, dass die Vorschriften über selbstständige Handelsvertreter in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats zwingenden Charakter haben, unangewendet gelassen werden kann, wenn das angerufene Gericht substanziiert feststellt, dass der Gesetzgeber des Staates dieses Gerichts es im Rahmen der Umsetzung dieser Richtlinie für unerlässlich erachtet hat, dem Handelsvertreter in der betreffenden Rechtsordnung einen Schutz zu gewähren, der über den in der genannten Richtlinie vorgesehenen hinausgeht, und dabei die Natur und den Gegenstand dieser zwingenden Vorschriften berücksichtigt.
Aus den Gründen
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 7 Abs. 2 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. L 266, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen von Rom), in Verbindung mit der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. L 382, S. 17).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der United Antwerp Maritime Agencies (Unamar) NV (im Folgenden: Unamar), einer Gesellschaft belgischen Rechts, und der Navigation Maritime Bulgare (im Folgenden: NMB), einer Gesellschaft bulgarischen Rechts, wegen verschiedener Entschädigungen, die angeblich infolge der von NMB erklärten Kündigung des zwischen den beiden Gesellschaften bestehenden Handelsvertretervertrags zu zahlen sind.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche
3. Art. II Abs. 1 und 3 des am 10. Juni 1958 in New York unterzeichneten Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche ( United Nations Treaty Series , Bd. 330, S. 3) bestimmt:
„1. Jeder Vertragsstaat erkennt eine schriftliche Vereinbarung an, durch die sich die Parteien verpflichten, alle oder einzelne Streitigkeiten, die zwischen ihnen aus einem bestimmten Rechtsverhältnis, sei es vertraglicher oder nichtvertraglicher Art, bereits entstanden sind oder etwa künftig entstehen, einem schiedsrichterlichen Verfahren zu unterwerfen, sofern der Gegenstand des Streites auf schiedsrichterlichem Wege geregelt werden kann.
...
3. Wird ein Gericht eines Vertragsstaates wegen eines Streitgegenstandes angerufen, hinsichtlich dessen die Parteien eine Vereinbarung im Sinne dieses Artikels getroffen haben, so hat das Gericht auf Antrag einer der Parteien sie auf das schiedsrichterliche Verfahren zu verweisen, sofern es nicht feststellt, dass die Vereinbarung hinfällig, unwirksam oder nicht erfüllbar ist."
Unionsrecht
Übereinkommen von Rom
4. Art. 1 („Anwendungsbereich") Abs. 1 des Übereinkommens von Rom sieht vor:
„Die Vorschriften dieses Übereinkommens sind auf vertragliche Schuldverhältnisse bei Sachverhalten, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, anzuwenden."
5. Art. 3 („Freie Rechtswahl") dieses Übereinkommens bestimmt:
„(1) Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich sein oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Bestimmungen des Vertrages oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen.
(2) Die Parteien können jederzeit vereinbaren, dass der Vertrag nach einem anderen Recht zu beurteilen ist als dem, das zuvor entweder aufgrund einer früheren Rechtswahl nach diesem Artikel oder aufgrund anderer Vorschriften dieses Übereinkommens für ihn maßgebend war. Die Formgültigkeit des Vertrages im Sinne des Artikels 9 und Rechte Dritter werden durch eine nach Vertragsabschluss erfolgende Änderung der Bestimmung des anzuwendenden Rechts nicht berührt.
(3) Sind alle anderen Teile des Sachverhalts im Zeitpunkt der Rechtswahl in ein und demselben Staat belegen, so kann die Wahl eines ausländischen Rechts durch die Parteien - sei sie durch die Vereinbarung der Zuständigkeit eines ausländischen Gerichtes ergänzt oder nicht - die Bestimmungen nicht berühren, von denen nach dem Recht jenes Staates durch Vertrag nicht abgewichen werden kann und die nachstehend ‚zwingende Bestimmungen‘ genannt werden.
(4) Auf das Zustandekommen und die Wirksamkeit der Einigung der Parteien über das anzuwendende Recht sind die Artikel 8, 9 und 11 anzuwenden."
6. Art. 7 („Zwingende Vorschriften") des genannten Übereinkommens sieht vor:
„(1) Bei Anwendung des Rechts eines bestimmten Staates aufgrund dieses Übereinkommens kann den zwingenden Bestimmungen des Rechts eines anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, Wirkung verliehen werden, soweit diese Bestimmungen nach dem Recht des letztgenannten Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt. Bei der Entscheidung, ob diesen zwingenden Bestimmungen Wirkung zu verleihen ist, sind ihre Natur und ihr Gegenstand sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder ihrer Nichtanwendung ergeben würden.
(2) Dieses Übereinkommen berührt nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichtes geltenden Bestimmungen, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln."
7. Art. 18 („Einheitliche Auslegung") des Übereinkommens lautet:
„Bei der Auslegung und Anwendung der vorstehenden einheitlichen Vorschriften ist ihrem internationalen Charakter und dem Wunsch Rechnung zu tragen, eine einheitliche Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften zu erreichen."
Verordnung (EG) Nr. 593/2008
8. Die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177, S. 6, im Folgenden: Rom-I-Verordnung) hat das Übereinkommen von Rom ersetzt. Art. 9 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung („Eingriffsnormen") lautet wie folgt:
„(1) Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.
(2) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts."
Richtlinie 86/653
9. Die Erwägungsgründe 1 bis 4 der Richtlinie 86/653 lauten wie folgt:
„Die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die Vermittlertätigkeiten in Handel, Industrie und Handwerk sind durch die Richtlinie 64/224/EWG ... aufgehoben worden.
Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der Gemeinschaft spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmen sowie die Sicherheit im Handelsverkehr. Diese Unterschiede erschweren im Übrigen auch erheblich den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmer und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.
Der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten muss unter Bedingungen erfolgen, die denen eines Binnenmarktes entsprechen, weswegen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in dem zum guten Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang angeglichen werden müssen. Selbst vereinheitlichte Kollisionsnormen auf dem Gebiet der Handelsvertretung können die erwähnten Nachteile nicht beseitigen und lassen daher einen Verzicht auf die vorgeschlagene Harmonisierung nicht zu.
Die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertreter und Unternehmer sind in diesem Zusammenhang mit Vorrang zu behandeln."
10. Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen gelten für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln.
(2) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im Folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen."
11. Art. 17 der genannten Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 hat.
(2) a) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit
- er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und
- die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass zu diesen Umständen auch die Anwendung oder Nichtanwendung einer Wettbewerbsabrede im Sinne des Artikels 20 gehört.
b) Der Ausgleich darf einen Betrag nicht überschreiten, der einem jährlichen Ausgleich entspricht, der aus dem Jahresdurchschnittsbetrag der Vergütungen, die der Handelsvertreter während der letzten fünf Jahre erhalten hat, errechnet wird; ist der Vertrag vor weniger als fünf Jahren geschlossen worden, wird der Ausgleich nach dem Durchschnittsbetrag des entsprechenden Zeitraums ermittelt.
c) Die Gewährung dieses Ausgleichs schließt nicht das Recht des Handelsvertreters aus, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.
(3) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer entstandenen Schadens.
Dieser Schaden umfasst insbesondere
- den Verlust von Ansprüchen auf Provision, die dem Handelsvertreter bei normaler Fortsetzung des Vertrages zugestanden hätten und deren Nichtzahlung dem Unternehmer einen wesentlichen Vorteil aus der Tätigkeit des Handelsvertreters verschaffen würde, und/oder
- Nachteile, die sich aus der nicht erfolgten Amortisation von Kosten und Aufwendungen ergeben, die der Handelsvertreter in Ausführung des Vertrages auf Empfehlung des Unternehmers gemacht hatte.
...
(5) Der Handelsvertreter verliert den Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3, wenn er dem Unternehmer nicht innerhalb eines Jahres nach Beendigung des Vertragsverhältnisses mitgeteilt hat, dass er seine Rechte geltend macht.
..."
12. Art. 18 der Richtlinie lautet:
„Der Anspruch auf Ausgleich oder Schadensersatz nach Artikel 17 besteht nicht,
a) wenn der Unternehmer den Vertrag wegen eines schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters beendet hat, das aufgrund der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine fristlose Beendigung des Vertrages rechtfertigt;
..."
13. Gemäß Art. 22 der Richtlinie 86/653 hatten die Mitgliedstaaten diese Richtlinie bis zum 1. Januar 1990 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen.
Nationale Rechtsvorschriften
Das belgische Gesetz über den Handelsvertretervertrag
14. Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes über den Handelsvertretervertrag vom 13. April 1995 ( Belgisch Staatsblad vom 2. Juni 1995, S. 15621, im Folgenden: Gesetz über den Handelsvertretervertrag), mit dem die Richtlinie 86/653 in belgisches Recht umgesetzt wurde, lautet wie folgt:
„Der Handelsvertretervertrag ist der Vertrag, durch den die eine Partei, der Handelsvertreter, von der anderen Partei, dem Auftraggeber, dessen Gewalt der Handelsvertreter nicht unterliegt, ständig und gegen Vergütung damit betraut wird, im Namen und für Rechnung des Auftraggebers Geschäfte zu vermitteln und gegebenenfalls Geschäfte abzuschließen."
15. Art. 18 §§ 1 und 3 dieses Gesetzes sieht vor:
„§ 1 Ist der Vertretervertrag entweder für unbestimmte Zeit oder für bestimmte Zeit mit Möglichkeit der vorzeitigen Vertragskündigung geschlossen worden, darf jede Partei unter Berücksichtigung der Kündigungsfrist den Vertrag kündigen.
...
§ 3 Die Partei, die den Vertrag kündigt, ohne sich auf einen der in Artikel 19 Absatz 1 erwähnten Gründe zu berufen oder ohne die in § 1 Absatz 2 festgelegte Kündigungsfrist einzuhalten, muss der anderen Partei eine Entschädigung zahlen, die der üblichen Vergütung für den Zeitraum der Kündigungsfrist oder des noch verbleibenden Teils dieser Frist entspricht."
16. Art. 20 Abs. 1 des genannten Gesetzes bestimmt:
„Nach Vertragsbeendigung hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine Ausgleichsabfindung, wenn er neue Kunden für den Auftraggeber geworben oder die Geschäftsverbindungen mit der bestehenden Kundschaft wesentlich erweitert hat, soweit dies dem Auftraggeber noch erhebliche Vorteile einbringen kann."
17. Art. 21 des Gesetzes lautet:
„Sofern der Handelsvertreter Anspruch auf die in Artikel 20 erwähnte Ausgleichsabfindung hat und diese Entschädigung den tatsächlich erlittenen Schaden nicht vollständig deckt, kann der Handelsvertreter über diese Entschädigung hinaus Schadenersatz erhalten in Höhe der Differenz zwischen dem Betrag des tatsächlich erlittenen Schadens und dem Betrag der besagten Entschädigung, jedoch mit der Auflage, den tatsächlichen Umfang des angegebenen Schadens nachzuweisen."
18. Art. 27 des Gesetzes über den Handelsvertretervertrag sieht vor:
„Vorbehaltlich der Anwendung internationaler Vereinbarungen, bei denen Belgien Partei ist, unterliegt jede Tätigkeit eines Handelsvertreters mit Hauptniederlassung in Belgien dem belgischen Gesetz und gehört zum Zuständigkeitsbereich der belgischen Gerichte."
Das bulgarische Handelsgesetz
19. In Bulgarien wurde die Richtlinie 86/653 durch eine Änderung des Handelsgesetzes umgesetzt (DV Nr. 59 vom 21. Juli 2006).
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
20. Die Unamar als Handelsvertreter und die NMB als Auftraggeber schlossen im Jahr 2005 einen Handelsvertretervertrag über den Betrieb eines Seeverkehrsliniendienstes mit Containern der NMB. Der für ein Jahr geschlossene Vertrag, der bis zum 31. Dezember 2008 jährlich verlängert wurde, sah die Geltung bulgarischen Rechts und die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten über diesen Vertrag durch die Schiedskammer der Industrie- und Handelskammer in Sofia (Bulgarien) vor. Mit Rundschreiben vom 19. Dezember 2008, teilte die NMB ihren Handelsvertretern mit, dass sie aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen sei, die vertraglichen Beziehungen zu beenden. Vor diesem Hintergrund wurde der mit der Unamar geschlossene Handelsvertretervertrag nur bis zum 31. März 2009 verlängert.
21. Da die Unamar der Auffassung war, dass der Handelsvertretervertrag rechtswidrig beendet worden sei, erhob sie am 25. Februar 2009 vor der Rechtbank van koophandel te Antwerpen (Handelsgericht Antwerpen) Klage auf Verurteilung der NMB zur Zahlung verschiedener Entschädigungen nach dem Gesetz über den Handelsvertretervertrag, nämlich eine Kündigungsentschädigung, eine Ausgleichsabfindung und eine zusätzliche Entschädigung für die Entlassung von Personal, in Höhe von insgesamt 849 557,05 Euro.
22. Die NMB beantragte vor demselben Gericht die Verurteilung der Unamar zur Zahlung von 327 207,87 Euro für rückständige Frachten.
23. Im Rahmen des von der Unamar eingeleiteten Verfahrens erhob die NMB die Einrede der Unzulässigkeit, da sie das belgische Gericht wegen der im Handelsvertretervertrag enthaltenen Schiedsklausel für die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit für unzuständig hielt. Die Rechtbank van koophandel te Antwerpen stellte nach der Verbindung der beiden Rechtssachen, die die Parteien jeweils bei ihr anhängig gemacht hatten, mit Urteil vom 12. Mai 2009 fest, dass diese Unzulässigkeitseinrede der NMB unbegründet sei. Zum auf die beiden bei ihm anhängigen Rechtssachen anwendbaren Recht stellte dieses Gericht u. a. fest, dass es sich bei Art. 27 des Gesetzes über den Handelsvertretervertrag um eine einseitige Kollisionsnorm handle, die als „zwingende Vorschrift" unmittelbar anwendbar sei und der Wahl ausländischen Rechts somit entgegenstehe.
24. Mit Urteil vom 23. Dezember 2010 gab der Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen) der von der NMB gegen das Urteil vom 12. Mai 2009 eingelegten Berufung teilweise statt und verurteilte die Unamar zur Zahlung rückständiger Frachten in Höhe von 77 207,87 Euro zuzüglich der Verzugszinsen zum gesetzlichen Zinssatz und der Kosten. Im Übrigen erklärte er sich aufgrund der im Handelsvertretervertrag enthaltenen Schiedsklausel, die er für gültig hielt, für die Entscheidung über die Schadensersatzklage der Unamar für unzuständig. Er war nämlich der Ansicht, dass das Gesetz über den Handelsvertretervertrag kein zwingendes Recht sei und auch nicht im Sinne von Art. 7 des Übereinkommens von Rom zum zwingenden belgischen internationalen Recht gehöre. Außerdem gewähre das von den Parteien gewählte bulgarische Recht Unamar als Schiffsagentin von NMB ebenfalls den in der Richtlinie 86/653 vorgesehenen Schutz, auch wenn die Richtlinie nur einen Mindestschutz vorsehe. Unter diesen Umständen habe der Grundsatz der Vertragsautonomie der Parteien Vorrang, so dass das bulgarische Recht anzuwenden sei.
25. Die Unamar legte gegen dieses Urteil des Hof van beroep te Antwerpen Kassationsbeschwerde ein. Laut der Vorlageentscheidung ist der Hof van Cassatie der Ansicht, dass sich aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes über den Handelsvertretervertrag ergebe, dass die Art. 18, 20 und 21 dieses Gesetzes wegen des zwingenden Charakters der Richtlinie 86/653, die mit diesem Gesetz in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sei, als zwingendes Recht anzusehen seien. Aus Art. 27 dieses Gesetzes ergebe sich nämlich, dass dieses Gesetz das Ziel verfolge, Handelsvertretern mit Hauptniederlassung in Belgien ungeachtet des auf den Vertrag anwendbaren Rechts den Schutz der zwingenden Bestimmungen des belgischen Rechts zu bieten.
26. Der Hof van Cassatie hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind - auch unter Berücksichtigung der Qualifizierung der fraglichen Art. 18, 20 und 21 des Gesetzes über den Handelsvertretervertrag nach belgischem Recht als besondere, zwingende Vorschriften im Sinne von Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom - die Art. 3 und 7 Abs. 2 dieses Übereinkommens, gegebenenfalls in Verbindung mit der Richtlinie 86/653, dahin auszulegen, dass sie die Anwendung der besonderen, zwingenden Vorschriften des Rechts des Staates des angerufenen Gerichts, die einen umfassenderen Schutz als den nach der Richtlinie 86/653 vorgeschriebenen Mindestschutz bieten, auf diesen Vertrag gestatten, auch wenn sich herausstellt, dass für den Vertrag das Recht eines anderen EU-Mitgliedstaats gilt, in das ebenfalls der Mindestschutz der Richtlinie 86/653 umgesetzt worden ist?
Zur Vorlagefrage
27. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach dem am 1. August 2004 in Kraft getretenen Ersten Protokoll zum Übereinkommen von Rom für die Entscheidung über das vorliegende, dieses Übereinkommen betreffende Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist. Gemäß Art. 2 Buchst. a dieses Protokolls kann der Hof van Cassatie nämlich eine Frage, die in einem bei ihm anhängigen Verfahren aufgeworfen wird und sich auf die Auslegung von Bestimmungen des Übereinkommens von Rom bezieht, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen.
28. Außerdem hat das vorlegende Gericht, obwohl die Frage der Zuständigkeit für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits vor dem erstinstanzlichen und dem Berufungsgericht streitig war, den Gerichtshof lediglich zu dem auf den Vertrag anwendbaren Recht befragt und hält sich demnach nach Art. II Abs. 3 des am 10. Juni 1958 in New York unterzeichneten Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche für die Entscheidung des Rechtsstreits für zuständig. Nach ständiger Rechtsprechung ist es ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu übernehmen hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind (Urteil vom 19. Juli 2012, Garkalns, C-470/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung). Mit der Beantwortung der vorgelegten Frage durch den Gerichtshof soll der Entscheidung über die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit somit nicht vorgegriffen werden.
29. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 3 und 7 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom in dem Sinne auszulegen sind, dass das von den Parteien eines Handelsvertretervertrags gewählte Recht eines Mitgliedstaats, das den durch die Richtlinie 86/653 vorgeschriebenen Mindestschutz gewährt, von dem angerufenen Gericht eines anderen Mitgliedstaats zugunsten der lex fori mit der Begründung unangewendet gelassen werden kann, dass die Vorschriften über selbständige Handelsvertreter in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats zwingenden Charakter haben.
30. Die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft zwar keinen Vertrag über den Ver- oder Ankauf von Waren, sondern einen Handelsvertretervertrag über den Betrieb eines Seeverkehrsdienstes, so dass die Richtlinie 86/653 den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unmittelbar regelt; der belgische Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie in innerstaatliches Recht jedoch entschieden, diese beiden Arten von Fällen gleich zu behandeln (vgl. entsprechend Urteile vom 16. März 2006, Poseidon Chartering, C-3/04, Slg. 2006, I-2505, Randnr. 17, und vom 28. Oktober 2010, Volvo Car Germany, C-203/09, Slg. 2010, I-10721, Randnr. 26). Im Übrigen hat der bulgarische Gesetzgeber, wie in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ebenfalls entschieden, auf einen mit der Vermittlung und dem Abschluss von Geschäften betrauten Handelsvertreter wie den des Ausgangsverfahrens die Bestimmungen der Richtlinie anzuwenden.
31. Nach ständiger Rechtsprechung besteht, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten, um insbesondere Diskriminierungen oder etwaige Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, ein unbestreitbares Interesse daran, dass zur Vermeidung künftiger Auslegungsdivergenzen die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewendet werden sollen, einheitlich ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 1997, Leur-Bloem, C-28/95, Slg. 1997, I-4161, Randnr. 32, sowie Poseidon Chartering, Randnr. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob ein nationales Gericht nach Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom das von den Vertragsparteien gewählte Recht eines Mitgliedstaats, in das die zwingenden Vorschriften des Unionsrechts umgesetzt wurden, zugunsten des Rechts eines anderen Mitgliedstaats - das Recht des Staates des angerufenen Gerichts, das in dieser Rechtsordnung als zwingend angesehen wird - unangewendet lassen kann.
33. Die NMB ist der Ansicht, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass das Gesetz über den Handelsvertretervertrag den Ausgangsrechtsstreit im Sinne von Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom „zwingend regel[e]", da dieser Rechtsstreit einen Bereich betreffe, der unter die Richtlinie 86/653 falle, und das von den Parteien gewählte Recht gerade das Recht eines anderen Mitgliedstaats der Union sei, der ebenfalls diese Richtlinie in sein innerstaatliches Recht umgesetzt habe. Es widerspreche somit den Grundsätzen der Vertragsautonomie der Parteien und der Rechtssicherheit, wenn unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens das bulgarische Recht zugunsten des belgischen Rechts unangewendet bleibe.
34. Die belgische Regierung ist der Auffassung, dass die Vorschriften des Gesetzes über den Handelsvertretervertrag zwingenden Charakter hätten und als zwingende Vorschriften qualifiziert werden könnten. Sie führt insoweit aus, dass dieses Gesetz zwar zur Umsetzung der Richtlinie 86/653 erlassen worden sei, den Begriff „Handelsvertreter" jedoch insoweit weiter gefasst habe als die Richtlinie, als von diesem Gesetz jeder Handelsvertreter erfasst werde, der damit betraut werde, „Geschäfte zu vermitteln und gegebenenfalls Geschäfte abzuschließen". Die belgische Regierung hat in ihren Erklärungen ferner darauf hingewiesen, dass mit diesem Gesetz die Möglichkeiten einer Entschädigung des Handelsvertreters im Fall einer Beendigung seines Vertrags erweitert worden seien, weshalb der Ausgangsrechtsstreit nach dem belgischen Recht zu beurteilen sei.
35. Die Europäische Kommission macht im Wesentlichen geltend, dass die einseitige Berufung auf zwingende Vorschriften durch einen Staat jedenfalls den Grundsätzen widerspreche, die dem Übereinkommen von Rom zugrunde lägen, insbesondere der Grundregel, dass das von den Parteien vertraglich vereinbarte Recht Vorrang habe, sofern es sich dabei um das Recht eines Mitgliedstaats handle, der die betroffenen zwingenden Vorschriften des Unionsrechts in sein innerstaatliches Recht übernommen habe. Die Mitgliedstaaten könnten daher diesem grundlegenden Prinzip nicht zuwiderhandeln, indem sie systematisch ihre nationalen Vorschriften als zwingend bezeichneten, es sei denn, diese beträfen ausdrücklich ein wichtiges Interesse.
36. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Richtlinie 86/653 die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien eines Handelsvertretervertrags zum Ziel hat (Urteile vom 30. April 1998, Bellone, C-215/97, Slg. 1998, I-2191, Randnr. 10, vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali, C-465/04, Slg. 2006, I-2879, Randnr. 18, und vom 26. März 2009, Semen, C-348/07, Slg. 2009, I-2341, Randnr. 14).
37. Nach der zweiten Begründungserwägung dieser Richtlinie dienen die von dieser vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen nämlich u. a. der Aufhebung der Beschränkungen der Ausübung des Handelsvertreterberufs, der Vereinheitlichung der Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Union und der Stärkung der Sicherheit im Handelsverkehr (Urteil vom 9. November 2000, Ingmar, C-381/98, Slg. 2000, I-9305, Randnr. 23).
38. Nach ständiger Rechtsprechung können ferner u. a. nationale Vorschriften, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in ein dazu vorgesehenes Register abhängig machen, den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen Parteien in verschiedenen Mitgliedstaaten erheblich erschweren und widersprechen insoweit den Zielen der Richtlinie 86/653 (vgl. in diesem Sinne Urteil Bellone, Randnr. 17).
39. Den Art. 17 und 18 dieser Richtlinie kommt insofern entscheidende Bedeutung zu, denn sie definieren das Schutzniveau, das der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Schaffung des Binnenmarkts für die Handelsvertreter für angemessen hielt.
40. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist diese Regelung der Richtlinie 86/653 zwingendes Recht. Art. 17 dieser Richtlinie verpflichtet nämlich die Mitgliedstaaten, eine Regelung für die Entschädigung der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses einzurichten. Dieser Artikel lässt den Mitgliedstaaten zwar die Wahl zwischen einer Ausgleichs- und einer Schadensersatzregelung, die Art. 17 und 18 der genannten Richtlinie legen jedoch den Rahmen genau fest, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Methoden zur Berechnung des zu leistenden Ausgleichs oder Schadensersatzes haben. Außerdem können die Parteien nach Art. 19 dieser Richtlinie vor Ablauf des Vertrags nicht zum Nachteil des Handelsvertreters von diesen Bestimmungen abweichen (Urteil Ingmar, Randnr. 21).
41. Was die Frage anbelangt, ob ein nationales Gericht das von den Parteien gewählte Recht zugunsten seines nationalen Rechts, mit dem die Art. 17 und 18 der Richtlinie 86/653 umgesetzt wurden, unangewendet lassen kann, ist auf Art. 7 des Übereinkommens von Rom zu verweisen.
42. Art. 7 („Zwingende Vorschriften") dieses Übereinkommens nennt in Abs. 1 die zwingenden Bestimmungen des ausländischen Rechts und in Abs. 2 die zwingenden Bestimmungen des Rechts des Staates des angerufenen Gerichts.
43. Gemäß Art. 7 Abs. 1 des genannten Übereinkommens kann somit der Staat des angerufenen Gerichts die zwingenden Bestimmungen des Rechts eines anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, anstelle des auf den Vertrag anwendbaren Rechts anwenden. Bei der Entscheidung, ob diesen zwingenden Bestimmungen Wirkung zu verleihen ist, sind ihre Natur und ihr Gegenstand sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder ihrer Nichtanwendung ergeben würden.
44. Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens lässt die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Bestimmungen zu, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln.
45. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass gemäß Art. 7 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom die Anwendung zwingender Bestimmungen eines ausländischen Rechts durch ein nationales Gericht nur unter ausdrücklich festgelegten Bedingungen erfolgen kann, während der Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 dieses Übereinkommens nicht ausdrücklich besondere Bedingungen für die Anwendung der zwingenden Bestimmungen des Rechts des Staates des angerufenen Gerichts vorsieht.
46. Die Möglichkeit, sich nach Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom auf das Bestehen zwingender Vorschriften zu berufen, ändert jedoch nichts daran, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, dass diese Vorschriften mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nimmt nämlich die Tatsache, dass nationale Vorschriften zur Kategorie der Polizei- und Sicherheitsgesetze gehören, diese nicht von der Beachtung der Bestimmungen des Vertrags aus; andernfalls würden der Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts missachtet. Die Motive, die derartigen nationalen Rechtsvorschriften zugrunde liegen, können vom Unionsrecht nur als Ausnahmen von den im Vertrag ausdrücklich vorgesehenen Freiheiten und gegebenenfalls als zwingende Gründe des Allgemeininteresses berücksichtigt werden (Urteil vom 23. November 1999, Arblade u. a., C-369/96 und C-376/96, Slg. 1999, I-8453, Randnr. 31).
47. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Qualifizierung von nationalen Vorschriften durch einen Mitgliedstaat als Polizei- und Sicherheitsgesetze auf die Vorschriften abzielt, deren Einhaltung als so entscheidend für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation des betreffenden Mitgliedstaats angesehen wird, dass ihre Beachtung für alle Personen, die sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befinden, und für jedes dort lokalisierte Rechtsverhältnis vorgeschrieben wird (Urteile Arblade u. a., Randnr. 30, und vom 19. Juni 2008, Kommission/Luxemburg, C-319/06, Slg. 2008, I-4323, Randnr. 29).
48. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 der Rom-I-Verordnung, der auf den Ausgangsrechtsstreit jedoch in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist. Gemäß diesem Artikel ist nämlich eine Eingriffsnorm eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.
49. Um dem Grundsatz der Vertragsautonomie der Parteien, dem Eckstein des Übereinkommens von Rom, der in der Rom-I-Verordnung übernommen wurde, volle Wirksamkeit zu verleihen, muss somit nach Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom dafür gesorgt werden, dass die freie Entscheidung der Vertragsparteien hinsichtlich des im Rahmen ihrer Vertragsbeziehung anwendbaren Rechts respektiert wird; die in Art. 7 Abs. 2 dieses Übereinkommens genannte Ausnahme aufgrund des Bestehens einer „zwingenden Vorschrift" im Sinne des Rechts des betroffenen Mitgliedstaats ist daher eng auszulegen.
50. Das nationale Gericht muss somit im Rahmen seiner Prüfung des „zwingenden" Charakters der nationalen Vorschriften, die es anstelle des ausdrücklich von den Vertragsparteien gewählten Rechts anzuwenden gedenkt, nicht nur den genauen Wortlaut dieser Vorschriften, sondern auch die allgemeine Systematik sowie sämtliche Umstände, unter denen diese Vorschriften erlassen wurden, berücksichtigen, um zu dem Schluss gelangen zu können, dass es sich insoweit um zwingende Vorschriften handelt, als der nationale Gesetzgeber sie offenbar erlassen hat, um ein von dem betroffenen Mitgliedstaat als wesentlich angesehenes Interesse zu schützen. Wie die Kommission ausgeführt hat, könnte ein solcher Fall vorliegen, wenn die Umsetzung der Richtlinie im Staat des angerufenen Gerichts durch eine Ausweitung ihres Anwendungsbereichs oder durch die Entscheidung für eine erweiterte Nutzung des in der Richtlinie vorgesehenen Ermessensspielraums aufgrund der besonderen Bedeutung, die der Mitgliedstaat den Handelsvertretern beimisst, einen stärkeren Schutz dieser Kategorie von Staatsangehörigen bietet.
51. Im Rahmen dieser Prüfung ist jedoch, um weder die mit der Richtlinie 86/653 beabsichtigte Harmonisierungswirkung noch die einheitliche Anwendung des Übereinkommens von Rom auf Unionsebene zu beeinträchtigen, zu berücksichtigen, dass anders als bei dem Vertrag, um den es in der Rechtssache ging, in der das Urteil Ingmar ergangen ist und in der das unangewendet gebliebene Recht das Recht eines Drittstaats war, im Rahmen des Ausgangsverfahrens das Recht, das zugunsten des Rechts des Staates des angerufenen Gerichts unangewendet bliebe, das eines anderen Mitgliedstaats wäre, der nach Ansicht aller Beteiligten sowie des vorlegenden Gerichts die Richtlinie 86/653 korrekt umgesetzt hat.
52. Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Art. 3 und 7 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom in dem Sinne auszulegen sind, dass das von den Parteien eines Handelsvertretervertrags gewählte Recht eines Mitgliedstaats der Union, das den durch die Richtlinie 86/653 vorgeschriebenen Mindestschutz gewährt, von dem angerufenen Gericht eines anderen Mitgliedstaats nur dann zugunsten der lex fori mit der Begründung, dass die Vorschriften über selbständige Handelsvertreter in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats zwingenden Charakter haben, unangewendet gelassen werden kann, wenn das angerufene Gericht substantiiert feststellt, dass der Gesetzgeber des Staates dieses Gerichts es im Rahmen der Umsetzung dieser Richtlinie für unerlässlich erachtet hat, dem Handelsvertreter in der betreffenden Rechtsordnung einen Schutz zu gewähren, der über den in der genannten Richtlinie vorgesehenen hinausgeht, und dabei die Natur und den Gegenstand dieser zwingenden Vorschriften berücksichtigt.
Kosten
53. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.