BGH: Zur Anfechtbarkeit von AG-Beschlüssen
BGH, Versäumnisurteil vom 11.7.2023 – II ZR 98/21
ECLI:DE:BGH:2023:110723UIIZR98.21.0
Volltext:BB-ONLINE BBL2023-1985-2
Amtliche Leitsätze
a) Beschlüsse einer Aktiengesellschaft, die gegen körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen verstoßen und bei denen die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht eingehalten werden, sind jedenfalls anfechtbar.
b) Ist die Anfechtungsklage zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung für und gegenüber jedermann, keiner Festlegung, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt.
AktG §§ 241, 243 Abs. 1
Sachverhalt
Die Kläger sind Aktionäre der Beklagten, einer nicht börsennotierten Aktiengesellschaft. § 21 Abs. 1 der Satzung der Beklagten lautete in der am 20. Dezember 2019 gültigen Fassung:
"Der Vorstand hat in den ersten drei Monaten des Geschäftsjahres für das vergangene Geschäftsjahr den Jahresabschluss (Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung sowie Anhang) und den Lagebericht aufzustellen und dem Abschlussprüfer vorzulegen. Unverzüglich nach Eingang des Prüfungsberichts des Abschlussprüfers hat der Vorstand den Jahresabschluss, den Lagebericht des Vorstandes und den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers dem Aufsichtsrat mit einem Vorschlag über die Verwendung des Bilanzgewinnes vorzulegen."
In 2019 wurden die Jahresabschlüsse und Lageberichte für die Jahre 2017 und 2018 auf Antrag des Vorstands der Beklagten aufgrund gerichtlicher Bestellung eines Abschlussprüfers nachträglich geprüft, wodurch sich für 2017 eine Erhöhung des Jahresfehlbetrags von 20.714,30 € auf 38.365,58 € ergab. Für die Jahre vor 2017 fand eine Abschlussprüfung nicht statt.
Auf der Hauptversammlung vom 20. Dezember 2019 wurde neben einer Änderung von § 21 der Satzung der Beklagten, mit der die Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht zukünftig in das Ermessen des Vorstands gestellt wurde, zu TOP 9 mit 482.778 Ja- zu 10.506 Nein-Stimmen Folgendes beschlossen:
"Soweit nach § 21 der Satzung in ihrer derzeitig gültigen Fassung eine Prüfung von Jahresabschlüssen sowie Lageberichten verpflichtend vorgeschrieben ist, wird auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse sowie der Lageberichte für bereits abgeschlossene Geschäftsjahre verzichtet, soweit keine gesetzliche Prüfpflicht besteht."
Die Kläger stimmten dagegen und erklärten Widerspruch gegen den Beschluss zur Niederschrift des notariellen Protokolls.
Das Landgericht hat auf die gegen drei weitere Beschlüsse gerichtete Klage auf Nichtigerklärung, hilfsweise Feststellung der Nichtigkeit und äußerst hilfsweise Feststellung der Unwirksamkeit nur den Beschluss zu TOP 5 betreffend die Änderung der Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder für nichtig erklärt. Das Berufungsgericht hat die zuletzt auf den Angriff gegen die Beschlussfassung zu TOP 9 beschränkte Berufung der Kläger zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Berufung insoweit weiter.
Aus den Gründen
6 Die Revision der Kläger hat Erfolg. Der von der Hauptversammlung der Beklagten am 20. Dezember 2019 zu TOP 9 gefasste Beschluss, mit dem auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse und der Lageberichte für die zum Zeitpunkt der Beschlussfassung bereits abgeschlossenen Geschäftsjahre vor 2017 verzichtet worden ist, ist nichtig, weil er gegen die Satzung der Beklagten verstößt. Die Entscheidung ergeht durch Versäumnisurteil, da die Beklagte in der mündlichen Verhandlung trotz rechtzeitiger Ladung zum Termin nicht ordnungsgemäß vertreten war. Sie beruht aber inhaltlich auf einer Sachprüfung (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 1962 - V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 81).
7 I. Das Berufungsgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
8 Der Beschluss zu TOP 9 sei weder nichtig noch unwirksam. Die ungeprüft gebliebenen Jahresabschlüsse seien nicht wegen Verstoßes gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG nichtig, da die Beklagte für die Geschäftsjahre 2016 und früher nicht gesetzlich zur Prüfung der Jahresabschlüsse durch einen Abschlussprüfer verpflichtet gewesen sei. Es komme auch nicht darauf an, ob die Hauptversammlung in der Vergangenheit wirksam eine Änderung der Satzungsbestimmung betreffend die Durchführung von Abschlussprüfungen beschlossen habe. Eine rückwirkende Aufhebung oder Durchbrechung von § 21 der Satzung der Beklagten in der im Zeitpunkt des Beschlusses gültigen Fassung liege nämlich nicht vor. Vielmehr habe die Hauptversammlung nur darüber abzustimmen gehabt, wie im Nachhinein mit dem Jahre zurückliegenden Versäumnis des Vorstands und des Aufsichtsrats, § 21 nicht eingehalten zu haben, umzugehen sei. Die Entscheidung, die Prüfung der Jahresabschlüsse vor 2017 nicht nachzuholen, sei dabei nicht zu beanstanden. Die Nachholung wäre kostenaufwändig und erscheine insbesondere nach Prüfung der Jahresabschlüsse für 2017 und 2018 entbehrlich. Die damaligen Leitungsorgane seien nicht mehr im Unternehmen tätig und könnten den Prüfern keine ergänzenden Informationen zu den weit zurückliegenden Zeiträumen zur Verfügung stellen. Offensichtlich habe kein Gesellschaftsorgan seinerzeit Anlass gesehen, die gegen die Satzung verstoßende Praxis zu beanstanden. Folglich habe der angegriffene Beschluss keinen eigenen Regelungsgehalt.
9 II. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
10 1. Allerdings geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass die ungeprüft gebliebenen Jahresabschlüsse nicht wegen Verstoßes gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG nichtig sind und daher der zu TOP 9 beschlossene Verzicht auf die Abschlussprüfung nicht gesetzeswidrig ist. § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG ist auf die nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im maßgebenden Zeitraum für die Beklagte nur satzungsmäßig bestehende Prüfungspflicht nicht anwendbar.
11 2. Der Beschluss zu TOP 9 ist jedenfalls infolge der Anfechtung durch die Kläger für nichtig zu erklären, weil er gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 der Satzung der Beklagten in der im Zeitpunkt des Beschlusses gültigen Fassung (im Folgenden: § 21 aF) verstößt (§ 243 Abs. 1 AktG). Die von den Klägern erhobene Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.
12 a) Die Anfechtungsklage ist gemäß § 246 Abs. 1 AktG, § 167 ZPO rechtzeitig, nämlich binnen eines Monats nach der Beschlussfassung, erhoben worden und richtet sich gemäß § 246 Abs. 2 Satz 1 AktG gegen die Gesellschaft, die gemäß § 246 Abs. 2 Satz 2 AktG gemeinsam durch Vorstand und Aufsichtsrat vertreten wird. Die Kläger sind als Aktionäre gemäß § 245 Nr. 1 AktG anfechtungsbefugt, da sie in der Hauptversammlung der Beklagten vom 20. Dezember 2019 ordnungsgemäß vertreten waren und gegen den angegriffenen Beschluss Widerspruch zur Niederschrift des Notars erklärt haben.
13 b) Der Beschluss zu TOP 9 verstößt gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 aF der Satzung der Beklagten. Danach hat der Vorstand in den ersten drei Monaten des Geschäftsjahres Jahresabschluss sowie Lagebericht aufzustellen und dem Abschlussprüfer vorzulegen. Mit dem angegriffenen Beschluss zu TOP 9 wird im Widerspruch dazu auf eine Abschlussprüfung für die Geschäftsjahre vor 2017 verzichtet. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verstößt der Hauptversammlungsbeschluss damit inhaltlich gegen die Satzung und erschöpft sich nicht darin zu entscheiden, wie nachträglich mit dem Jahre zurückliegenden Verstoß gegen § 21 aF der Satzung durch die Verwaltung umgegangen werden sollte.
14 An der Satzungsverletzung ändert sich nichts dadurch, dass der Vorstand der Beklagten eine satzungswidrige Praxis etabliert hatte, indem er Jahresabschluss und Lagebericht entgegen § 21 Abs. 1 Satz 1 aF der Satzung nicht dem Abschlussprüfer vorgelegt hat. Denn das satzungswidrige Verhalten des Vorstands bleibt ohne Auswirkung auf die Verbindlichkeit oder den Inhalt der geltenden Satzung. Die Satzung kann nicht faktisch geändert werden (vgl. BeckOGK AktG/Holzborn, Stand 1.7.2022, § 179 Rn. 57; Koch, AktG, 17. Aufl., § 179 Rn. 9; MünchKommAktG/Stein, 5. Aufl., § 179 Rn. 44 mwN; Strohn in Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 179 AktG Rn. 8; für die GmbH BeckOGK/Born, Stand 1.6.2022, GmbHG § 53 Rn. 86 ff.).
15 Die zeitgleich auf der Hauptversammlung vom 20. Dezember 2019 beschlossene Änderung von § 21 der Satzung der Beklagten kann bereits deshalb keinen Einfluss auf die vorliegende Beschlussprüfung haben, weil diese sich ausdrücklich nur auf zukünftige Geschäftsjahre bezog.
16 c) Der Verzicht auf die Abschlussprüfungen für die Jahre vor 2017 ist nicht unter dem Gesichtspunkt einer - durch den mit satzungsändernder Mehrheit gefassten Beschluss zu TOP 9 legitimierten - sog. punktuellen Satzungsdurchbrechung wirksam.
17 aa) Eine einen Einzelfall regelnde Satzungsdurchbrechung (begriffsprägend Ueberfeldt, Satzungsänderung und Satzungsdurchbrechung im Vereinsrecht und Aktienrecht, 1934, S. 9) ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Grundsatz auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen einer Satzungsänderung möglich, wenn sie sich auf eine punktuelle Regelung beschränkt, bei der sich die Wirkung des Beschlusses in der betreffenden Maßnahme erschöpft (BGH, Urteil vom 20. August 2019 - II ZR 121/16, ZIP 2019, 1805 Rn. 24; vgl. schon BGH, Urteil vom 25. Januar 1960 - II ZR 22/59, BGHZ 32, 17, 29; jeweils zur GmbH). Punktuelle Satzungsdurchbrechungen bleiben aber anfechtbar (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2002 - II ZR 69/01, ZIP 2003, 116, 118; Urteil vom 10. Mai 2016 - II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rn. 17; BFHE 278, 231 Rn. 23, 31; jeweils zur GmbH; zur Aktiengesellschaft vgl. OLG Frankfurt, ZIP 2007, 1463, 1464; nachfolgend BGH, Urteil vom 16. Februar 2009 - II ZR 185/07, BGHZ 180, 9 Rn. 30; Urteil vom 9. Oktober 2018 - II ZR 78/17, BGHZ 220, 36 Rn. 47). Zustandsbegründende Satzungsdurchbrechungen, bei denen die Abweichung von der Satzung Dauerwirkung entfaltet, sind hingegen nichtig, wenn die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht eingehalten werden (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 1981 - II ZR 25/80, ZIP 1981, 1205, 1206; Urteil vom 7. Juni 1993 - II ZR 81/92, BGHZ 123, 15, 19; Urteil vom 2. Juli 2019 - II ZR 406/17, BGHZ 222, 323 Rn. 70; jeweils zur GmbH).
18 bb) Sowohl das Bedürfnis, neben der Satzungsänderung (§§ 179 ff. AktG) und der Satzungsverletzung (§ 243 Abs. 1 AktG) die Rechtsfigur der Satzungsdurchbrechung zu erhalten, als auch die Unterscheidung zwischen punktuell und zustandsbegründend werden insbesondere für das Aktienrecht in Frage gestellt (vgl. ausführlich zum Meinungsstand Koch, AktG, 17. Aufl., § 179 Rn. 7 ff; zum Meinungsstand in der GmbH vgl. Hoffmann/Bartlitz in Michalski/Heidinger/ Leible/J. Schmidt, GmbHG, 4. Aufl., § 53 Rn. 44 ff., 57 ff.). Einer näheren Auseinandersetzung damit bedarf es vorliegend angesichts der zulässig erhobenen Anfechtungsklage nicht. Denn für die Aktiengesellschaft wird nach ganz herrschender Auffassung jedenfalls die Anfechtbarkeit, wenn nicht bereits die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit eines wie hier gegen eine körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmung verstoßenden und nicht in das Handelsregister eingetragenen Hauptversammlungsbeschlusses angenommen. Ist die Anfechtungsklage zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung für und gegenüber jedermann (BGH, Urteil vom 26. Januar 2021 - II ZR 391/18, ZIP 2021, 459 Rn. 21 mwN), keiner Festlegung, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt (vgl. schon BGH, Urteil vom 25. November 2002 - II ZR 69/01, ZIP 2003, 116, 118 zur GmbH).
19 III. Die Berufungsentscheidung ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann selbst in der Sache entscheiden, da die Aufhebung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).
20 IV. Rechtsbehelfsbelehrung: Gegen dieses Versäumnisurteil kann die säumige Partei innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen, die mit der Zustellung des Versäumnisurteils beginnt, schriftlich Einspruch durch eine von einer beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwältin oder einem beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnete Einspruchsschrift beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a, 76133 Karlsruhe (Postanschrift: 76125 Karlsruhe) einlegen.