BGH: Zum Zurücktreten des das Insolvenzrecht beherrschenden Gleichbehandlungsgrundsatz hinter Individualinteressen einzelner Gläubiger
BGH, Urteil vom 9.3.2023 – IX ZR 150/21
ECLI:DE:BGH:2023:090323UIXZR150.21.0
Volltext: BB-Online BBL2023-962-4
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Amtlicher Leitsatz
Die allein auf die teilweise Erfüllung gestützte Erwartung, der Insolvenzverwalter werde auch die restliche Insolvenzforderung vollständig befriedigen, genügt nicht, um den das Insolvenzrecht beherrschenden Gleichbehandlungsgrundsatz hinter die Individualinteressen einzelner Gläubiger zurücktreten zu lassen.
InsO § 1; BGB § 242 A
Sachverhalt
Im April 2019 buchte der Kläger bei dem beklagten Luftfahrtunternehmen je einen Flug von Frankfurt am Main nach Kapstadt in Südafrika und von Kapstadt nach Frankfurt am Main. Er bezahlte den Flugpreis. Der Hinflug sollte am 10. März 2020 stattfinden, der Rückflug am 22. März 2020.
Am 1. Dezember 2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Die Beklagte setzte den Flugbetrieb danach fort. Am 10. März 2020 beförderte sie den Kläger, wie im April 2019 gebucht, nach Kapstadt. Der Rückflug von Kapstadt nach Frankfurt am Main am 22. März 2020 wurde hingegen wegen der Corona-Pandemie von der Beklagten annulliert. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten wurde, nachdem ein Insolvenzplan zustande gekommen war, mit Beschluss vom 26. November 2020 aufgehoben.
Der Kläger verlangt, soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse, Erstattung des auf den Rückflug entfallenden Teils der Flugscheinkosten nebst Zinsen. Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten wurde die Klage insoweit abgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision will der Kläger die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils erreichen.
Aus den Gründen
4 Die Revision bleibt ohne Erfolg.
I.
5 Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Dem Kläger stehe nur ein Anspruch auf Zahlung der im Insolvenzplan festgelegten Quote zu. Bei dem Anspruch aus Art. 8 Abs. 1 lit. a der Fluggastrechteverordnung handele es sich um einen gesetzlich begründeten Sekundäranspruch. Dieser stelle eine Masseverbindlichkeit dar, wenn die den Anspruch begründende Handlung, die Annullierung des Flugs, erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattgefunden habe. Im Zeitpunkt der Annullierung habe dem Kläger jedoch kein wirksamer Anspruch auf Beförderung mehr zugestanden, welcher Voraussetzung eines Erstattungsanspruchs sei. Der Beförderungsanspruch sei mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens untergegangen. Der Beförderungsvertrag unterfalle nicht § 103 InsO, weil der Kläger vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig vorgeleistet habe. Der Sachwalter sei folglich nicht befugt gewesen, den Vertrag gleichwohl zu erfüllen. Die irrige Annahme der Beklagten, hierzu verpflichtet zu sein, ändere daran nichts. Der Anspruch auf Beförderung habe sich mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 45 Satz 1 InsO in eine auf Geld gerichtete Forderung gewandelt. Dabei sei es geblieben. Auch der Hinflug habe keinen Anspruch auf einen Rückflug begründet. Die Zahlung der Planquote habe der Kläger nicht beantragt.
II.
6 Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.
7 1. Grundlage des Begehrens des Klägers ist Art. 5 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (fortan: Fluggastrechte-Verordnung oder FluggastrechteVO). Gemäß Art. 5 FluggastrechteVO werden den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 der FluggastrechteVO angeboten, darunter gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. a FluggastrechteVO die vollständige Erstattung der Flugscheinkosten.
8 2. Ein Erstattungsanspruch ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich der Beförderungsanspruch des Klägers gemäß § 45 InsO mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten in einen nur im Wege der Anmeldung zur Tabelle durchzusetzenden Zahlungsanspruch umgewandelt hätte. Insolvenzforderungen, die nicht auf Geld gerichtet sind, wandeln sich erst mit der Feststellung zur Tabelle in eine Geldforderung um, nicht bereits mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 - IX ZR 140/21, WM 2022, 1375 Rn. 8 ff). Der Kläger hat seinen Beförderungsanspruch nicht in Geld umgerechnet und zur Tabelle angemeldet. Der Anspruch ist auch nicht zur Tabelle festgestellt worden. Er ist damit nicht zu einer Geldforderung geworden, sondern ein Anspruch auf Beförderung geblieben.
9 3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs nach Art. 5 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 lit. a FluggastrechteVO sind für sich genommen erfüllt. Der Rückflug ist nach den für den Senat gemäß § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO bindenden tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts annulliert worden. Der Erstattungsanspruch des Klägers ist jedoch keine Masseverbindlichkeit, sondern eine Insolvenzforderung, die gemäß § 254 Abs. 1, § 254b InsO nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nur nach Maßgabe des Insolvenzplans geltend gemacht werden kann.
10 a) Dazu, ob ein Erstattungsanspruch nach Art. 5 Abs. 1 lit. a, Art. 8 Abs. 1 lit. a FluggastrechteVO eine Masseverbindlichkeit oder eine Insolvenzforderung darstellt, wenn der Flug vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Fluggesellschaft gebucht und bezahlt, der Flug aber erst nach der Eröffnung annulliert worden ist, gibt es keine spezialgesetzlichen Regelungen. Die Fluggastrechte-Verordnung sagt hierzu nichts. Auch im Übrigen gibt es keine europarechtlichen Vorschriften zur Qualifizierung von Forderungen gegen einen insolventen Schuldner. Vielmehr ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren, dass für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedsstaates gilt, in dessen Hoheitsgebiet das Verfahren eröffnet wird. Dies ist im Streitfall Deutschland, so dass allein das deutsche Recht maßgeblich ist (vgl. Ganter, NZI 2022, 696, 697). Das gilt entgegen der Ansicht von Staudinger/Krauß, jurisPR-IWR 5/2022 Anm. 2 auch dann, wenn ausschließlich auf die bestätigte Buchung abzustellen ist. Die Buchung als solche entfällt nicht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Welche Rechte nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Luftfahrtunternehmens aus ihr hergeleitet werden können, richtet sich jedoch nach dem anwendbaren Insolvenzrecht.
11 b) Ob ein Anspruch eine Insolvenzforderung oder eine Masseverbindlichkeit ist, richtet sich zunächst nach den Vorschriften der Insolvenzordnung, insbesondere nach den §§ 38, 54 f InsO. Ansprüche, die im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet waren, sind gemäß § 38 InsO Insolvenzforderungen, die nur nach den Vorschriften der Insolvenzordnung verfolgt werden können (§ 87 InsO). Die Beförderungsansprüche des Klägers sind vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten begründet worden und waren damit nur Insolvenzforderungen. Sekundäransprüche, die aus der Nichterfüllung insolvenzbedingt nicht durchsetzbarer Ansprüche folgen, begründen keine Masseverbindlichkeiten (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 - IX ZR 140/21, WM 2022, 1375 Rn. 16 ff; zustimmend Ganter, NZI 2022, 696, 697; Loszynski, EWiR 2022, 561, 562).
12 c) Die Fortsetzung des Flugbetriebs wertete die Insolvenzforderung des Klägers weder für sich genommen noch in Verbindung mit etwaigen Erklärungen der Beklagten, der Flugbetrieb werde fortgesetzt, zu Masseforderungen auf (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 - IX ZR 140/21, WM 2022, 1375 Rn. 22; zustimmend Ganter, NZI 2022, 696, 697; Loszynski, EWiR 2022, 561, 562). Entgegen Piekenbrock, WuB 2022, 393, 396 sind durch das genannte Verhalten der Beklagten keine Masseverbindlichkeiten in sonstiger Weise durch die Verwaltung der Insolvenzmasse begründet worden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 2 InsO). Die Beklagte mag andere Fluggäste, deren Beförderungsansprüche insolvenzbedingt nicht durchsetzbar waren, anstandslos befördert haben. Aus dem Verhalten gegenüber Dritten folgte jedoch keine Selbstbindung der Beklagten gegenüber dem Kläger (vgl. Ganter, NZI 2022, 696, 697).
13 d) Der Umstand, dass die Beklagte den Hinflug ausgeführt hat, nicht aber den Rückflug, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung.
14 aa) Die Erfüllung einer Insolvenzforderung aus der Masse führt nicht zu einer Aufwertung der Insolvenzforderung zu einer Masseforderung. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Konkurs- und zur Vergleichsordnung kann der Verwalter vielmehr Zahlungen, die er an einen Insolvenzgläubiger in der Annahme leistet, eine Masseverbindlichkeit zu erfüllen, nach § 812 BGB als rechtsgrundlos zurückfordern (RGZ 23, 54, 60 ff; BGH, Urteil vom 11. Mai 1978 - VII ZR 55/77, BGHZ 71, 309, 312 f; ebenso OLG Brandenburg, WM 2002, 974, 975; LG Düsseldorf, ZInsO 2001, 1168, 1169; Jaeger/Henckel, InsO, § 53 Rn. 28; MünchKomm-InsO/Hefermehl, 4. Aufl., § 53 Rn. 49; Uhlenbruck/Sinz, InsO, 15. Aufl., § 53 Rn. 5; Braun/Bäuerle, InsO, 9. Aufl., § 53 Rn. 12; MünchKomm-BGB/Schwab, 8. Aufl., § 812 Rn. 341; aA LG Stuttgart, ZIP 1985, 1518 f). Erfüllt der Verwalter wissentlich eine Insolvenzforderung, ist eine Rückforderung gemäß § 814 BGB ausgeschlossen; an der auf § 38 InsO beruhenden Einordnung der Forderung als Insolvenzforderung ändert sich jedoch nichts. Gleiches gilt für die Erfüllung von Ansprüchen, die nicht auf Geld gerichtet sind.
15 bb) Die teilweise Erfüllung einer Insolvenzforderung lässt nicht nur die Rechtsnatur des erfüllten Teils der Forderung unberührt, sondern wirkt sich auch nicht auf den nicht erfüllten Teil der Forderung aus (vgl. BGH, Urteil vom 17. September 2020 - IX ZR 62/19, WM 2020, 1916 Rn. 17). Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Der Kläger mag auf die Erfüllung seiner Beförderungsansprüche vertraut haben. Das allein reicht jedoch für eine Aufwertung einer Insolvenzforderung zu einer Masseverbindlichkeit nicht aus. Die Einordnung einer Forderung als Insolvenzforderung oder Masseverbindlichkeit betrifft nicht nur den jeweiligen Insolvenzgläubiger, sondern auch die übrigen Insolvenzgläubiger, deren Quoten sich entsprechend erhöhen oder verringern. Die allein auf die teilweise Erfüllung gestützte Erwartung, der Insolvenzverwalter werde auch die restliche Insolvenzforderung vollständig befriedigen, genügt nicht, um den das Insolvenzrecht beherrschenden Gleichbehandlungsgrundsatz hinter die Individualinteressen einzelner Gläubiger zurücktreten zu lassen.
16 e) Die Beförderungsansprüche des Klägers und die damit verbundenen Rechte aus der bestätigten Buchung sind schließlich auch nicht aufgrund einer Vereinbarung der Parteien nachträglich zu Masseverbindlichkeiten geworden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 InsO). Wie der Senat an anderer Stelle näher ausgeführt hat, kann eine Insolvenzforderung durch Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Insolvenzgläubiger zu einer Masseverbindlichkeit werden (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2023 - IX ZR 90/22, zVb). Der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Kläger (vgl. RGZ 119, 21, 24; Erman/Dieckmann, BGB, 16. Aufl., § 311 Rn. 11) hat die tatsächlichen Voraussetzungen einer entsprechenden Vereinbarung jedoch nicht dargelegt. Er hat vielmehr behauptet, nichts von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten gewusst zu haben. Sonstige Umstände, die nach objektivem Empfängerhorizont für entsprechende bindende Willenserklärungen der Beklagten sprechen könnten, zeigt der Kläger nicht auf. Eine rechtsgeschäftliche Aufwertung der Insolvenz- zu Masseforderungen kann unter diesen Umständen nicht stattgefunden haben.
17 f) Soweit das Berufungsgericht angenommen hat, dass die Voraussetzungen, unter denen der Insolvenzplan eine Auszahlung der Quote vorsieht, derzeit nicht erfüllt sind, greift die Revision dies nicht an.