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Wirtschaftsrecht
28.04.2017
Wirtschaftsrecht
BGH: Zum Vorwurf grober Fahrlässigkeit des Anlegers im Zusammenhang mit der Zeichnung von Genussbeteiligungen

BGH, Versäumnisurteil vom 23.3.2017III ZR 93/16

ECLI:DE:BGH:2017:230317UIIIZR93.16.0

Volltext des Urteils: BB-ONLINE BBL2017-969-1

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Allein der Umstand, dass ein Anleger, dem nach Abschluss der Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung kurz der Zeichnungsschein zur Unterschrift vorgelegt wird, den Text des Scheins vor der Unterzeichnung nicht durchliest und deshalb nicht den Widerspruch zwischen der erfolgten Beratung und im Schein enthaltenen Angaben zur Anlage bemerkt, rechtfertigt für sich nicht den Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB.

BGB § 675 Abs. 1, § 199 Abs. 1 Nr. 2

Sachverhalt

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen Beratungspflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Zeichnung von Genussrechtsbeteiligungen an der inzwischen insolventen I. mbH (zuletzt H. GmbH) vom 19. August, 17. September und 6. Dezember 2007 geltend.

Das Landgericht hat der Klage nach Durchführung einer Beweisaufnahme im Wesentlichen stattgegeben. Hierbei ist der Einzelrichter, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, davon ausgegangen, dass die Beratung der Klägerin nicht anlegergerecht gewesen sei. Denn diese habe eine sichere Anlage für ihre Altersvorsorge gewollt. Die für die Beklagte tätige Beraterin K. habe die Beteiligungen als sicher und risikolos empfohlen, obwohl es sich um ein spekulatives Anlageprodukt mit bestehendem und sich vorliegend auch realisiertem Totalverlustrisiko gehandelt habe. Der Anspruch auf Schadensersatz sei nicht verjährt. Soweit sich im kleingedruckten Text der Zeichnungsscheine auch Risikohinweise befänden, stehe fest, dass die Klägerin den Text bei der Unterzeichnung nicht gelesen und deshalb die Diskrepanz zur erfolgten Beratung nicht erkannt habe. Das Verhalten der Klägerin sei insoweit allenfalls als normal fahrlässig einzustufen, sodass die Voraussetzungen des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB nicht vorlägen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, das Unterschreiben der Zeichnungsscheine ohne vorherige Lektüre des Inhalts sei grob fahrlässig. Hiergegen richtet sich die vom Senat beschränkt auf den Vorwurf der nicht anlegergerechten Beratung zugelassene Revision der Klägerin.

Aus den Gründen

4          Die Revision führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Hierbei war über das Rechtsmittel antragsgemäß durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Das Urteil beruht aber inhaltlich nicht auf der Säumnis der Beklagten, sondern auf der Berücksichtigung des gesamten Sach- und Streitstands (vgl. nur Senat, Versäumnisurteil vom 10. November 2016 - III ZR 235/15, WM 2017, 280 Rn. 18 mwN).

5          I. Das Berufungsgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen ausgeführt:

6          Die erstinstanzlichen Feststellungen zu Grund und Höhe des Anspruchs könnten dahinstehen, da die Klageforderung jedenfalls verjährt sei. Das Landgericht habe eine grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin von den anspruchsbegründenden Tatsachen im Jahre 2007 verneint, da keine Veranlassung oder Verpflichtung bestanden habe, die Zeichnungsscheine zu lesen. Diese Auffassung teile das Berufungsgericht nicht. In den Scheinen fänden sich Hinweise auf die Risiken der Anlage als Unternehmensbeteiligung. Es sei mit Rechtssicherheitsgesichtspunkten unvereinbar, wiederholt Verträge zu unterzeichnen und später dann deren Verbindlichkeit mit dem Hinweis zu leugnen, die Erklärungen nicht gelesen und mithin bewusst gegen eigene Interessen die Augen vor deren Inhalt verschlossen zu haben. Die Klägerin hätte die Scheine als Minimalanforderung der Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten lesen müssen. Dann wäre sofort der Widerspruch zum Inhalt der Beratung aufgefallen. Der Klägerin sei bewusst gewesen, dass sie sich zur Hingabe von Geld gegen Empfang eines Anlageprodukts verpflichtet habe. Die Scheine enthielten insoweit eine rechtsgeschäftliche Erklärung. Es gebe keinen Grund, die Unterschrift als unverbindlich und rechtsfolgenlos anzusehen. Ihre Willenserklärung müsse sich die Klägerin vielmehr ähnlich wie bei einer Blankounterschrift zurechnen lassen.

7          II. Das angefochtene Urteil hält im Umfang der beschränkten Revisionszulassung der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

8          1. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB liegt vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wie etwa dann, wenn sich dem Gläubiger die den Anspruch begründenden Umstände förmlich aufgedrängt haben. Dem Gläubiger muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung, eine schwere Form von „Verschulden gegen sich selbst“ vorgeworfen werden können. Sein Verhalten muss schlechthin „unverständlich“ beziehungsweise „unentschuldbar“ sein. Hierbei unterliegt die Feststellung, ob die Unkenntnis des Gläubigers von verjährungsauslösenden Umständen auf grober Fahrlässigkeit beruht, als Ergebnis tatrichterlicher Würdigung einer Überprüfung durch das Revisionsgericht dahingehend, ob der Streitstoff umfassend, widerspruchsfrei und ohne Verstoß gegen Denkgesetze, allgemeine Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften gewürdigt worden ist, und ob der Tatrichter den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt oder bei der Beurteilung des Grads des Verschuldens wesentliche Umstände außer Betracht gelassen hat (vgl. nur Senatsurteile vom 8. Juli 2010 - III ZR 249/09, BGHZ 186, 152 Rn. 27 f und vom 17. März 2016 - III ZR 47/15, WM 2016, 732 Rn. 10 f; jeweils mwN).

9          2. Die Würdigung des Oberlandesgerichts ist insoweit nicht frei von Rechtsfehlern.

10        Zwar handelt es sich bei der Zeichnung der Beteiligungen um rechtsverbindliche Willenserklärungen. Dies reicht aber für sich allein nicht aus, um zum Nachteil des Anlegers automatisch den Vorwurf grober Fahrlässigkeit bei unterlassener Lektüre des kleingedruckten Inhalts der Zeichnungsscheine zu rechtfertigen. Vielmehr darf insoweit der Kontext, in dem es zu den Zeichnungen gekommen ist, nicht ausgeblendet werden.

11        Im Rahmen der von einem Anlageberater geschuldeten anlegergerechten Beratung müssen die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Kunden berücksichtigt und insbesondere das Anlageziel, die Risikobereitschaft und der Wissensstand des Anlageinteressenten abgeklärt werden. Die empfohlene Anlage muss unter Berücksichtigung des Anlageziels auf die persönlichen Verhältnisse des Kunden zugeschnitten sein (vgl. nur Senat, Urteil vom 11. Dezember 2014 - III ZR 365/13, WM 2015, 128 Rn. 13 mwN). In Bezug auf das Anlageobjekt ist der Berater verpflichtet, den Kunden rechtzeitig, richtig und sorgfältig sowie verständlich und vollständig zu beraten. Insbesondere muss er den Interessenten über die Eigenschaften und Risiken unterrichten, die für die Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können (vgl. nur Senat, Urteil vom 18. Februar 2016 - III ZR 14/15, WM 2016, 504 Rn. 15 mwN). Insoweit besteht bei einem Anleger, der die besonderen Erfahrungen und Kenntnisse eines Beraters in Anspruch nimmt, die berechtigte Erwartung, dass er die für seine Entscheidung notwendigen Informationen in dem Gespräch mit dem Berater erhält. Der Anleger darf grundsätzlich auf die Ratschläge, Auskünfte und Mitteilungen, die der Berater ihm in der persönlichen Besprechung unterbreitet, vertrauen. Er muss regelmäßig nicht damit rechnen, dass er aus dem Text eines Zeichnungsscheins, der ihm nach Abschluss der Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung vorgelegt wird, substantielle Hinweise auf Eigenschaften und Risiken der Kapitalanlage erhält. Erst recht muss er nicht davon ausgehen, dass von ihm zur Vermeidung des Vorwurfs grober Fahrlässigkeit erwartet wird, den Text durchzulesen, um die erfolgte Beratung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die unterlassene Lektüre ist daher in einer solchen Situation für sich allein genommen nicht schlechthin „unverständlich“ oder „unentschuldbar“ und begründet deshalb im Allgemeinen kein in subjektiver und objektiver Hinsicht „grobes Verschulden gegen sich selbst“. Eine andere Beurteilung kann etwa dann in Betracht kommen, wenn der Berater den Anleger ausdrücklich darauf hinweist, er solle den Text vor Unterzeichnung durchlesen, und er dem Kunden die hierzu erforderliche Zeit lässt oder wenn in deutlich hervorgehobenen, ins Auge springenden Warnhinweisen auf etwaige Anlagerisiken hingewiesen wird oder wenn der Anleger auf dem Zeichnungsschein gesonderte Warnhinweise zusätzlich unterschreiben muss.

12        Der vom Landgericht aufgrund der Beweisaufnahme festgestellte konkrete Ablauf der Beratung der Klägerin bietet insoweit keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme grober Fahrlässigkeit. Hierbei war das Oberlandesgericht im Rahmen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die von der 1. Instanz festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründeten und eine erneute Feststellung geboten. Soweit einzelne Formulierungen im angefochtenen Urteil nahelegen, dass der Einzelrichter die Beweiswürdigung für zweifelhaft erachtet hat, hätte er die Beweisaufnahme wiederholen müssen (vgl. nur Senat, Beschluss vom 30. November 2011 - III ZR 165/11 Rn. 5 f, auch zu hier nicht einschlägigen Ausnahmen). Da dies nicht geschehen ist, musste er von dem Beweisergebnis ausgehen. Insoweit hat das Landgericht unter anderem festgestellt, dass die Zeugin K. im Anschluss an das Beratungsgespräch und die bereits getroffene Anlageentscheidung jeweils den Zeichnungsschein ausgefüllt und ihn der Klägerin dann nur noch zur Unterschrift vorgelegt hat, wobei keine Hinweise mehr erfolgten und keine Erörterung inhaltlicher Art mehr stattfand. Ein solcher Ablauf leuchtet auch unmittelbar ein. Denn da die Zeugin selbst eingeräumt hat, die Klägerin unzutreffend beraten zu haben, hatte sie keinerlei Interesse daran, dass die Klägerin zeitlich ausreichend Gelegenheit erhielt, den kleingedruckten Text im Einzelnen zu lesen. Wird in einer solchen Situation der Schein nur kurz zur Unterschrift und nicht länger zur eingehenden Lektüre vorgelegt, kann im Kontext der Zeichnungen nicht von grober Fahrlässigkeit gesprochen werden.

13        3. Da die verjährungsrechtliche Begründung des Berufungsgerichts das angefochtene Urteil nicht trägt, ist die Entscheidung aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

 

 

 

 

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