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Wirtschaftsrecht
26.10.2017
Wirtschaftsrecht
EuGH: Zum Unlauteren des Verbots von Verlustverkäufen

EuGH (5. Kammer), Urteil vom 19.10.2017 – C-295/16, Europamur Alimentación SA gegen Dirección General de Comercio y Protección del Consumidor de la Comunidad Autónoma de la Región de Murcia

ECLI:EU:C:2017:782

Volltext: BB-Online BBL2017-2563-1

Tenor

Die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die ein allgemeines Verbot enthält, Waren mit Verlust zum Kauf anzubieten oder zu verkaufen, und für dieses Verbot Ausnahmetatbestände vorsieht, die auf Kriterien beruhen, die in dieser Richtlinie nicht vorgesehen sind.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22, berichtigt im ABl. 2009, L 253, S. 18).

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Europamur Alimentación SA (im Folgenden: Europamur) und der Dirección General de Comercio y Protección del Consumidor de la Communidad Autónoma de la Región de Murcia (Generaldirektion für Handel und Verbraucherschutz der Autonomen Gemeinschaft der Region Murcia, Spanien), zuvor Dirección General de Consumo, Comercio y Artesanía de la Comunidad Autónoma de la Región de Murcia (Generaldirektion für Verbraucher, Handel und Handwerk der Autonomen Gemeinschaft der Region Murcia, im Folgenden: Regionalverwaltung), über die Rechtmäßigkeit einer verwaltungsrechtlichen Sanktion, die gegen Europamur wegen eines Verstoßes gegen das im spanischen Einzelhandelsrecht vorgesehene Verbot von Verlustverkäufen verhängt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 6, 8 und 17 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken heißt es:

„(6)      Die vorliegende Richtlinie gleicht … die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken einschließlich der unlauteren Werbung an, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher unmittelbar und dadurch die wirtschaftlichen Interessen rechtmäßig handelnder Mitbewerber mittelbar schädigen. … Sie erfasst und berührt nicht die nationalen Rechtsvorschriften in Bezug auf unlautere Geschäftspraktiken, die lediglich die wirtschaftlichen Interessen von Mitbewerbern schädigen oder sich auf ein Rechtsgeschäft zwischen Gewerbetreibenden beziehen; die Mitgliedstaaten können solche Praktiken, falls sie es wünschen, unter uneingeschränkter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht weiterhin regeln. …

(8)      Diese Richtlinie schützt unmittelbar die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher vor unlauteren Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern. …

(17)      Es ist wünschenswert, dass diejenigen Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen unlauter sind, identifiziert werden, um größere Rechtssicherheit zu schaffen. Anhang I enthält daher eine umfassende Liste solcher Praktiken. Hierbei handelt es sich um die einzigen Geschäftspraktiken, die ohne eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen der Artikel 5 bis 9 als unlauter gelten können. Die Liste kann nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden.“

4          Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.“

5          Art. 2 der Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Verbraucher‘ jede natürliche Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie zu Zwecken handelt, die nicht ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können;

b)      ‚Gewerbetreibender‘ jede natürliche oder juristische Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, und jede Person, die im Namen oder Auftrag des Gewerbetreibenden handelt;

d)      ‚Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern‘ … jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt;

…“

6          Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 von Unternehmen gegenüber Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.“

7          Art. 4 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Warenverkehr nicht aus Gründen, die mit dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich zusammenhängen, einschränken.“

8          In Art. 5 („Verbot unlauterer Geschäftspraktiken“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Unlautere Geschäftspraktiken sind verboten.

(2)      Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn

a)      sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht

und

b)      sie in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist, es wesentlich zu beeinflussen.

(4)      Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die

a)      irreführend im Sinne der Artikel 6 und 7

oder

b)      aggressiv im Sinne der Artikel 8 und 9 sind.

(5)      Anhang I enthält eine Liste jener Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind. Diese Liste gilt einheitlich in allen Mitgliedstaaten und kann nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden.“

Spanisches Recht

Einzelhandelsrecht

9          In der Begründung der Ley 7/1996 de Ordenación del Comercio Minorista (Gesetz 7/1996 über die Regelung des Einzelhandels) vom 15. Januar 1996 (BOE Nr. 15 vom 17. Januar 1996, S. 1243) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: LOCM) heißt es:

,,Dieses Gesetz [soll insbesondere] Ungleichgewichte zwischen großen und kleinen Wirtschaftsunternehmen korrigieren und vor allem den freien und lauteren Wettbewerb aufrechterhalten. Es bedarf keiner Hervorhebung, dass die unmittelbarsten und greifbarsten Auswirkungen eines freien und lauteren Wettbewerbs in einer ständigen Verbesserung der Preise und der Qualität sowie der übrigen Bedingungen des Angebots und der Dienstleistung für das Publikum bestehen, was letztlich die wirksamste Maßnahme zugunsten der Verbraucher darstellt.“

10        Art. 14 („Verbot des Verkaufs mit Verlust“) der LOCM sieht in Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Unbeschadet der Bestimmungen des vorangegangenen Artikels[, der den Grundsatz der freien Preisgestaltung aufstellt,] dürfen, außer in den Fällen, die in den Kapiteln IV [über den Ausverkauf] und V [über den Liquidationsverkauf] von Titel II dieses Gesetzes geregelt sind, öffentliche Verkäufe mit Verlust weder angeboten noch durchgeführt werden, es sei denn, der Verkäufer bezweckt, seine Preise denen eines oder mehrerer Wettbewerber anzupassen, die in der Lage sind, seinen Absatz spürbar zu beeinträchtigen, oder es handelt sich um verderbliche Artikel, deren Haltbarkeit bald abläuft.

In jedem Fall sind die Bestimmungen des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb zu beachten.

(2)      Für die Zwecke des vorstehenden Absatzes ist von einem Verkauf mit Verlust auszugehen, wenn der Preis eines Produkts unter dem in Rechnung gestellten Einkaufspreis, abzüglich des entsprechenden Teils der in der Rechnung enthaltenen Nachlässe, oder dem Wiederbeschaffungspreis, wenn dieser niedriger ist, oder dem tatsächlichen Herstellungspreis, wenn der Artikel vom Händler selbst hergestellt wurde, zuzüglich des Anteils der auf dem Vorgang lastenden indirekten Steuern liegt.“

11        Nach der Sechsten Zusatzbestimmung der LOCM, die im Jahr 1999 in die LOCM eingefügt wurde, gilt dieses Verbot von Verlustverkäufen auch für „Unternehmen jeder Rechtsnatur, die im Großhandel tätig sind“.

12        Die LOCM wurde von der Autonomen Gemeinschaft der Region Murcia durch die Ley 11/2006 sobre régimen del comercio minorista de la región de Murcia (Gesetz 11/2006 zur Regelung des Einzelhandels in der Region Murcia) vom 22. Dezember 2006 (BORM Nr. 2 vom 3. Januar 2007, S. 141, im Folgenden: Regionalgesetz 11/2006) umgesetzt. Art. 54 dieses Gesetzes sieht für schwere Zuwiderhandlungen eine Geldbuße von 3 001 Euro bis 15 000 Euro vor. Zur Ermittlung der „Schwere der Ordnungswidrigkeit“ verweist dieses Gesetz auf die LOCM, deren Art. 65 Abs. 1 Buchst. c den Verkauf mit Verlust als schwere Zuwiderhandlung einstuft. Die Kriterien für die Bemessung der Sanktion finden sich in Art. 55 des Regionalgesetzes 11/2006. Zu diesen Kriterien gehört auch die Schwere des Schadens „für die Interessen der Verbraucher“.

Rechtsvorschriften über den unlauteren Wettbewerb

13        In der Präambel der Ley 3/1991 de Competencia Desleal (Gesetz 3/1991 über den unlauteren Wettbewerb) vom 10. Januar 1991 (BOE Nr. 10 vom 11. Januar 1991, S. 959, im Folgenden: LCD) heißt es:

„[Dieses Gesetz entspricht] dem Erfordernis, die Wettbewerbsordnung den Werten anzupassen, die unsere Wirtschaftsverfassung kennzeichnen. Nach der spanischen Verfassung von 1978 beruht unser Wirtschaftssystem auf dem Grundsatz der unternehmerischen Freiheit und infolgedessen, in institutioneller Hinsicht, auf dem Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit. Daraus folgt für den ordentlichen Gesetzgeber die Verpflichtung, spezielle Mechanismen zu schaffen, um zu verhindern, dass dieser Grundsatz durch unlautere Praktiken verfälscht werden kann, die unter Umständen das Funktionieren des Wettbewerbs auf dem Markt stören können.

Dieses verfassungsrechtliche Erfordernis wird ergänzt und verstärkt durch das Erfordernis, das aus dem Grundsatz des Schutzes des Verbrauchers als des schwächeren Teils der typischen Marktbeziehungen abzuleiten ist, der in Art. 51 der Verfassung aufgestellt wird.

Dieser neue Aspekt des Problems, der im herkömmlichen Recht des unlauteren Wettbewerbs im Allgemeinen verkannt wird, hat einen zusätzlichen Anreiz von größter Bedeutung für den Erlass der neuen Rechtsvorschriften dargestellt.“

14        Art. 17 („Verkauf mit Verlust“) der LCD lautet:

„(1)      Vorbehaltlich einer entgegenstehenden Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung werden die Preise frei festgelegt.

(2)      Dessen ungeachtet ist der Verkauf unter den Kosten oder unter dem Einkaufspreis in folgenden Fällen als unlauter anzusehen:

a)      wenn er geeignet ist, die Verbraucher über das Preisniveau anderer Waren oder Dienstleistungen desselben Betriebs irrezuführen;

b)      wenn er dazu führt, dass der Ruf einer anderen Ware oder eines anderen Betriebs geschädigt wird;

c)      wenn er Teil einer verfolgten Strategie ist, einen Wettbewerber oder eine Gruppe von Wettbewerbern vom Markt zu verdrängen.“

Gesetz 29/2009

15        Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken wurde durch die Ley 29/2009 por la que se modifica el régimen legal de la competencia desleal y de la publicidad para la mejora de la protección de los consumidores y usuarios (Gesetz 29/2009 zur Änderung der Regelung über den unlauteren Wettbewerb und die Werbung zwecks Verbesserung des Schutzes der Verbraucher und Nutzer) vom 30. Dezember 2009 (BOE Nr. 315 vom 31. Dezember 2009, S. 112039, im Folgenden: Gesetz 29/2009) in spanisches Recht umgesetzt.

16        Durch das Gesetz 29/2009 wurden u. a. die LOCM und die LCD geändert, ohne jedoch die in den Rn. 9 bis 12 und 13 bis 14 des vorliegenden Urteils angeführten Vorschriften der LOCM und der LCD zu verändern.

17        Durch das Gesetz 29/2009 wurde in Art. 18 der LOCM ein dritter Absatz hinzugefügt, nach dem die Verkaufsförderung „unter den in Art. 5 [der LCD] vorgesehenen Umständen als unlauter anzusehen ist“.

18        Durch das Gesetz 29/2009 wurde zum einen Art. 4 der LCD geändert, so dass dieser nunmehr die Kriterien für die Einstufung einer Geschäftspraxis als „unlauter“ enthält, wie sie in Art. 5 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken definiert sind, und zum anderen die Art. 5 und 7 der LCD geändert, deren neuer Wortlaut nunmehr jeweils dem Wortlaut der Art. 6 und 7 der Richtlinie entspricht.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

19        Europamur verkauft als Großhändler Haushaltswaren und Lebensmittel an Supermärkte und Nachbarschaftsläden, die unmittelbar dem Wettbewerb der großen Supermarktketten ausgesetzt sind. Da Europamur einer Einkaufszentrale angeschlossen ist, kann sie Kleinhändlern – ihren Kunden – Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten, die es ihnen erlauben, mit den Supermarktketten mitzuhalten.

20        Mit Entscheidung vom 23. Februar 2015 verhängte die Regionalverwaltung gegen Europamur eine Geldbuße von 3 001 Euro wegen Verstoßes gegen das Verbot in Art. 14 der LOCM, da sie bestimmte von ihr vermarktete Produkte mit Verlust verkauft hatte.

21        Die Regionalverwaltung begründete ihre Entscheidung u. a. mit Erwägungen zum Verbraucherschutz. So führte sie zunächst aus, dass die Nachlässe „das ordnungsgemäße Zustandekommen der vertraglichen Willensübereinstimmung hinsichtlich des korrekten Preisniveaus eines bestimmten Unternehmens oder Betriebs nicht zulasten der Verbraucher und Kunden beeinträchtigen dürfen“. Sodann berücksichtigte sie „die soziale Bedeutung des Verstoßes, der sämtliche Händler und Verbraucher der Region Murcia betrifft …[, da die] vom Zuwiderhandelnden verfolgte wirtschaftliche Zielsetzung … vielfältig [ist] und … u. a. darin [besteht], Angebote zu schaffen, die als Lockmittel oder Köder mit Produkten wie den hier in Rede stehenden dienen, um die Verbraucher zu veranlassen, Waren oder Dienstleistungen desselben Betriebs zu erwerben, und mit der verschleierten Absicht, Wettbewerber abzuschrecken oder zu eliminieren“. Schließlich berücksichtigte sie bei der Festsetzung des Betrags der Sanktion das Kriterium des „schweren Schadens für die Interessen der Verbraucher“ im Sinne von Art. 55 des Regionalgesetzes 11/2006. Sie führte jedoch nicht weiter aus, inwiefern das Verhalten von Europamur den Interessen der Verbraucher konkret geschadet habe, da nach der mehrheitlich vertretenen Auslegung von Art. 14 der LOCM der Verkauf mit Verlust als solcher die Verbraucher und Kunden schädigen könne.

22        Europamur erhob gegen diese Entscheidung Klage und machte u. a. geltend, dass Kleinhändler ihre Preise an die ihrer Wettbewerber anpassen können müssten, dass die sich aus Art. 17 der LCD ergebenden Beweisregeln ihr gegenüber hätten eingehalten werden müssen und dass das mit der Sanktion belegte Verhalten die Verbraucher nicht geschädigt habe. Sie führte ferner aus, die verhängte Sanktion verstoße gegen das Unionsrecht, weil die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken durch das Gesetz 29/2009 unzureichend in die nationale Rechtsordnung umgesetzt worden sei, soweit dieses Gesetz den Wortlaut von Art. 14 der LOCM unberührt gelassen habe.

23        Die Regionalverwaltung machte geltend, dass die Sanktionsregelung der LOCM, die speziell zum Schutz der Interessen der Verbraucher vorgesehen sei, unabhängig von der LCD sei, die eher auf das Verhältnis zwischen den Wirtschaftsteilnehmern untereinander ausgerichtet sei, so dass das Verbot gemäß Art. 14 der LOCM anwendbar sei, auch wenn die in Art. 17 der LCD genannten Umstände nicht vorlägen. Die nationalen Rechtsvorschriften stünden nicht in Widerspruch zum Unionsrecht.

24        Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n° 4 de Murcia (Verwaltungsgericht Nr. 4 Murcia, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung wie Art. 14 der LOCM entgegensteht, die insofern eine strengere Regelung als die Richtlinie enthält, als sie ein Verbot des Verkaufs mit Verlust – auch für Großhändler – vorsieht, diese Praxis als Ordnungswidrigkeit einstuft und sie infolgedessen mit einer Sanktion belegt, wobei das spanische Gesetz neben der Ordnung des Marktes auch das Ziel verfolgt, die Interessen der Verbraucher zu schützen?

2.      Ist die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass sie Art. 14 der LOCM auch dann entgegensteht, wenn die nationale Bestimmung es gestattet, sich dem allgemeinen Verbot des Verkaufs mit Verlust in Fällen zu entziehen, in denen i) der Zuwiderhandelnde nachweist, dass der Verkauf mit Verlust zur Anpassung an die Preise eines oder mehrerer Wettbewerber diente, die seinen Absatz spürbar beeinträchtigen konnten, oder ii) es sich um verderbliche Artikel handelt, deren Haltbarkeit bald abläuft?

Zu den Vorlagefragen

25        Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die ein allgemeines Verbot enthält, Waren mit Verlust zum Kauf anzubieten oder zu verkaufen, und für dieses Verbot Ausnahmetatbestände vorsieht, die auf Kriterien beruhen, die in dieser Richtlinie nicht vorgesehen sind.

Zur Zuständigkeit

26        Die spanische Regierung und die Europäische Kommission zweifeln an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, da ihrer Ansicht nach der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken fällt. Wie sich aus den Art. 2 und 3 der Richtlinie ergebe, gelte diese nämlich nur für unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern und daher nicht für unlautere Geschäftspraktiken zwischen Gewerbetreibenden. Im vorliegenden Fall finde der Verlustverkauf aber unstreitig zwischen Gewerbetreibenden statt.

27        Mit diesem Vorbringen machen die spanische Regierung und die Kommission im Wesentlichen geltend, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts nicht zuständig.

28        Insofern trifft es zwar zu, dass die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – nur auf Praktiken Anwendung findet, die unmittelbar die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher schädigen, und daher nicht auf Transaktionen zwischen Gewerbetreibenden. Doch kann daraus nicht geschlossen werden, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts nicht zuständig ist.

29        Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betrafen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fiel, die Vorschriften des Unionsrechts aber durch das nationale Recht, das sich zur Regelung von nicht unter das Unionsrecht fallenden Sachverhalten nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richtete, für anwendbar erklärt worden waren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 2012, Nolan, C583/10, EU:C:2012:638, Rn. 45, und vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C268/15, EU:C:2016:874, Rn. 53). In solchen Fällen besteht ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Urteil vom 18. Oktober 2012, Nolan, C583/10, EU:C:2012:638, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das nationale Recht die Vorschriften der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken für auf Fälle wie die im Ausgangsverfahren fraglichen anwendbar erklärt hat, die nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.

31        Art. 14 der LOCM, der im Einzelhandel Verlustverkäufe verbietet, ist nämlich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 46 bis 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, als eine Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken anzusehen. Da die Sechste Zusatzbestimmung der LOCM dieses Verbot auf Großhändler erstreckt hat und das Verbot nach Art. 14 der LOCM ebenso für Verkäufe zwischen Großhändlern und Einzelhändlern wie auch für Verkäufe zwischen Einzelhändlern und Verbrauchern gilt, sind darüber hinaus die Konsequenzen der vom vorlegenden Gericht erbetenen Auslegung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken für beide Verkaufsarten die gleichen. Im Übrigen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Sanktion gegen Europamur auf der Grundlage des Art. 14 der LOCM verhängt wurde, der gerade Gegenstand der Vorlagefragen ist.

32        Daher besteht ein klares Interesse der Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.

33        Nach alledem ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig.

Zur Begründetheit

34        Für die Beantwortung der Frage, wie sie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils umformuliert worden ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Vorschrift, die ein allgemeines Verbot vorsieht, Waren mit Verlust zum Verkauf anzubieten oder zu verkaufen, ohne dass im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt jedes Einzelfalls bestimmt werden müsste, ob die in Frage stehende Geschäftspraxis einen „unlauteren“ Charakter im Licht der in den Art. 5 bis 9 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken aufgestellten Kriterien hat, und ohne den zuständigen Gerichten hierbei einen Ermessensspielraum zu gewähren, entgegensteht, sofern diese Vorschrift dem Verbraucherschutz dienen soll (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 7. März 2013, Euronics Belgium, C343/12, EU:C:2013:154, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

35        Was erstens die Ziele anbelangt, die mit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschrift verfolgt werden, so geht aus der Begründung der LOCM hervor, dass sie dem Verbraucherschutz dient. Im Übrigen gilt dieses verfolgte Ziel nach den Angaben des vorlegenden Gerichts auch für einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, der Verkäufe zwischen Großhändlern und Kleinhändlern betrifft, weil diese Verkäufe Auswirkungen auf die Verbraucher haben. So soll dem Verbraucher, wenn er bei Kleinhändlern einkauft, die Bündelung von Bestellungen mittels des Großhändlers zugutekommen, ohne die sich der Einzelhändler der größeren Kaufkraft der großen Ketten und Supermärkte nicht erwehren könnte.

36        Diese Feststellung wird durch die Bußgeldentscheidung der Regionalverwaltung bestätigt. Wie aus Rn. 21 des vorliegenden Urteils hervorgeht, begründete die Regionalverwaltung diese Entscheidung und die Bußgeldhöhe nämlich mit Erwägungen des Verbraucherschutzes.

37        Im Übrigen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof gerade im Hinblick auf diese festgestellten Ziele des Art. 14 der LOCM um eine Auslegung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken.

38        Was zweitens die Frage anbelangt, ob das im Ausgangsverfahren fragliche Verbot von Verlustverkäufen ein allgemeines Verbot im Sinne der Rechtsprechung ist oder ob die Ausnahmetatbestände dieses Verbots es den nationalen Gerichten ermöglichen, im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt festzustellen, ob der in Frage stehende Verlustverkauf einen „unlauteren“ Charakter im Licht der in den Art. 5 bis 9 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken aufgestellten Kriterien aufweist, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 der Richtlinie die Kriterien nennt, mit denen sich die Umstände bestimmen lassen, unter denen eine Geschäftspraxis als unlauter und damit verboten anzusehen ist (Beschluss vom 7. März 2013, Euronics Belgium, C343/12, EU:C:2013:154, Rn. 25).

39        Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass die Regeln über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern mit der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vollständig harmonisiert werden und die Mitgliedstaaten, wie dies in Art. 4 der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen ist, daher keine strengeren als die in der Richtlinie festgelegten Maßnahmen erlassen dürfen, und zwar auch nicht, um ein höheres Verbraucherschutzniveau zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2010, Plus Warenhandelsgesellschaft, C304/08, EU:C:2010:12, Rn. 41, und Beschluss vom 30. Juni 2011, Wamo, C288/10, EU:C:2011:443, Rn. 33).

40        Im vorliegenden Fall steht zum einen fest, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Vorschrift Verlustverkäufe als solche als eine unlautere Geschäftspraktik ansieht und dass die nationalen Gerichte nicht im Einzelfall zu prüfen haben, ob der Verlustverkauf einen unlauteren Charakter im Licht der in den Art. 5 bis 9 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken aufgestellten Kriterien aufweist. Zum anderen ist ebenfalls unstreitig, dass die in Art. 14 der LOCM genannten beiden Ausnahmetatbestände des Verbots von Verlustverkäufen auf Kriterien beruhen, die in der Richtlinie nicht vorgesehen sind.

41        Nach der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung dürfen die Mitgliedstaaten jedoch bei der Festlegung anderer Kriterien als den in Art. 5 der Richtlinie aufgestellten keine strengeren als die in der Richtlinie festgelegten Maßnahmen erlassen.

42        Zudem gehört, wie der Generalanwalt in den Nrn. 62 bis 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zu den verbotenen strengeren Maßnahmen auch die in Art. 14 der LOCM vorgesehene Umkehr der Beweislast. Da Verlustverkäufe nämlich nicht zu den in Anhang I der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken genannten Praktiken gehören, muss vor der Verhängung einer Sanktion wegen Verstoßes gegen das Verbot solcher Verkäufe anhand des Sachverhalts des konkreten Falles geprüft werden, ob der Verkauf nach den in den Art. 5 bis 9 der Richtlinie angeführten Kriterien als „unlauter“ einzustufen ist. Außerdem darf diese Verhängung nicht auf einer Vermutung beruhen, die der Gewerbetreibende zu widerlegen hat (vgl. entsprechend Urteil vom 23. April 2009, VTB-VAB und Galatea, C261/07 und C299/07, EU:C:2009:244, Rn. 65 über das Verbot von Kopplungsangeboten an die Verbraucher).

43        Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die ein allgemeines Verbot enthält, Waren mit Verlust zum Kauf anzubieten oder zu verkaufen, und für dieses Verbot Ausnahmetatbestände vorsieht, die auf Kriterien beruhen, die in dieser Richtlinie nicht vorgesehen sind.

Kosten

44        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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