EuGH: Zum Doppelbestrafungsverbot im Kartellrecht
EuGH, Urteil vom 22.3.2022 – C-151/20, Bundeswettbewerbsbehörde gegen Nordzucker AG, Südzucker AG, Agrana Zucker GmbH
Volltext: BB-Online BBL2022-769-1
Tenor
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.
2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundeswettbewerbsbehörde (Österreich) (im Folgenden: österreichische Behörde) einerseits und der Nordzucker AG, der Südzucker AG und der Agrana Zucker GmbH (im Folgenden: Agrana) andererseits wegen deren Beteiligung an einer gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des österreichischen Wettbewerbsrechts verstoßenden Verhaltensweise.
Rechtlicher Rahmen
3 In den Erwägungsgründen 6 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:
„(6) Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] setzt voraus, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteiligt werden. Dies wiederum bedeutet, dass sie zur Anwendung des [Unionsrechts] befugt sein sollten.
…
(8) Um die wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der [Union] und das reibungslose Funktionieren der in dieser Verordnung enthaltenen Formen der Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte in den Mitgliedstaaten verpflichtet sein, auch die Artikel [101] und [102 AEUV] anzuwenden, wenn sie innerstaatliches Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, anwenden. Um für Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen gleiche Bedingungen im Binnenmarkt zu schaffen, ist es ferner erforderlich, auf der Grundlage von Artikel [103 Absatz 2 Buchstabe e AEUV] das Verhältnis zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Wettbewerbsrecht der [Union] zu bestimmen. Dazu muss gewährleistet werden, dass die Anwendung innerstaatlichen Wettbewerbsrechts auf Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Artikel [101] Absatz 1 [AEUV] nur dann zum Verbot solcher Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmten Verhaltensweisen führen darf, wenn sie auch nach dem Wettbewerbsrecht der [Union] verboten sind. Die Begriffe Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen sind autonome Konzepte des Wettbewerbsrechts der [Union] für die Erfassung eines koordinierten Verhaltens von Unternehmen am Markt im Sinne der Auslegung dieser Begriffe durch die Gerichte der [Union]. …“
4 Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels [101] Absatz 1 [AEUV] an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel [101 AEUV] auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach Artikel [102 AEUV] verbotene Missbräuche an, so wenden sie auch Artikel [102 AEUV] an.
(2) Die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts darf nicht zum Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen führen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des Artikels [101] Absatz 1 [AEUV] nicht einschränken oder die Bedingungen des Artikels [101] Absatz 3 [AEUV] erfüllen oder durch eine Verordnung zur Anwendung von Artikel [101] Absatz 3 [AEUV] erfasst sind. Den Mitgliedstaaten wird durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.“
5 Art. 5 der Verordnung lautet:
„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] in Einzelfällen zuständig. Sie können hierzu von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen
– die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird,
– einstweilige Maßnahmen angeordnet werden,
– Verpflichtungszusagen angenommen werden oder
– Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.
Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.“
6 Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor:
„Für die Zwecke der Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] sind die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten befugt, einander tatsächliche oder rechtliche Umstände einschließlich vertraulicher Angaben mitzuteilen und diese Informationen als Beweismittel zu verwenden.“
7 Nach Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV verstoßen.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
8 Nordzucker, Südzucker und deren Tochtergesellschaft Agrana sind auf dem Markt für die Herstellung und den Vertrieb von Industriezucker und von Haushaltszucker (im Folgenden: Zuckermarkt) tätig.
9 Nordzucker und Südzucker beherrschen zusammen mit einem dritten großen Hersteller den Zuckermarkt in Deutschland. Nordzucker hat ihre Werke im Norden Deutschlands und Südzucker die ihren im Süden Deutschlands. Aufgrund der Standorte der Werke, der Merkmale des Zuckers und der Transportkosten war der deutsche Zuckermarkt räumlich seit jeher in drei Kerngebiete aufgeteilt, von denen jedes von einem dieser drei großen Hersteller beherrscht wurde. Diese räumliche Marktaufteilung erstreckte sich nicht auf ausländische Märkte, auch nicht auf diejenigen, auf denen die Tochtergesellschaften dieser drei Hersteller tätig waren, und betraf insbesondere nicht den österreichischen Markt.
10 Agrana ist die Hauptzuckerherstellerin in Österreich. Sie handelt auf den von ihr belieferten Märkten weitgehend selbständig.
11 Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Union im Jahr 2004 beunruhigte die deutschen Zuckerhersteller aufgrund des neuen Wettbewerbsdrucks, der von den in diesen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen ausging. In diesem Zusammenhang kam es spätestens ab 2004 zu mehreren Treffen zwischen den Vertriebsleitern von Nordzucker und von Südzucker, die in die Vereinbarung mündeten, dass sich Nordzucker und Südzucker, um diesem neuen Wettbewerbsdruck auszuweichen, keine gegenseitige Konkurrenz durch ein Eindringen in ihre angestammten Kernabsatzgebiete machen würden.
12 Gegen Ende 2005 bemerkte Agrana Zuckerlieferungen auf dem österreichischen Markt, die namentlich von einer slowakischen Tochtergesellschaft von Nordzucker stammten und an österreichische Industriekunden gingen, deren Alleinlieferantin sie bis dahin war.
13 Am 22. Februar 2006 informierte der Geschäftsführer von Agrana bei einem Telefongespräch den Vertriebsleiter von Südzucker über diese Lieferungen und bat ihn um den Namen einer Kontaktperson bei Nordzucker.
14 Der Vertriebsleiter von Südzucker rief daraufhin am selben Tag den Vertriebsleiter von Nordzucker an, um ihn über die Lieferungen nach Österreich zu informieren, wobei er mögliche Konsequenzen für den deutschen Zuckermarkt andeutete (im Folgenden: streitiges Telefonat). Es ist nicht erwiesen, dass Agrana von diesem Telefonanruf unterrichtet wurde.
15 Nachdem Nordzucker u. a. beim Bundeskartellamt (Deutschland) (im Folgenden: deutsche Behörde) und bei der österreichischen Behörde Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hatte, leiteten diese Behörden zeitgleich Ermittlungsverfahren ein.
16 So brachte die österreichische Behörde im September 2010 beim Oberlandesgericht Wien (Österreich), dem österreichischen Kartellgericht, einen Antrag auf Feststellung einer Zuwiderhandlung von Nordzucker gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden österreichischen Rechtsvorschriften sowie auf Verhängung von zwei Geldbußen gegen Südzucker, darunter eine gesamtschuldnerisch mit Agrana, ein. Zu den tatsächlichen Umständen, die von der österreichischen Behörde zum Nachweis der Teilnahme dieser drei Unternehmen an einem Kartell auf dem österreichischen Zuckermarkt angeführt wurden, gehörte u. a. das streitige Telefonat.
17 Die deutsche Behörde stellte ihrerseits mit rechtskräftigem Bescheid vom 18. Februar 2014 fest, dass Nordzucker, Südzucker und der oben in Rn. 9 genannte dritte deutsche Hersteller gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des deutschen Wettbewerbsrechts verstoßen hätten, und verhängte u. a. gegen Südzucker eine Geldbuße in Höhe von 195 500 000 Euro (im Folgenden: endgültige Entscheidung der deutschen Behörde). Ausweislich des Bescheids praktizierten diese Unternehmen auf dem Zuckermarkt eine Vereinbarung über die gegenseitige Respektierung der Kernabsatzgebiete, wozu in der Zeit von 2004 bis 2007 bzw. Sommer 2008 regelmäßige Treffen der Vertreter von Nordzucker und von Südzucker stattfanden. In diesem Bescheid gab die deutsche Behörde den Inhalt des streitigen Telefonats wieder, bei dem die Vertreter von Nordzucker und von Südzucker über den österreichischen Markt gesprochen hatten. Unter allen von dieser Behörde festgestellten tatsächlichen Umständen bezieht sich allein dieses Telefonat auf den österreichischen Markt.
18 Mit Beschluss vom 15. Mai 2019 wies das Oberlandesgericht Wien den Antrag der österreichischen Behörde u. a. mit der Begründung zurück, dass die bei dem streitigen Telefonat geschlossene Vereinbarung bereits von einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde geahndet worden sei, so dass eine neuerliche Ahndung gegen den Grundsatz ne bis in idem verstieße.
19 Die österreichische Behörde erhob gegen diesen Beschluss Rekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich), der das vorlegende Gericht ist. Sie beantragt zum einen, festzustellen, dass Nordzucker aufgrund der besagten Vereinbarung gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des österreichischen Wettbewerbsrechts verstoßen hat, und zum anderen, Südzucker wegen des gleichen Verstoßes eine Geldbuße in angemessener Höhe aufzuerlegen.
20 Als Erstes sieht sich das vorlegende Gericht im Hinblick auf den in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem vor die Frage gestellt, ob das streitige Telefonat berücksichtigt werden kann, obwohl es in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde ausdrückliche Erwähnung gefunden hat.
21 Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem in seiner „idem“-Komponente zu unterschiedlichen Auslegungen geführt habe. So ergebe sich im Bereich des Wettbewerbsrechts insbesondere aus dem Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 97), dass dieser Grundsatz nur angewandt werden könne, wenn drei kumulative Kriterien erfüllt seien, nämlich die Identität des Sachverhalts, die Identität der Zuwiderhandelnden und die Identität des geschützten Rechtsguts. Dagegen habe der Gerichtshof in anderen Bereichen des Unionsrechts, insbesondere in den Urteilen vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C‑436/04, EU:C:2006:165, Rn. 36), und vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35), das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts außer Betracht gelassen.
22 Zweitens stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob bei der Beurteilung der „idem“-Komponente neben anderen Gesichtspunkten die territorialen Auswirkungen von Kartellen, die in den Hoheitsgebieten verschiedener Mitgliedstaaten stattgefunden haben, entsprechend der Lösung in den Urteilen vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission (C‑397/03 P, EU:C:2006:328), vom 29. Juni 2006, Showa Denko/Kommission (C‑289/04 P, EU:C:2006:431), und vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 99 bis 103), zu berücksichtigen sind.
23 Zum Ausgangsrechtsstreit führt das vorlegende Gericht aus, dass nach Ansicht der österreichischen Behörde bei der Geldbuße, die mit der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde verhängt worden sei, die Auswirkungen des Kartells in Österreich nicht berücksichtigt worden seien. Auch laut einer Stellungnahme des Vizepräsidenten der deutschen Behörde vom 28. Juni 2019 würden mit den Entscheidungen dieser Behörde grundsätzlich nur wettbewerbswidrige Auswirkungen in Deutschland geahndet. Das Oberlandesgericht Wien habe jedoch wegen der besonderen Bedeutung, die dem streitigen Telefonat in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde beigemessen worden sei, das Gegenteil angenommen.
24 Als Zweites weist das vorlegende Gericht hinsichtlich des Nordzucker betreffenden Antrags auf Feststellung einer Zuwiderhandlung darauf hin, dass die österreichische Behörde diesem Unternehmen Kronzeugenbehandlung nach nationalem Recht gewährt habe. Da sich eine nationale Wettbewerbsbehörde nach dem Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a. (C‑681/11, EU:C:2013:404), ausnahmsweise darauf beschränken könne, eine Zuwiderhandlung festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, stelle sich die Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem auf ein solches Verfahren zur Feststellung einer Zuwiderhandlung anzuwenden sei. Der Gerichtshof habe nämlich u. a. in Rn. 94 des Urteils vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72), entschieden, dass dieser Grundsatz nur in Verfahren zu beachten sei, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet seien.
25 Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem aufgestellte dritte Kriterium, nämlich dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss, auch dann anzuwenden, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten berufen sind, für denselben Sachverhalt und in Bezug auf dieselben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch dieselben europäischen Rechtsnormen (hier: Art. 101 AEUV) anzuwenden?
Bei Bejahung dieser Frage:
2. Liegt in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vor?
3. Ist es darüber hinaus für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von Bedeutung, ob die zeitlich erste Geldbußenentscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach im von ihr geführten wettbewerbsrechtlichen Verfahren entschieden hat?
4. Liegt auch bei einem Verfahren, in dem wegen der Teilnahme eines Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm nur dessen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, ein vom Grundsatz ne bis in idem beherrschtes Verfahren vor, oder kann eine solche bloße Feststellung der Zuwiderhandlung unabhängig vom Ergebnis eines früheren Verfahrens betreffend die Verhängung einer Geldbuße (in einem anderen Mitgliedstaat) erfolgen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur dritten Frage
26 Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat.
27 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, welche Kriterien für die Beurteilung maßgeblich sind, ob die beiden nationalen Wettbewerbsbehörden über denselben Sachverhalt entschieden haben.
Vorbemerkungen
28 Beim Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59), der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist.
29 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 26 und 27).
31 Zu betonen ist insoweit, dass sich die Anwendung von Art. 50 der Charta nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen Einordnung im innerstaatlichen Recht – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen in der vorstehenden Randnummer angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 30).
32 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Grundsatz ne bis in idem in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten ist. Dieser Grundsatz verbietet es im Bereich des Wettbewerbsrechts, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird (Urteile vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie, C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 28).
33 Daraus folgt, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen von wettbewerbsrechtlichen Verfahren zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf dasselbe Verhalten abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).
Zur Voraussetzung „bis“
34 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass es für die Annahme, dass eine Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich ist, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28 und 30).
35 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde eine endgültige frühere Entscheidung im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung darstellt.
Zur Voraussetzung „idem“
36 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen.
37 Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, richten sich die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegen dieselben juristischen Personen, nämlich Nordzucker und Südzucker.
38 Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35, und vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, und vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 38).
40 Gleiches gilt für die Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts der Union, da die Reichweite des mit dieser Bestimmung gewährten Schutzes, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, nicht von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein kann (Urteil von heute, bpost, C‑117/20, Rn. 35).
41 Was das Kriterium der Identität der Tat betrifft, so lässt sich die Frage, ob die Unternehmen ein Verhalten an den Tag gelegt haben, mit dem eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wurde, nicht abstrakt beurteilen; vielmehr ist die Prüfung daran auszurichten, in welchem Gebiet, auf welchem Produktmarkt und in welchem Zeitraum mit dem entsprechenden Verhalten ein solcher Zweck verfolgt oder eine solche Wirkung entfaltet wurde (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 99, und vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 45).
42 Es ist Sache des für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sich der bei ihm anhängige Rechtsstreit auf dieselbe Tat bezieht, die zum Erlass der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde geführt hat, und zwar unter Berücksichtigung des von dieser Entscheidung betroffenen Gebiets, Produktmarkts und Zeitraums. Somit hat sich das vorlegende Gericht der Tragweite dieser Entscheidung zu vergewissern. Wie vom Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt, kann ein nationales Gericht gemäß Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 mit Unterstützung der nationalen Wettbewerbsbehörde bei einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats Zugang zu einer von dieser erlassenen Entscheidung sowie zu Informationen über deren Inhalt beantragen. Gleichwohl kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der Beurteilung dieser Tragweite geben.
43 Insoweit ergibt sich aus dem Akt, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts im Speziellen den Punkt betreffen, dass die Verfolgungsmaßnahmen in Österreich auf einem tatsächlichen Umstand – dem streitigen Telefonat, bei dem über den österreichischen Zuckermarkt gesprochen wurde – beruhen, der bereits in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde erwähnt worden war. Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob unter Berücksichtigung der Erwähnung des Telefonats in dieser Entscheidung die Voraussetzung der Identität der Tat erfüllt ist.
44 In diesem Zusammenhang ist in Anbetracht der oben in Rn. 41 dargestellten Rechtsprechung klarzustellen, dass die bloße Tatsache, dass eine Behörde eines Mitgliedstaats in einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union und die entsprechenden Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats festgestellt wird, einen tatsächlichen Umstand erwähnt, der sich auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezieht, nicht für die Annahme ausreichen kann, dass dieser tatsächliche Umstand der Grund für die Verfolgungsmaßnahmen ist oder von dieser Behörde als einer der Umstände angesehen wurde, die diesen Verstoß tatbestandlich begründen. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob die besagte Behörde auf diesen tatsächlichen Umstand in der Tat eingegangen ist, um den Verstoß sowie die Verantwortlichkeit des Beschuldigten dafür festzustellen und gegebenenfalls eine Sanktion gegen ihn zu verhängen, damit davon auszugehen ist, dass der Verstoß das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats umfasst (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 101 und 102).
45 Das vorlegende Gericht hat daher auf der Grundlage einer Würdigung aller relevanten Umstände zu prüfen, ob die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde die Feststellung und Ahndung des in Rede stehenden Kartells dahin zum Gegenstand hatte, dass es sich seinem wettbewerbswidrigen Zweck oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung nach im Bezugszeitraum nicht nur auf den deutschen, sondern auch auf den österreichischen Markt erstreckte.
46 Im Rahmen dieser Würdigung ist insbesondere zu prüfen, ob sich die rechtlichen Beurteilungen, die die deutsche Behörde auf der Grundlage der in ihrer endgültigen Entscheidung festgestellten tatsächlichen Umstände vorgenommen hat, ausschließlich auf den deutschen Markt oder auch auf den österreichischen Zuckermarkt bezogen. Ebenfalls erheblich ist, ob die deutsche Behörde der Berechnung der Geldbuße auf der Grundlage des Umsatzes, der auf dem von dem Verstoß betroffenen Markt erzielt wurde, nur den in Deutschland erzielten Umsatz zugrunde gelegt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 101).
47 Sollte das vorlegende Gericht nach Würdigung aller relevanten Umstände der Auffassung sein, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kartell durch die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde nicht wegen seines wettbewerbswidrigen Zwecks oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung im österreichischen Hoheitsgebiet festgestellt und geahndet wurde, müsste es feststellen, dass das bei ihm anhängige Verfahren nicht dieselbe Tat betrifft, die der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde zugrunde liegt, so dass der Grundsatz ne bis in idem im Sinne des Art. 50 der Charta weiteren Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls weiteren Sanktionen nicht entgegenstünde (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 103).
48 Sollte umgekehrt das vorlegende Gericht der Auffassung sein, dass das Kartell durch die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde auch wegen seines wettbewerbswidrigen Zwecks oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung im österreichischen Hoheitsgebiet festgestellt und geahndet wurde, müsste es feststellen, dass das bei ihm anhängige Verfahren dieselbe Tat betrifft, die der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde zugrunde liegt. Eine entsprechende Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls Sanktionen würde das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht einschränken.
Zur Rechtfertigung einer etwaigen Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts
49 Um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, ist hinzuzufügen, dass eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts, wie sie in dem vorstehend in Rn. 48 angesprochenen Fall gegeben wäre, auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann (Urteile vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56, sowie vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197‚ Rn. 40).
50 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
51 Was die in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta genannten Voraussetzungen und genauer die Frage betrifft, ob die Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts durch eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls Sanktionen durch zwei nationale Wettbewerbsbehörden einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist hervorzuheben, dass Art. 101 AEUV eine der öffentlichen Ordnung zuzurechnende zwingende Bestimmung ist, die Kartelle verbietet und das für das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässliche Ziel verfolgt, zu garantieren, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juni 1999, Eco Swiss, C‑126/97, EU:C:1999:269, Rn. 36, und vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 31).
52 In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung beimisst, kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung des betreffenden Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 44).
53 Insoweit stellt, was die Rolle der mitgliedstaatlichen Behörden bei der Wahrung des Wettbewerbsrechts der Union betrifft, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 eine enge Verbindung zwischen dem Kartellverbot in Art. 101 AEUV und den entsprechenden Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts her. Wenn die nationale Wettbewerbsbehörde die Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, mit denen Kartelle verboten werden, auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen anwendet, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 101 AEUV beeinträchtigen kann, ist sie nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 verpflichtet, parallel dazu auch Art. 101 AEUV anzuwenden (Urteile vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 77, und vom 13. Dezember 2012, Expedia, C‑226/11, EU:C:2012:795, Rn. 18).
54 Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 darf die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot von Kartellen führen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, wenn sie den Wettbewerb im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht einschränken (Urteil vom 13. Dezember 2012, Expedia, C‑226/11, EU:C:2012:795, Rn. 19).
55 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich im Licht des achten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1/2003, dass die Anwendung der Bestimmungen des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV führen darf, wenn sie nicht auch nach dieser Bestimmung verboten sind. Sie darf mit anderen Worten nicht zu einem anderen Ergebnis führen, als es sich aus der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV ergäbe.
56 Sollten zwei nationale Wettbewerbsbehörden denselben Sachverhalt verfolgen und ahnden, um die Beachtung des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV und den entsprechenden Bestimmungen ihres jeweiligen nationalen Rechts sicherzustellen, würden diese beiden Behörden somit dieselbe dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgen, zu gewährleisten, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht durch Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmte wettbewerbswidrige Verhaltensweisen verfälscht wird.
57 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass eine Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, da mit ihnen keine komplementären Zwecke verfolgt werden, die im Sinne der oben in Rn. 52 angeführten Rechtsprechung verschiedene Aspekte desselben Verhaltens betreffen, jedenfalls nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.
58 Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.
Zur zweiten Frage
59 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die dritte Frage braucht über die zweite Frage nicht entschieden zu werden.
Zur vierten Frage
60 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.
61 Als Erstes ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz ne bis in idem, wie sich aus der oben in Rn. 32 angeführten Rechtsprechung ergibt, im Bereich des Wettbewerbsrechts verbietet, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird.
62 Der Grundsatz ne bis in idem soll also verhindern, dass ein Unternehmen „erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt“ wird, was voraussetzt, dass das betreffende Unternehmen in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde. Als Ausfluss des Grundsatzes res iudicata soll er Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gewährleisten, indem er sicherstellt, dass wer einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie, C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 29 und 33).
63 Daraus folgt, dass die Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen strafrechtlicher Natur als solche unabhängig davon, ob diese Verfolgungsmaßnahmen tatsächlich zur Verhängung einer Sanktion führen, in den Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem fallen kann.
64 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 101 AEUV sowie die Art. 5 und 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen sind, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV erwiesen ist, in Ausnahmefällen darauf beschränken können, diesen Verstoß festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, wenn das betreffende Unternehmen an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat (Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a., C‑681/11, EU:C:2013:404, Rn. 50). Um sicherzustellen, dass die Nichtfestsetzung einer Geldbuße im Rahmen eines nationalen Kronzeugenprogramms nicht das Erfordernis der wirksamen und einheitlichen Anwendung von Art. 101 AEUV beeinträchtigt, kann eine solche Behandlung nur unter ganz besonderen Umständen gewährt werden, z. B., wenn die Zusammenarbeit eines Unternehmens für die Aufdeckung und wirksame Ahndung des Kartells von entscheidender Bedeutung war (Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a., C‑681/11, EU:C:2013:404, Rn. 47 und 49).
65 Daraus folgt, wie vom Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass einem Unternehmen, das ein Kronzeugenprogramm in Anspruch nehmen möchte, der Erlass oder die Ermäßigung einer Geldbuße keineswegs automatisch gewährleistet ist.
66 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Grundsatz ne bis in idem unbeschadet der Antwort auf die erste und die dritte Frage des vorlegenden Gerichts auf ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ungeachtet dessen Anwendung finden kann, dass aufgrund der Teilnahme des betreffenden Unternehmens, das bereits im Rahmen eines anderen, mit einer endgültigen Entscheidung abgeschlossenen Verfahrens verfolgt wurde, am nationalen Kronzeugenprogramm dieses neue Verfahren nur zur Feststellung eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht führen kann.
67 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.