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Wirtschaftsrecht
24.10.2024
Wirtschaftsrecht
EuGH: Zum Begriff „Hauptniederlassung“ einer natürlichen Person i. S. d. Art. 3 Abs. 1 Uabs. 3 der VO (EU) 2015/848

EuGH, Urteil vom 19.9.2024 – C-501/23, DL gegen Land Berlin

ECLI:EU:C:2024:776

Volltext: BB-Online BBL2024-2497-2

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Hauptniederlassung“ einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung definierten Begriff „Niederlassung“ entspricht.

2. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 ist dahin auszulegen, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DL und dem Land Berlin (Deutschland) über ein vom Land Berlin im Hinblick auf DL eingeleitetes Insolvenzverfahren.

 

Rechtlicher Rahmen

3          Die Erwägungsgründe 23, 24, 28, 37 und 38 der Verordnung 2015/848 lauten:

„(23) Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung sowie das Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren parallel zum Hauptinsolvenzverfahren. Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Seine Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit in der [Europäischen] Union Rechnung.

(24) Wird über das Vermögen einer juristischen Person oder einer Gesellschaft ein Hauptinsolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, eröffnet, so sollte die Möglichkeit bestehen, im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem sie ihren Sitz hat, sofern der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten in diesem Mitgliedstaat voraussetzt.

(28) Bei der Beantwortung der Frage, ob der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners für Dritte feststellbar ist, sollte besonders berücksichtigt werden, welchen Ort die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, an dem der Schuldner der Verwaltung seiner Interessen nachgeht. Hierfür kann es erforderlich sein, die Gläubiger im Fall einer Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen zeitnah über den neuen Ort zu unterrichten, an dem der Schuldner seine Tätigkeiten ausübt, z. B. durch Hervorhebung der Adressänderung in der Geschäftskorrespondenz, oder indem der neue Ort in einer anderen geeigneten Weise veröffentlicht wird.

(37) Das Recht, vor der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, zu beantragen, sollte nur lokalen Gläubigern und Behörden zustehen beziehungsweise auf Fälle beschränkt sein, in denen das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nicht zulässt. Der Grund für diese Beschränkung ist, dass die Fälle, in denen die Eröffnung eines Partikularverfahrens vor dem Hauptinsolvenzverfahren beantragt wird, auf das unumgängliche Maß beschränkt werden sollen.

(38) Das Recht, nach der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, zu beantragen, wird durch diese Verordnung nicht beschränkt. Der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens oder jede andere, nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats dazu befugte Person sollte die Eröffnung eines Sekundärverfahrens beantragen können.“

 

4          Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/848 definiert „Niederlassung“ als „jeden Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht oder in den drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens nachgegangen ist, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt“.

 

5          Art. 3 („Internationale Zuständigkeit“) der Verordnung 2015/848 bestimmt:

„(1) Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat (im Folgenden ‚Hauptinsolvenzverfahren‘). Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist.

Bei Gesellschaften oder juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres Sitzes ist. Diese Annahme gilt nur, wenn der Sitz nicht in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde.

Bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist. Diese Annahme gilt nur, wenn die Hauptniederlassung der natürlichen Person nicht in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde.

Bei allen anderen natürlichen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist. Diese Annahme gilt nur, wenn der gewöhnliche Aufenthalt nicht in einem Zeitraum von sechs Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde.

(2) Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Hoheitsgebiet dieses letzteren Mitgliedstaats befindliche Vermögen des Schuldners beschränkt.

(3) Wird ein Insolvenzverfahren nach Absatz 1 eröffnet, so ist jedes zu einem späteren Zeitpunkt nach Absatz 2 eröffnete Insolvenzverfahren ein Sekundärinsolvenzverfahren.

…“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6          Am 18. August 2020 beantragte das Land Berlin beim Amtsgericht Charlottenburg (Deutschland) die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen von DL (im Folgenden: Schuldner). Im Zeitpunkt der Antragstellung unterhielt der Schuldner Wohnsitze in Berlin (Deutschland), Monaco, Los Angeles (Vereinigte Staaten) und auf der Insel Saint-Barthélemy (Französische Antillen). Er war Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landbell AG, einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Mainz (Deutschland). Sein Vermögen bestand in einem Bankguthaben in Monaco sowie in Beteiligungen an Gesellschaften monegassischen Rechts, die Guthaben, ein Wertpapierdepot und Gesellschaftsbeteiligungen in Deutschland hielten.

 

7          Mit Beschluss vom 27. Juli 2021 wies das Amtsgericht Charlottenburg diesen Antrag wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit als unzulässig ab.

 

8          Am 29. Juni 2022 hob das Landgericht Berlin (Deutschland), das mit einer sofortigen Beschwerde des Finanzamts Wilmersdorf (Deutschland), des Gläubigers, befasst war, diesen Beschluss auf und verwies die Sache an das ursprünglich angerufene Amtsgericht Charlottenburg zurück. Das Landgericht Berlin meinte nämlich, der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners befinde sich an dem Ort, an dem der Schuldner seiner selbständigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender nachgehe.

 

9          Insbesondere nahm das Landgericht Berlin in seinem Beschluss vom 29. Juni 2022 an, dass der Schuldner aufgrund seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts eine „selbständige Tätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 ausübe. Es wandte jedoch die in dieser Bestimmung aufgestellte Vermutung, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners an dessen „Hauptniederlassung“ befindet, sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird, nicht an. Zunächst bezog es sich auf den in Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/848 definierten Begriff „Niederlassung“ und führte aus, dass der Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit weder in Deutschland noch an einem anderen Ort auf Personal oder Vermögenswerte zurückgreife. Sodann gelangte es in Anwendung der Definition in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 der Verordnung 2015/848, wonach der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners der „Ort [ist], an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist“, zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens international zuständig seien.

 

10        Der Schuldner, der die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte bezweifelt, legte Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein. Er begehrt die Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts Berlin und die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde des Gläubigers.

 

11        Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte anhand von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 zu beurteilen.

 

12        In dieser Hinsicht führt das vorlegende Gericht erstens aus, dass gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung 2015/848 die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig seien, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen habe. Nach dieser Vorschrift sei „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen … der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist“. Für den besonderen Fall, dass der Schuldner eine natürliche Person sei, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübe, sehe Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 eine widerlegbare Vermutung vor, wonach der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person ihre „Hauptniederlassung“ sei. Bei allen anderen natürlichen Personen werde gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 der Verordnung 2015/848 bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Betroffenen sei.

 

13        Das vorlegende Gericht ist ebenso wie das Landgericht Berlin der Ansicht, dass der Schuldner im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine „selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 ausgeübt habe.

 

14        Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind diese Begriffe unionsrechtsautonom auszulegen. Eine selbständige Tätigkeit zeichne sich dadurch aus, dass die betroffene Person zum einen ihre Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübe und zum anderen das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trage. Diese Person handele für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung, regele die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit frei und vereinnahme das Entgelt, das ihr Einkommen darstelle, selbst.

 

15        Im Ausgangsverfahren seien diese Voraussetzungen für den Schuldner erfüllt, da er Vorsitzender des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts gewesen sei und der Aufsichtsrat nach deutschem Recht im Verhältnis zur Geschäftsführung der Aktiengesellschaft nicht weisungsgebunden sei. Den Feststellungen des Landgerichts Berlin zufolge könne den Schuldner auch ein Vergütungsrisiko getroffen haben.

 

16        Zweitens werde gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 im Fall einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung sei. „Niederlassung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/848 verweise auf jeden Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgehe, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetze.

 

17        In Anbetracht der Feststellung des Landgerichts Berlin, wonach die Vermutung in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 nicht anzuwenden sei, da der Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit kein Personal und keine Vermögenswerte eingesetzt habe, fragt das vorlegende Gericht nach der Bedeutung einer solchen Anforderung bei der Bestimmung der Hauptniederlassung einer natürlichen Person, die eine selbständige Tätigkeit ausübe.

 

18        Müsste diese Anforderung erfüllt werden, wäre nach Ansicht des vorlegenden Gerichts davon auszugehen, dass der Schuldner keine „Niederlassung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/848 habe. In diesem Fall stelle sich die Frage, ob dann der Ort, an dem die selbständige Tätigkeit ausgeübt werde, gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 bis zum Beweis des Gegenteils den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners vermuten lasse.

 

19        Wäre die zweite Vorlagefrage zu bejahen, würde der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in Deutschland ebenfalls gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 widerlegbar vermutet.

 

20        Sollten die beiden vorstehenden Fragen hingegen zu verneinen seien, stelle sich schließlich die Frage, ob die Vermutung von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 der Verordnung 2015/848 eingreife und ob eine natürliche Person, die für ihre selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit keine „Niederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 betreibe, unter den Begriff „alle anderen natürlichen Personen“ in der erstgenannten Bestimmung falle.

 

21        Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass das Landgericht Berlin die Vermutung von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 der Verordnung 2015/848 außer Betracht gelassen und Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 dieser Verordnung angewandt habe. Wäre die Vermutung von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 der Verordnung 2015/848 einschlägig, müsste zunächst der gewöhnliche Aufenthalt des Schuldners im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ermittelt werden. Dann wäre zu prüfen, ob noch festzustellende tatsächliche Umstände den Schluss auf eine Widerlegung dieser Vermutung zuließen. Eine solche Auslegung erfordere die Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts Berlin.

 

22        Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?

2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?

3. Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen, dass bei einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung unterhält, gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 dieser Verordnung bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?

 

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

23        In seinen schriftlichen Erklärungen stellt der Schuldner die Beurteilung des vorlegenden Gerichts in Frage, wonach er im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine „selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 der Verordnung 2015/848 ausgeübt habe. Nach Ansicht des Schuldners fällt die von ihm ausgeübte Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender, bei der es sich im Übrigen nur um eine Nebentätigkeit handele, angesichts der Umstände ihrer Ausübung nicht unter diesen Begriff.

 

24        Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. September 2016, Breitsamer und Ulrich, C‑113/15, EU:C:2016:718, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

25        Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit kann nicht allein dadurch widerlegt werden, dass eine der Parteien des Ausgangsverfahrens bestimmte Tatsachen bestreitet, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat und die den Streitgegenstand bestimmen (Urteil vom 22. September 2016, Breitsamer und Ulrich, C‑113/15, EU:C:2016:718, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

26        Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht, wie in Rn. 13 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es die vom Landgericht Berlin festgestellte Tatsache, dass der Schuldner im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine „selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 ausgeübt habe, nicht in Frage stelle. Aus den Gründen der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen im Wesentlichen klären möchte, ob die in dieser Bestimmung enthaltene Vermutung auf diesen Schuldner angewandt werden kann, obwohl seine Tätigkeit, die als „selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit“ eingestuft wird, weder in Deutschland noch an einem anderen Ort den Einsatz von Personal oder Vermögenswerten voraussetzt.

 

27        Unter diesen Umständen sind die Vorlagefragen ausgehend von der Prämisse zu beantworten, auf die sich das vorlegende Gericht stützt, nämlich, dass der Schuldner im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine „selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 ausübte. Diese Prämisse gehört zum sachlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens, den der Gerichtshof nicht zu prüfen hat.

 

Zur ersten Frage

28        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Hauptniederlassung“ einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, dem in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung definierten Begriff „Niederlassung“ entspricht.

 

29        Nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung 2015/848 sind für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, das in dieser Verordnung als „Hauptinsolvenzverfahren“ bezeichnet wird, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist.

 

30        Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 bestimmt, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist.

 

31        Im vorliegenden Fall legt das vorlegende Gericht den Begriff „Hauptniederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 im Licht des in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung definierten Begriffs „Niederlassung“ aus. Es fragt sich, ob dieser Ort angesichts dieser Definition auch ohne das Vorhandensein von Personal und Vermögenswerten eine „Niederlassung“ darstellt.

 

32        Hierzu ist festzustellen, dass in der deutschen Sprachfassung der Verordnung 2015/848 eine sprachliche Nähe zwischen den Begriffen „Niederlassung“ und „Hauptniederlassung“ besteht.

 

33        Wie die Europäische Kommission in ihren Erklärungen ausführt, gibt es diese Nähe jedoch in anderen Sprachfassungen dieser Verordnung nicht, die semantisch unterschiedliche Begriffe verwenden, wie u. a. die englische („establishment“ und „principal place of business“), die spanische („establecimiento“ und „centro principal de actividad“), die französische („établissement“ und „lieu d’activité principal“), die italienische („dipendenza“ und „sede principale di attività“), die polnische („oddział“ und „główne miejsce wykonywania tej działalności“) oder die schwedische („driftställe“ und „huvudsakligt verksamhetsställe“) Sprachfassung.

 

34        Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts folglich, dass sie, wenn ihre verschiedenen Sprachfassungen voneinander abweichen, anhand des Kontexts und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden muss, zu der sie gehört (Urteil vom 9. September 2020, TMD Friction und TMD Friction EsCo, C‑674/18 und C‑675/18, EU:C:2020:682, Rn. 89 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

35        Was erstens den Kontext der Regelung betrifft, ist festzustellen, dass der Begriff „Niederlassung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/848 in Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung enthalten ist, der das Kriterium für die internationale Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat als dem bestimmt, in dem sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung befindet.

 

36        Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung 2015/848 nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat.

 

37        Außerdem ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 der Verordnung 2015/848, dass, wenn ein Insolvenzverfahren nach Abs. 1 dieses Artikels eröffnet wurde, jedes zu einem späteren Zeitpunkt nach Abs. 2 dieses Artikels eröffnete Insolvenzverfahren ein Sekundärinsolvenzverfahren ist.

 

38        Der Unionsgesetzgeber hat sich also dafür entschieden, eine klare Unterscheidung zwischen dem Hauptinsolvenzverfahren im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 einerseits und dem Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung andererseits vorzunehmen. Wie sich aus den Erwägungsgründen 23, 24, 37 und 38 der Verordnung 2015/848 ergibt, ist das Vorhandensein einer „Niederlassung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung in einem Mitgliedstaat nur für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens in diesem Mitgliedstaat das entscheidende Kriterium. Dieser Begriff kann daher im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 nicht relevant sein.

 

39        Eine solche Auslegung steht zweitens im Einklang mit dem Ziel der Verordnung 2015/848, die Rechtssicherheit und die Vorhersehbarkeit der Bestimmung des zuständigen Gerichts durch Rückgriff auf objektive Kriterien zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Novo Banco, C‑253/19, EU:C:2020:585, Rn. 20).

 

40        Dieses Ziel würde jedoch gefährdet, wenn der Begriff „Hauptniederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 und der Begriff „Niederlassung“ in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung übereinstimmten, was zu einer Vermischung der für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens auf der einen und der für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens maßgeblichen Kriterien auf der anderen Seite führen würde.

 

41        Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Hauptniederlassung“ einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung definierten Begriff „Niederlassung“ entspricht.

 

Zur zweiten Frage

42        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet werden kann, dass sich der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

 

43        Wie aus Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung 2015/848 hervorgeht, ist das allgemeine Anknüpfungskriterium für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners. Für den besonderen Fall, dass der Schuldner eine natürliche Person ist, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, sieht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Verordnung eine widerlegbare Vermutung vor, wonach der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person ihre Hauptniederlassung ist.

 

44        Zum Ersten hat der Gerichtshof entschieden, dass „der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 anhand einer Gesamtwürdigung aller objektiven und von Dritten, insbesondere von Gläubigern, feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist, die geeignet sind, den tatsächlichen Ort zu bestimmen, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Novo Banco, C‑253/19, EU:C:2020:585, Rn. 22).

 

45        Es ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung 2015/848, dass zum einen die vorstehenden Erwägungen unterschiedslos für jeden Schuldner gelten, unabhängig davon, ob es sich um Gesellschaften, juristische oder natürliche Personen handelt, und dass zum anderen der Unionsgesetzgeber mit der Verwendung des Begriffs „Interessen“ in dieser Bestimmung alle wirtschaftlichen Tätigkeiten im Allgemeinen erfassen wollte.

 

46        Daher gelten erstens dieses allgemeine Anknüpfungskriterium für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sowie der auf objektiven und für Dritte feststellbaren Kriterien beruhende Ansatz, der für seine Anwendung zu wählen ist, auch für natürliche Personen, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Novo Banco, C‑253/19, EU:C:2020:585, Rn. 23). Zweitens werden im Hinblick auf den in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 verwendeten Begriff „Interessen“ ähnliche Kriterien, anhand deren der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person bestimmt werden kann, verwendet, unabhängig davon, ob diese Person eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt oder nicht, da sich diese Kriterien auf die wirtschaftliche Tätigkeit der letztgenannten Personengruppe beziehen.

 

47        In Bezug auf eine natürliche Person, die keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, hat der Gerichtshof klargestellt, dass zur Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer solchen Person die Kriterien maßgeblich sind, die sich insbesondere auf ihre wirtschaftliche Situation beziehen, d. h., es wird auf den Ort abgestellt, an dem diese Person der Verwaltung ihrer wirtschaftlichen Interessen nachgeht und an dem sie den überwiegenden Teil ihrer Einkünfte erzielt und ausgibt, oder aber auf den Ort, an dem sich der Großteil ihres Vermögens befindet (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, Novo Banco, C‑253/19, EU:C:2020:585, Rn. 24).

 

48        Was zum Zweiten die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 aufgestellte widerlegbare Vermutung betrifft, so ergibt sich bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sie der Verwaltung ihrer Interessen gewöhnlich am Ort ihrer Hauptniederlassung nachgeht, da eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass dieser Ort dem Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen entspricht. Demnach sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich die Hauptniederlassung befindet, für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen dieser natürlichen Person international zuständig, solange diese Vermutung nicht widerlegt wird.

 

49        Insoweit kann der bloße Umstand, dass für die selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit des Betroffenen keine Vermögenswerte oder kein Personal erforderlich sind, für sich genommen nicht ausreichen, um diese Vermutung zu widerlegen.

 

50        Die Belegenheit des Schuldnervermögens oder das gegebenenfalls zur Ausübung der selbständigen gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit eingesetzte Personal des Betroffenen sind zwar objektive, von Dritten feststellbare Kriterien, die bei der Bestimmung des Ortes, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht, zu berücksichtigen sind, doch kann die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannte Vermutung dennoch nur nach einer Gesamtbewertung einer Reihe objektiver, von Dritten feststellbarer Kriterien widerlegt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, Novo Banco, C‑253/19, EU:C:2020:585, Rn. 28).

 

51        Außerdem würde dieser Vermutung ihre praktische Wirksamkeit genommen, wenn sie dahin auszulegen wäre, dass sie zwingend das Vorhandensein von Vermögenswerten oder Personal am Ort der Hauptniederlassung des Betroffenen verlangt. Wie die Kommission in ihren Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, kann nämlich die selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit schon ihrem Wesen nach ohne solche Vermögenswerte oder solches Personal ausgeübt werden, so dass ein solches Erfordernis eine große Zahl von Personen, die eine solche Tätigkeit ausüben, vom Anwendungsbereich dieser Vermutung ausschlösse.

 

52        Im vorliegenden Fall hat das Landgericht Berlin den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge festgestellt, dass der Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender einer deutschen Aktiengesellschaft weder in Deutschland noch an einem anderen Ort auf Personal oder Vermögenswerte zurückgreife.

 

53        Auch wenn das Vorhandensein solchen Personals oder solcher Vermögenswerte für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Person nicht entscheidend ist, ist es gleichwohl Sache des zuständigen Gerichts, unter Berücksichtigung der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien zu bestimmen, wo sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners befindet, wobei es alle objektiven, für Dritte feststellbaren Faktoren zu berücksichtigen hat, die sich auf die wirtschaftliche Situation des Schuldners beziehen, wie insbesondere diejenigen, die die Bestimmung des Ortes ermöglichen, an dem diese Person der Verwaltung ihrer wirtschaftlichen Interessen nachgeht und an dem sie den überwiegenden Teil ihrer Einkünfte erzielt und ausgibt.

 

54        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

 

Zur dritten Frage

55        In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

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