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Wirtschaftsrecht
09.08.2012
Wirtschaftsrecht
BVerfG: Zulassung zum Börsenhandel im regulierten Markt genießt nicht den Schutz des Eigentumsgrundrechts

BVerfG, Urteil vom 11.7.2012 - 1 BvR 3142/07


Leitsätze


1. Der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt auf Antrag des Emittenten berührt grundsätzlich nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs (Art. 14 Abs. 1 GG).


2. Das für den Fall eines vollständigen Rückzugs von der Börse von den Fachgerichten im Wege einer Gesamtanalogie verlangte, gerichtlich überprüfbare Pflichtangebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs an die übrigen Aktionäre, deren Aktien zu erwerben, hält sich in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).


Sachverhalt


A. Die Verfassungsbeschwerden betreffen den Widerruf der Börsenzulassung von Aktien zum früheren amtlichen, jetzt regulierten Markt auf Antrag des Emittenten (sogenanntes freiwilliges oder reguläres Delisting).


I. ... II. 1. Die Beschwerdeführerin zu 1) ist Hauptaktionärin der M. AG (im Folgenden: M.). Im Mai 2004 beantragte sie beim Vorstand der M., auf der bevorstehenden Hauptversammlung über einen Antrag zum Widerruf der Börsenzulassung abstimmen zu lassen. Gleichzeitig unterbreitete sie als Hauptaktionärin den anderen Aktionären das Angebot, deren Aktien unter der Bedingung eines erfolgreichen Delisting zu einem Preis von 1,70 Euro pro Aktie zu übernehmen. Vorstand und Aufsichtsrat der Gesellschaft griffen den Antrag der Hauptaktionärin auf. Dabei stützten sie sich u. a. auf folgende Erwägungen: ... [wird ausgeführt].


Nach einem entsprechenden Beschluss der Hauptversammlung der M. wurden im Oktober 2004 auf Antrag der Gesellschaft die Zulassung zum damaligen amtlichen Markt der Börse widerrufen und Ende Dezember 2004 die Notierung der Aktie eingestellt. Einige der Aktionäre hielten das von der Beschwerdeführerin zu 1) unterbreitete Kaufangebot für zu niedrig und beantragten beim LG die Durchführung eines Spruchverfahrens zur Bestimmung der gebotenen Abfindung.


Das LG erklärte das Spruchverfahren im Wege einer Zwischenentscheidung für zulässig. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin zu 1) wies das KG mit Blick auf zwei Antragsteller sowie den nach § 6 SpruchG bestellten gemeinsamen Vertreter der nicht selbst am Verfahren beteiligten Aktionäre zurück. Nach einer Divergenzvorlage des KG erachtete der BGH die Anträge weiterer Aktionäre im Ergebnis für zulässig (BGH, 25.6.2008 - II ZB 39/07, BGHZ 177, 131). Das LG hat über die Begründetheit der Anträge bislang noch nicht entschieden.


LG und KG legten bei ihren mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen die sog. Macrotron-Rechtsprechung des BGH aus dem Jahr 2002 zugrunde (BGH, 25.11.2002 - II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, BB 2003, 806). Sie vertraten die Auffassung, die Antragsteller hätten gegen die Beschwerdeführerin zu 1) als Hauptaktionärin einen Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Abfindung. ...


2. Die Beschwerdeführerin zu 2) war Aktionärin der L. Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA). Mehrheitsaktionärin (Kommanditaktionärin) war die L. GmbH, die nach eigenen Angaben ursprünglich mehr als 95% der Anteile hielt; der Rest befand sich in Streubesitz. Im April 2006 wurde auf Antrag der L. KGaA die Zulassung der Aktien zum amtlichen Handel an der Münchener Börse widerrufen. Dem Antrag der Gesellschaft ging weder ein entsprechender Hauptversammlungsbeschluss voraus, noch wurde den Minderheitsaktionären ein Angebot zum Kauf ihrer Aktien unterbreitet. Der Widerruf wurde allerdings als sog. „Downgrading" vollzogen: Die Aktien wurden fortan weiter im sog. qualifizierten Freiverkehr, dem Segment „m:access" der Börse München, und - wie auch zuvor - im Freiverkehr der Börse Stuttgart gehandelt. Im Jahr 2010 wurden aufgrund eines Hauptversammlungsbeschlusses die Aktien der übrigen Aktionäre gegen Barabfindung auf den Hauptaktionär übertragen („Squeeze-out") und der Börsenhandel eingestellt. Im November 2010 vollzog die Kommanditgesellschaft auf Aktien einen Rechtsformwechsel in eine Kommanditgesellschaft, die unter L. KG firmiert.


Im Ausgangsverfahren, einem gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahren, beantragte die Beschwerdeführerin zu 2) neben weiteren Minderheitsaktionären unter Berufung auf die Macrotron-Rechtsprechung des BGH die Festsetzung einer angemessenen Barabfindung. Das Verfahren richtete sich gegen die Mehrheitsaktionärin (die L. GmbH als Antragsgegnerin zu 1) sowie die Gesellschaft selbst (die L. KGaA als Antragsgegnerin zu 2). Die Antragsgegnerinnen hielten das Spruchverfahren für unzulässig, weil es bereits an einem Hauptversammlungsbeschluss mit einem Pflichtangebot fehle, das Gegenstand der Überprüfung im Spruchverfahren sein könne. Zudem stelle der Wechsel vom amtlichen Markt (heute: regulierter Markt) in das Handelssegment „m:access" kein Delisting im Sinne der Macrotron-Rechtsprechung des BGH dar.


Das LG wies die Anträge zurück. Eine dagegen gerichtete sofortige Beschwerde zum OLG blieb erfolglos. ...


III. 1. Die Beschwerdeführerin zu 1) rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 100 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch die Entscheidungen des LG und des KG, die das gegen sie gerichtete Spruchverfahren für zulässig erachtet haben. Sie macht unter anderem geltend: ... [wird ausgeführt].


2. Die Beschwerdeführerin zu 2) rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des LG und des OLG, mit denen diese das beantragte Spruchverfahren für unzulässig befunden haben, die Verletzung ihres Eigentumsgrundrechts sowie ihres Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz. ... [wird ausgeführt].


Die zulässigen Verfassungsbeschwerden werden als nicht begründet abgewiesen.


Aus den Gründen


49        B. ... C. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerinnen nicht in ihren als verletzt gerügten verfassungsmäßigen Rechten. Insbesondere berührt der Widerruf der Börsenzulassung von Aktien im regulierten Markt (früher: amtlicher Markt) auf Antrag des Emittenten nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs (Art. 14 Abs. 1 GG). Das für den Fall eines vollständigen Rückzugs von der Börse von den Fachgerichten im Wege einer Gesamtanalogie zu den Vorschriften über andere gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahmen verlangte, gerichtlich überprüfbare Angebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs an die übrigen Aktionäre, deren Aktien zu erwerben, hält sich in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).


50        I. Land- und Oberlandesgericht waren im Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1569/08, in dem die Beschwerdeführerin zu 2) als Aktionärin in der Folge des Widerrufs der Börsenzulassung und des damit verbundenen „Downgrading" der Aktien in den qualifizierten, weitgehend börsenregulierten Freiverkehr ein gerichtlich überprüfbares und festzusetzendes Kaufangebot erstreiten wollte, von Verfassungs wegen nicht gehalten, diesem Begehren stattzugeben.


  • Das Delisting vom regulierten Markt berührt nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs

51        1. Der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt berührt nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs. Er nimmt dem Aktionär keine Rechtspositionen, die ihm von der Rechtsordnung als privatnützig und für ihn verfügbar zugeordnet sind; er lässt die Substanz des Anteilseigentums in seinem mitgliedschaftsrechtlichen und seinem vermögensrechtlichen Element unbeeinträchtigt.


52        a) Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet das Eigentum. Dazu gehört auch das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum, das im Rahmen seiner gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung durch Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis gekennzeichnet ist (vgl. BVerfGE 100, 289, 301 m. w. N.). Der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst die Substanz dieses Anteilseigentums in seiner mitgliedschaftsrechtlichen und vermögensrechtlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfGE 100, 289, 301 f.). Der Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts ist beispielsweise betroffen durch die Eingliederung der Aktiengesellschaft in einen Konzern (vgl. BVerfGE 14, 263), durch den Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages (vgl. BVerfGE 100, 289), aber auch durch den Ausschluss des Aktionärs („Squeeze-out", vgl. BVerfGK 11, 253). Entscheidend ist in diesen Fällen, dass der Aktionär seine in der Aktie verkörperte Rechtsposition verliert oder diese in der Substanz verändert wird.


53        Grundsätzlich nicht geschützt sind hingegen der bloße Vermögenswert des Aktieneigentums und der Bestand einzelner wertbildender Faktoren, insbesondere solcher, die die tatsächliche Verkehrsfähigkeit einer Aktie steigern. Daher umfasst der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums grundsätzlich nicht den wertbildenden Effekt marktregulierender und unternehmensbezogener Vorschriften des Aktien- und des Börsenrechts, die nach der Zielsetzung des Gesetzgebers Transparenz schaffen und in Ansehung der wirtschaftlichen Macht großer börsennotierter Aktiengesellschaften sowie ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung auch der Missbrauchsprävention und dem Wohl der Allgemeinheit dienen sollen. Auch wenn sie der Gesellschaft und ihren Organen Pflichten auferlegen oder Rechte einräumen, die mittelbar auch für den einzelnen Aktionär oder für die Gesamtheit der potentiellen Anleger von Nutzen sein mögen, werden sie dadurch nicht zum Schutzgegenstand des Art. 14 Abs. 1 GG. Denn sie sind dem einzelnen Aktionär nicht in privatnütziger Verfügbarkeit normativ zugeordnet. Vielmehr stellen sie und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten nur wirtschaftliche Chancen und Risiken dar, die nicht an der eigentumsmäßigen Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG teilhaben (vgl. BVerfGE 45, 142, 170 f., 172 f.; siehe auch BVerfGE 105, 252, 277 f.).


54        b) Hiervon ausgehend berührt der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt nicht den Schutzbereich des Art. 14 GG. Die Substanz des Aktieneigentums wird durch den Widerruf weder in seinem mitgliedschaftsrechtlichen noch in seinem vermögensrechtlichen Element berührt. ...


  • Die durch den Handel im regulierten Markt potentiell gesteigerte Verkehrsfähigkeit der Aktie ist kein Bestandteil des verfassungsrechtlich geschützten Anteilseigentums

57        aa) Die durch den Handel im regulierten Markt der Börse möglicherweise faktisch gesteigerte Verkehrsfähigkeit der Aktie nimmt nicht an der Gewährleistung des Aktieneigentums teil. Zwar ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die besondere Verkehrsfähigkeit der Aktie als eine „Eigenschaft" des Aktieneigentums anerkannt (vgl. BVerfGE 100, 289, 305). Damit zählt aber nur die rechtliche Verkehrsfähigkeit als solche zum erworbenen und von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Bestand. Ließe sich eine im Tatsächlichen gesteigerte Verkehrsfähigkeit feststellen, so erwiese sie sich als schlichte Ertrags- und Handelschance.


58        (1) Die mit der Zulassung der Aktie zum Handel im regulierten Markt verbundene Rechtsposition ist als solche kein subjektivöffentliches Recht des Aktionärs (§ 32 BörsG). Der Aktionär hat keinen Anspruch auf Zulassung zum Börsenhandel im regulierten Markt, auch wenn ihn dessen Auswirkungen betreffen (vgl. statt vieler Groß, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2009, § 32 BörsG Rn. IX 254, IX 295 m. w. N.).


59        (2) Die Börsenzulassung im regulierten Markt beeinflusst die rechtliche Verkehrsfähigkeit der Aktie nicht. Diese, verstanden als rechtliche Befugnis zur jederzeitigen Veräußerung in einem Markt, ist nicht berührt. Auch nicht börsennotierte Aktien sind nach der einfachrechtlichen Ausgestaltung ebenso verkehrsfähig. Sie dürfen grundsätzlich formfrei und ohne Bindung an eine gerade öffentlichrechtlich ausgestaltete Handelsplattform veräußert werden. Das unterscheidet sie von anderen gesellschaftsrechtlichen Beteiligungsformen, zum Beispiel der beurkundungspflichtigen Übertragung von GmbH-Anteilen (§ 15 Abs. 3 Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GmbHG) oder Sonderformen des Aktieneigentums, wie etwa der Vinkulierung (§ 68 Abs. 2 AktG).


60        (3) Die Handelbarkeit der Aktie in tatsächlicher Hinsicht ist grundsätzlich für die Frage des Bestandes und der Zuordnung des Aktieneigentums ohne Bedeutung. Insoweit sind lediglich die Veräußerungschancen am Markt betroffen und allenfalls die Zirkulationsfähigkeit der Aktie faktisch beeinträchtigt. Die Funktionsfähigkeit eines Marktes wird durch das Eigentumsgrundrecht nicht gewährleistet. Die Teilnahme der Aktie gerade am öffentlichrechtlich organisierten börslichen Preisbildungs- und Handelssystem ist mithin nicht Gegenstand des Eigentumsschutzes (vgl. dazu Adolff/Tieves, BB 2003, S. 797; Ekkenga, ZGR 2003, S. 878, 882 ff.; Mülbert, ZHR 165 (2001), S. 104, 114, und in FS Hopt, 2010, S. 1039, 1053 ff.; anders Hellwig/Bormann, ZGR 2002, S. 465, 473 ff.; Hofmann, in: FS Hopt, 2010, S. 833, 845; Kruse, WM 2003, S. 1843, 1845 f.).


61        (4) Nach allem handelt es sich im Blick auf das vermögensrechtliche Element des Aktieneigentums bei der Börsenzulassung im regulierten Markt um einen wertbildenden Faktor, wie er sich für die Aktie auch sonst in verschiedener Hinsicht findet und auch dort nur als verfassungsrechtlich nicht geschützte Marktchance begriffen wird, so etwa bei der Aufnahme in einen Aktienindex, der die Nachfrage nach der Aktie in beachtlichem Maße beeinflussen kann. ...


  • Die aufgrund der Börsenzulassung zur Anwendung kommenden besonderen rechtlichen Regeln sind keine verfassungsrechtlich geschützten Elemente privatnützigen Eigentums

63        bb) Die Börsenzulassung zum regulierten Markt lässt sich nicht wegen der durch sie vermittelten Geltung zahlreicher Sondervorschriften für börsennotierte Aktiengesellschaften im Aktien- und Handelsrecht (1) oder wegen der im regulierten Markt zur Anwendung gelangenden börsenrechtlichen Standards (2) als Eigentumsbestandteil qualifizieren.


64        (1) Mit der Zulassung zum Handel ihrer Aktien im regulierten Markt unterliegt die Gesellschaft einer Reihe von Sondervorschriften. Allein im Aktiengesetz findet sich für börsennotierte Gesellschaften eine Vielzahl von Regelungen, etwa zu den Vorstandsbezügen (§ 87 Abs. 1 AktG), zur Verjährungsfrist bei der Vorstandshaftung (§ 93 Abs. 6 AktG), zum Wechsel eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat (§ 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG), zur Anzahl der Aufsichtsratssitzungen (§ 110 Abs. 3 AktG), zu den Einberufungsvorschriften für die Hauptversammlung (§§ 121 ff. AktG), zur Niederschrift der Hauptversammlung (§ 130 AktG), zu den Bekanntmachungen (§§ 149, 248a AktG) sowie zum Corporate Governance Codex (§ 161 AktG). Auf börsennotierte Aktiengesellschaften sind weitere kapitalmarkt- und bilanzrechtliche Sondervorschriften anzuwenden, so etwa nach dem Wertpapierhandelsgesetz. Grundsätzlich wird im Bilanzrecht nach der Größe der Kapitalgesellschaft differenziert; börsennotierte Aktiengesellschaften werden an das Bilanzrecht der großen Kapitalgesellschaften gebunden (§ 267 Abs. 3 S. 2 i. V. m. § 264d HGB).


65        Während der Gesetzgeber bislang kein einheitliches, in sich geschlossenes Gesellschaftsrecht für börsennotierte Aktiengesellschaften geschaffen hat, lässt sich bei mehreren seiner Vorhaben der letzten Jahre doch das Ziel feststellen, die Kontrolle und Transparenz im Bereich der börsennotierten Unternehmen sowie die Publizität zu stärken. Die Regelungen sollen zum Teil die Struktur der börsennotierten Aktiengesellschaften für potentielle - auch ausländische - Anleger transparenter machen und diesen mehr Informationen für ihre Investitions- oder auch Deinvestitionsentscheidung verschaffen. Zugleich hat der Gesetzgeber mit verschiedenen Änderungen des Aktienrechts für die börsennotierten Gesellschaften auch auf von ihm als solche wahrgenommene Missstände reagiert. Die Vorschriften sollen zu einer besseren Unternehmenskultur und zu einem größeren Unternehmenserfolg beitragen und insbesondere vor Fehlentwicklungen schützen. Wegen der hohen volkswirtschaftlichen Bedeutung der börsennotierten Aktiengesellschaften hat der Gesetzgeber damit zum Ausdruck gebracht, dass ein Gemeinwohlinteresse am Funktionieren dieser Rechtsform besteht. Gleichzeitig dient das enge, auf Transparenz zielende Regelungskorsett der Kontrolle der in börsennotierten Aktiengesellschaften vorhandenen wirtschaftlichen Macht im Blick auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (vgl. etwa Bayer, in: FS Hopt, 2010, S. 373, 383; siehe auch K. Schmidt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, Einleitung Rn. 9 f.).


66        Dieses dichte Regelwerk für börsennotierte Aktiengesellschaften dient mittelbar auch den Vermögens- und Mitgliedschaftsinteressen des einzelnen Aktionärs, kommt ihm aber lediglich als Reflex zugute und erhebt das besondere Regelungsregime für die börsennotierte Aktiengesellschaft deswegen nicht zu einem Schutzgegenstand seines Aktieneigentums. Die Bestimmungen lassen sich in der Zusammenschau nicht dazu heranziehen, sie dem Aktieneigentum im Sinne einer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition zuzuordnen. Sie erweisen sich in ihrer Gesamtheit nicht als privatnützige Befugnisse des einzelnen Aktionärs, sondern sind lediglich durch das Aktieneigentum vermittelte Vorteile.


67        (2) Gleiches gilt für die durch die Börsenzulassung im regulierten Markt bedingten börsenrechtlichen Schutzstandards. Das öffentlichrechtliche Handelsregime, namentlich die Befugnisse der Börsenaufsicht (§ 3 Abs. 3 BörsG) und die Zulassungsfolgepflichten sollen die ordnungsgemäße Durchführung des Handels gewährleisten und Missständen vorbeugen (vgl. Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 35. Aufl. 2012, § 3 BörsG Rn. 7; Groß, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2009, § 3 BörsG Rn. IX 76). Dieser Standard des Börsenrechts dient dem öffentlichen Interesse an der Transparenz, der Qualität und der Effizienz des Marktes für die Kapitalaufnahme durch die Unternehmen und an der Handelbarkeit der Aktie. Der Schutz des Kapitalmarktes und der Anleger lässt sich hingegen nicht im Sinne privatnütziger Verfügbarkeit dem einzelnen Aktionär zuordnen. Das schließt nicht aus, dass sich der Aktionär möglicherweise auf einzelne börsenrechtliche Bestimmungen im Sinne eines einfachrechtlichen subjektiven Rechts berufen kann.



  • Der Vermögenswert der Beteiligung wird durch den Widerruf nicht in einer das Aktieneigentum möglicherweise wirtschaftlich in seiner Substanz verletzenden Weise ausgezehrt

68        cc) Es kann dahingestellt bleiben, ob der verfassungsrechtlich zu gewährleistende Schutz des Aktieneigentums in seinem vermögensrechtlichen Element eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte, wenn mit dem Widerruf regelmäßig ein Kursverfall einträte, der nach seinem Ausmaß die wirtschaftliche Substanz des Aktieneigentums träfe. Denn ein solcher Effekt lässt sich jedenfalls für die hier in Rede stehenden Zeiträume ab 2004 und die heutigen Verhältnisse nicht mehr tragfähig belegen. Ein regelhaft zu verzeichnender Kursverfall nach Ankündigung der Widerrufsabsicht lässt sich nach keiner der Stellungnahmen sachkundiger Dritter hinreichend abstützen.


69        2. Die im Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) ergangenen angegriffenen Entscheidungen verletzen vor diesem Hintergrund deren Eigentumsgrundrecht nicht. Auch das hier in Rede stehende sogenannte „Downgrading" ohne ein im Spruchverfahren überprüfbares Pflichtangebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Fachgerichte haben bei ihrer Rechtsauslegung die grundrechtliche Gewährleistung des Aktieneigentums nicht verfehlt. Sie sind zwar davon ausgegangen, dass eine durch die Börsenzulassung im regulierten Markt gesteigerte Verkehrsfähigkeit vom Schutz des Eigentumsgrundrechts erfasst wird. Ist der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG durch den Widerruf der Börsenzulassung indessen gar nicht berührt, unterliegen die Entscheidungen der Fachgerichte im Ausgangsverfahren schon deshalb im Ergebnis keinen verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 14 GG.


70        3. Der Justizgewährungsanspruch der Beschwerdeführerin zu 2) ist nicht verletzt (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG). Der Rechtsschutzgewähr kommt hier neben Art. 14 Abs. 1 GG keine eigenständige Bedeutung zu. Die Beschwerdeführerin zu 2) erstrebt insoweit eine gesetzlich nicht vorgesehene verfahrensrechtliche Absicherung einer ihres Erachtens von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsposition. Ist ein Pflichtangebot jedoch von Verfassungs wegen nicht geboten, so bedarf es insoweit auch keines Rechtsschutzes zur Überprüfung der Angemessenheit des Angebots.


71        II. Auch die Zwischenentscheidungen im Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR 3142/07, mit denen die Fachgerichte das gegen die Beschwerdeführerin zu 1) beantragte Spruchverfahren zur Überprüfung des von ihr unterbreiteten Aktien-Kaufangebots für zulässig erachtet haben, sind keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt.


  • Aus einer Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen hergeleitetes Pflichtangebot

72        1. Die Würdigung von Landgericht und Kammergericht, bei dem Angebot der Beschwerdeführerin zu 1) handele es sich um ein Pflichtangebot, das aus einer Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen herzuleiten sei (§§ 305, 320b, 327b AktG, §§ 29, 207 UmwG), sowie die daran geknüpfte entsprechende Anwendung von § 1 SpruchG wahren die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Entscheidungsbefugnis (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).


73        a) Die Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte steht mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in Einklang, wenn sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegt. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG dem Einzelnen, dass ihm gegenüber ergehende Entscheidungen diesen Anforderungen genügen (vgl. BVerfGE 128, 193, 206 ff.).


74        Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. Von daher ist auch eine analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften sowie die Schließung von Regelungslücken von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden. Rechtsfortbildung stellt keine unzulässige richterliche Eigenmacht dar, sofern durch sie der erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt wird (vgl. BVerfGE 82, 6, 11 ff.). Der Gesetzgeber hat dies auch seit langem anerkannt und dem obersten Zivilgericht die Aufgabe der Rechtsfortbildung ausdrücklich überantwortet (vgl. § 132 Abs. 4 GVG, § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO). Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigierend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen.


75        Richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen (vgl. BVerfGE 82, 6, 12; 128, 193, 210*). Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich vielmehr darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfGE 118, 212, 243; 128, 193, 210).


76        Auch die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang Regelungslücken bestehen oder gewandelte Verhältnisse weiterführende rechtliche Antworten erfordern, obliegt zuvörderst den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht darf deren Würdigung daher grundsätzlich nicht durch seine eigene ersetzen. Seine Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die rechtsfortbildende Auslegung durch die Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung und deren Ziele respektiert und ob sie den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgt (vgl. BVerfGE 96, 375, 395; zuletzt BVerfGE 128, 193, 210 f. m. w. N.).


  • Die Rechtsfortbildung der Fachgerichte steht nicht in Widerspruch zu gesetzgeberischen Grundentscheidungen und folgt den anerkannten Auslegungsmethoden

77        b) Diesen Maßstäben hält die von der Beschwerdeführerin zu 1) angegriffene Gesamtanalogie stand. Die Fachgerichte haben sich mit ihrer Rechtsfortbildung nicht in Widerspruch zu gesetzgeberischen Grundentscheidungen gesetzt; ihre Würdigung widerstreitet auch nicht den anerkannten Auslegungsmethoden.


78        aa) Das geschriebene Recht enthält allerdings keine gesetzliche Bestimmung, die vorschreibt, im Falle des Widerrufs der Zulassung zum regulierten Markt der Börse müsse der Mehrheitsaktionär oder die Gesellschaft selbst den Minderheitsaktionären einen Ausgleich für eine Beeinträchtigung der Handelbarkeit anbieten. Eine Schutzbestimmung findet sich allein auf der Ebene des Kapitalmarktrechts. Insoweit sieht § 39 Abs. 2 BörsG aber lediglich vor, dass der Widerruf dem Schutz der Anleger nicht widersprechen darf, überlässt die nähere Ausgestaltung indessen den einzelnen Börsenordnungen.


79        bb) Die Ausgangsgerichte haben diesen Schutz für unzureichend erachtet und einen näheren Interessenausgleich unter Rückgriff auf eine Gesamtanalogie zu gesellschaftsrechtlichen Regelungen für erforderlich gehalten. Diese Annahme eines Regelungsbedürfnisses ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist insbesondere, dass sich die Fachgerichte an der Gesamtanalogie nicht von vornherein durch die kapitalmarktrechtliche Anlegerschutzbestimmung des § 39 Abs. 2 BörsG deshalb gehindert gesehen haben, weil diese Vorschrift als abschließend erachtet werden müsste (vgl. Krämer/Theiß, AG 2003, S. 225, 235). Der Gesetzeshistorie und der Gesetzessystematik lassen sich dafür keine verlässlichen Gründe entnehmen (vgl. BTDrucks 13/8933, S. 182, siehe auch Adolff/Tieves, BB 2003, S. 797, 798; a. A. Wilsing/Kruse, WM 2003, S. 1110, 1113).


80        cc) Die Fachgerichte durften in einfachrechtlicher Würdigung auch ein Pflichtangebot für gesellschaftsrechtlich geboten erachten. Von Verfassungs wegen waren sie zwar nicht gehalten (siehe oben C. I. 1.), aber auch nicht gehindert, die Ausgangslage beim Widerruf der Börsenzulassung im regulierten Markt wertungsmäßig als derjenigen anderer Maßnahmen ähnlich gelagert zu erachten, für die der Gesetzgeber ausdrücklich ein überprüfbares Pflichtangebot vorgesehen hat. Sie durften jene Bestimmungen in ihrem Grundgedanken auf den Widerruf der Börsenzulassung übertragen. ...


85        dd) Ebenso wenig ist gegen die entsprechende Anwendung der Vorschriften des Spruchverfahrensgesetzes durch die Fachgerichte verfassungsrechtlich etwas zu erinnern. Ist die Gesamtanalogie hinsichtlich des materiellen Rechts, des Erfordernisses eines Pflichtangebots bei einem vollständigen Rückzug von der Börse, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, so gilt das auch für die entsprechende Anwendung des hier dem materiellen Recht dienenden Prozessrechts, um die Angemessenheit des angebotenen Kaufpreises einer Überprüfung zuführen zu können. ...


90        3. Das Ergebnis einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Gesamtanalogie widerstreitet nicht der Annahme, dass der Widerruf der Börsenzulassung den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts nicht berührt. Für die Frage, ob eine richterliche Rechtsfortbildung noch verfassungsgemäß ist, kommt es nicht darauf an, ob sie auch auf Art. 14 Abs. 1 GG zurückgeführt werden kann. Allerdings war die Rechtsentwicklung zur Gesamtanalogie davon mitausgelöst, dass der Bundesgerichtshof in seiner Macrotron-Entscheidung (BGH, 25.11.2002 - II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, BB 2003, 806) seinerzeit das Aktieneigentum (Art. 14 GG) berührt sah. Dies wirkt sich aber auf die hier zu treffende Entscheidung im Ergebnis nicht aus. Diese Rechtsprechung sucht einen Interessenausgleich, der unabhängig davon trägt, ob er einfachrechtlich oder verfassungsrechtlich fundiert ist. Ob eine richterliche Rechtsauslegung verfassungsrechtlich die Gesetzesbindung übersteigt und daher unzulässig ist, beurteilt sich nicht nach den Motiven für sie, sondern allein danach, ob die Auslegung als solche die Grenzen verfassungsrechtlich statthafter Rechtsfortbildung wahrt.


91        Die Gesamtanalogie - mit dem Ergebnis, bei einem freiwilligen Delisting ein gerichtlich überprüfbares Pflichtangebot zu verlangen - ist also von Verfassungs wegen zulässig, aber nicht geboten. Es bleibt der weiteren Rechtsprechung der Fachgerichte überlassen, auf der Grundlage der mittlerweile gegebenen Verhältnisse im Aktienhandel zu prüfen, ob die bisherige Spruchpraxis Bestand hat und zu beurteilen, wie der Wechsel vom regulierten Markt in den qualifizierten Freiverkehr in diesem Zusammenhang zu bewerten ist.

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