BGH: Zulässige und begründete Anhörungsrüge für nachträgliche Zulassung der Rechtsbeschwerde nötig
BGH, Beschluss vom 21.9.2023 – IX ZB 52/22
ECLI:DE:BGH:2023:210923BIXZB52.22.0
Volltext BB-Online BBL2024-449-4
Amtlicher Leitsatz
Beschlüsse, die auf sofortige Beschwerde ergangen sind und der Rechtsbeschwerde unterliegen, sind in entsprechender Anwendung von § 318 ZPO unabänderlich und damit grundsätzlich bindend; eine nachträgliche Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das Beschwerdegericht setzt eine zulässige und begründete Anhörungsrüge voraus (Fortsetzung von BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2018 - IX ZB 31/18, BGHZ 220, 90 ff).
InsO § 4; ZPO §§ 318, 321a Abs. 5
Aus den Gründen
I.
1 Am 1. Februar 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet und der weitere Beteiligte zu 2 (nachfolgend: Beteiligter 1zu 2) zum Insolvenzverwalter bestellt. Die weitere Beteiligte zu 1 (nachfolgend: Beteiligte zu 1) ist Gläubigerin mit einer zur Tabelle festgestellten Forderung. Auf Antrag der Beteiligten zu 1 sowie zweier weiterer Gläubiger wurde eine Gläubigerversammlung durchgeführt. Die Gläubigerversammlung beschloss mit Stimmenmehrheit, beim Insolvenzgericht einen Antrag auf Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters zu stellen. Das Insolvenzgericht lehnte den Antrag ab. Gegen diesen Beschluss hat die Beteiligte zu 1 sofortige Beschwerde eingelegt. Das Insolvenzgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen.
2 Das Beschwerdegericht hat die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 1. Dezember 2022 durch die Einzelrichterin verworfen. Die Rechtsbeschwerde 2wurde nicht zugelassen. Hiergegen hat die Beteiligte zu 1 "Gegenvorstellung und Rüge gemäß § 321a ZPO analog" erhoben. Daraufhin hat die Einzelrichterin mit Beschluss vom 5. Januar 2023 das Beschwerdeverfahren fortgeführt, den Beschluss vom 1. Dezember 2022 aufgehoben und die Sache auf die Kammer übertragen. Mit Beschluss vom 27. Januar 2023 hat das Beschwerdegericht durch die Kammer die sofortige Beschwerde verworfen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Die Beteiligte zu 1 hat sowohl gegen den Beschluss vom 1. Dezember 2022 als auch gegen den Beschluss vom 27. Januar 2023 Rechtsbeschwerde eingelegt.
II.
3 Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts vom 27. Januar 2023 ist zulässig und führt zur Aufhebung des Beschlusses der 3Kammer vom 27. Januar 2023 in vollem Umfang und des Beschlusses der Einzelrichterin vom 5. Januar 2023 insoweit, als darin der Beschluss vom 1. Dezember 2022 aufgehoben worden ist. Sie ist jedoch zurückzuweisen, soweit die Beteiligte zu 1 eine Entscheidung in der Sache erstrebt. Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss vom 1. Dezember 2022 ist unzulässig.
4 1. Das Beschwerdegericht hat im Beschluss vom 1. Dezember 2022 ausgeführt, dass die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen sei, weil es bereits gegen 4den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts kein Rechtsmittel gebe. Mit Beschluss vom 5. Januar 2023 hat die Einzelrichterin ihre Entscheidung vom 1. Dezember 2022 aufgehoben und die Sache auf die Kammer übertragen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde im Beschluss vom 1. Dezember 2022 sei nicht auf der Grundlage der Zulassungsgründe des § 574 Abs. 2 ZPO getroffen worden, sondern beruhe auf einem zirkulären Schluss. Es liege eine Rechtssache mit grundsätzlicher Bedeutung vor; über die Zulassung der Rechtsbeschwerde habe die Kammer zu entscheiden. Mit Beschluss vom 27. Januar 2023 hat die Kammer angenommen, dass der Beteiligten zu 1 kein Beschwerderecht gegen die die Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters ablehnende Entscheidung des Insolvenzgerichts zustehe und die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
5 2. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
6 a) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts über die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist allerdings für den Senat bindend (§ 574 Abs. 3 Satz 2 6 ZPO ), ohne dass es darauf ankommt, ob das Beschwerdegericht die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO zutreffend beurteilt hat (BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2008 - XI ZB 24/07, WM 2008, 2201 Rn. 9; vom 27. April 2021 - VIII ZB 44/20, NJW-RR 2021, 737 Rn. 10) und ob das Verfahren auf die Rüge der Beteiligten zu 1 fortgesetzt werden durfte (vgl. zur Fortsetzung eines Verfahrens auf eine Anhörungsrüge BGH, Beschluss vom 20. September 2022 - XI ZB 4/22, WM 2022, 2147 Rn. 15). Zwar bindet eine verfahrensfehlerhaft erfolgte nachträgliche Zulassung der Rechtsbeschwerde das Rechtsbeschwerdegericht nicht (BGH, Beschluss vom 12. März 2009 - IX ZB 193/08, WM 2009, 1058 Rn. 7 ff; vom 28. Februar 2018 - XII ZB 634/17, NJW-RR 2018, 900 Rn. 7; vom 18. Oktober 2018 - IX ZB 31/18, BGHZ 220, 90 Rn. 7). Das Beschwerdegericht hat aber nicht lediglich eine isolierte Entscheidung über die nachträgliche Zulassung der Rechtsbeschwerde getroffen. Vielmehr hat die Kammer nach der Übertragung der Sache durch die Einzelrichterin insgesamt eine neue Entscheidung erlassen sowie dabei die Rechtsbeschwerde zugelassen. Bei dieser Sachlage ist die neue Entscheidung wirksam zur Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht gestellt worden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 6/18, WM 2018, 1900 Rn. 4; vom 18. Oktober 2018, aaO; vom 20. September 2022, aaO).
7 b) In der Sache hat die Rechtsbeschwerde nur insofern Erfolg, als die angefochtene Entscheidung vom 27. Januar 2023 vollständig und die Zwischenentscheidung vom 5. Januar 2023, soweit darin der Beschluss der Einzelrichterin vom 1. Dezember 2022 aufgehoben worden ist, aufzuheben sind. Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
8 aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat das Rechtsmittelgericht die Entscheidung des unteren Gerichts, aufgrund einer Anhörungsrüge 8(§ 321a ZPO ) das Verfahren fortzuführen, darauf zu überprüfen, ob die Anhörungsrüge statthaft, zulässig und begründet war (BGH, Urteil vom 14. April 2016 - IX ZR 197/15, WM 2016, 2147 Rn. 9 ff; vom 20. September 2022 - XI ZB 4/22, WM 2022, 2147 Rn. 17). Zwar ist der Rechtsbehelf der Beteiligten zu 1 nicht als Anhörungsrüge auszulegen. Die Rüge ist von den Instanzbevollmächtigten der Beteiligten zu 1 ausdrücklich nur auf eine analoge Anwendung des § 321a ZPO gestützt worden. Zudem wäre eine Anhörungsrüge nicht zulässig, weil eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten zu 1 auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise gemäß § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO nicht dargetan ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2019 - I ZR 192/17, juris Rn. 2; vom 16. Juni 2020 - VIII ZR 300/18, juris Rn. 2). Die unterbliebene Zulassung der Rechtsbeschwerde als solche kann den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Parteien ist verfahrensfehlerhaft übergangen worden (BGH, Beschluss vom 13. Mai 2020 - VII ZB 41/19, WM 2020, 1436 Rn. 14 mwN). Letzteres hat die Beteiligte zu 1 nicht geltend gemacht. Das Beschwerdegericht hat auch ersichtlich keinen Vortrag außer Acht gelassen, der für die Zulassungsentscheidung erheblich war. Vielmehr hat die Einzelrichterin im Rahmen des Beschlusses vom 1. Dezember 2022 die Zulassung der Rechtsbeschwerde in Erwägung gezogen und diese mit einer Begründung abgelehnt.
9 bb) Ob über die Bestimmungen der Anhörungsrüge hinaus eine Rüge analog § 321a Abs. 1 ZPO bei schwerwiegenden formellen oder materiellen Mängeln in Betracht kommt (ablehnend Wieczorek/Schütze/Rensen, ZPO , 5. Aufl., § 321a Rn. 85; vgl. zur analogen Anwendung des § 133a FGO BFH, Beschluss vom 24. Oktober 2007 - X S 19/07, juris Rn. 10), kann dahinstehen. Die Überprüfung der Voraussetzungen der Verfahrensfortsetzung durch das Rechtsbeschwerdegericht muss jedenfalls auch dann erfolgen, wenn die Rüge auf eine analoge Anwendung des § 321a ZPO gestützt wird (ebenso BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 6/18, WM 2018, 1900 Rn. 8 zur Verfahrensfortsetzung auf eine Gegenvorstellung). Aus den allgemeinen Bestimmungen des Rechtsmittelrechts ergibt sich, dass das Rechtsmittelgericht die Entscheidung des unteren Gerichts, ein Verfahren fortzuführen, nach einem (unterstellt) zulässigen Rechtsmittel zu überprüfen hat (BGH, Urteil vom 14. April 2016 - IX ZR 197/15, WM 2016, 2147 Rn. 10). Steht die Verfahrensfortführung aufgrund eines gesetzlich nicht vorgesehenen, hier auf die analoge Anwendung des § 321a ZPO gestützten Rechtsbehelfs in Frage, können keine geringeren Anforderungen gelten. Denn es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, auf einen gesetzlich nicht vorgesehenen Rechtsbehelf hin eine Fortsetzung des Verfahrens durch das untere Gericht anders als im Fall des Bestehens einer gesetzlichen Regelung ohne Überprüfungsmöglichkeit zuzulassen.
10 cc) Nach diesem Maßstab war das Beschwerdegericht nicht berechtigt, auf die von der Beteiligten zu 1 erhobene Rüge hin das Verfahren fortzuführen 10 und eine erneute Entscheidung in der Sache zu treffen.
11 (1) Ob die unterlassene Zulassung der Rechtsbeschwerde als Verstoß gegen andere Verfahrensgrundrechte in analoger Anwendung von § 321a ZPO überhaupt mit einer Gegenvorstellung gerügt werden kann, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Dies käme nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur in Betracht, wenn die Zulassung zuvor willkürlich unterblieben ist oder eine unzumutbare, sachlich nicht mehr zu rechtfertigende Verkürzung des Instanzenzugs vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2018 - IX ZB 31/18, BGHZ 220, 90 Rn. 20; vom 28. Februar 2018 - XII ZB 634/17, FamRZ 2018, 936 Rn. 8 mwN; vom 14. Juni 2023 - XII ZB 517/22, juris Rn. 16).
12 (2) Die Beschlüsse vom 5. und 27. Januar 2023 lassen jedoch nicht erkennen, dass das Beschwerdegericht eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten der Beteiligten zu 1 geprüft und angenommen hat, dass seine ursprüngliche Entscheidung, die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen, objektiv willkürlich gewesen wäre oder den Instanzenzug unzumutbar und in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verkürzt hätte. Vielmehr beruhte die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde im Beschluss vom 1. Dezember 2022, wie auch von der Beteiligten zu 1 im Schriftsatz vom 8. Dezember 2022 geltend gemacht, auf einem Zirkelschluss. Sowohl das Gebot des gesetzlichen Richters als auch das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes schützen nicht vor jeder fehlerhaften Anwendung der Prozessordnung, sondern setzen eine willkürlich unterlassene Zulassung oder eine unzumutbare, sachlich nicht mehr zu rechtfertigende Verkürzung des Instanzenzugs voraus (BGH, Urteil vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, NJW 2011, 1516 Rn. 10). Die Erwägungen der Einzelrichterin zur Rechtsbeschwerdemöglichkeit mögen zwar zirkelschlüssig gewesen sein und nicht der gesetzlichen Systematik der Zivilprozessordnung entsprochen haben. Sie stellen sich im vorliegenden Fall jedoch nicht als willkürlich, sondern lediglich als einfacher Rechtsanwendungsfehler dar.
13 dd) Die Einzelrichterin war auch nicht aufgrund der Gegenvorstellung der Beteiligten zu 1 zu einer Änderung ihres Beschlusses vom 1. Dezember 2022 berechtigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine nachträgliche Zulassung einer Revision gegen Urteile auf eine Gegenvorstellung stets unwirksam (BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2018 - IX ZB 31/18, BGHZ 220, 90 Rn. 17 mwN). Für die nachträgliche Zulassung der Rechtsbeschwerde auf eine Gegenvorstellung kann nach Auffassung des Senats nichts Anderes gelten, wenn das Gericht nach den Bestimmungen der jeweiligen Prozessordnung - wie hier - nicht befugt ist, seine getroffene Entscheidung zu ändern (BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2018, aaO Rn. 18; ebenso für das Zwangsversteigerungsverfahren BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 6/18, WM 2018, 1900 Rn. 11). Neben der Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO kommt eine in der Zivilprozessordnung nicht vorgesehene Durchbrechung der materiellen Rechtskraft im Wege einer Gegenvorstellung nicht in Betracht (BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2015 - VI ZR 25/14, juris Rn. 1; vom 2. Dezember 2015 - I ZB 107/15, juris Rn. 2; vom 21. März 2018 - I ZB 118/17, juris Rn. 3; vom 27. Juli 2018 - I ZB 101/17, juris Rn. 1). Die Gegenvorstellung widerspricht den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Rechtsmittelklarheit, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr abänderbar ist (BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2018, aaO Rn. 19).
14 c) Keinen Bestand hat auch der Beschluss der Einzelrichterin vom 5. Januar 2023 insoweit, als darin der Beschluss vom 1. Dezember 2022 aufgehoben 14 worden ist. Die Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts erstreckt sich auch auf eine solche Zwischenentscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2016 - IX ZR 197/15, NJW 2016, 3035 Rn. 10; Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 6/18, WM 2018, 1900 Rn. 8, 16 ). Zudem sind die Rüge analog § 321a ZPO und die Gegenvorstellung gegen den Beschluss vom 1. Dezember 2022 - nachdem die Übertragung auf die Kammer gemäß § 568 Satz 3 ZPO an sich nicht angreifbar ist und damit die Entscheidung über diese Rügen aufgrund der Zulassung der Rechtsbeschwerde in der Rechtsbeschwerdeinstanz angefallen sind und die Sache insoweit entscheidungsreif ist - aus den dargelegten Gründen zurückzuweisen.
15 3. Die gegen den Beschluss vom 1. Dezember 2022 eingelegte Rechtsbeschwerde ist nicht statthaft und daher unzulässig. Die Rechtsbeschwerde zum 15 Bundesgerichtshof ist gegen Beschwerdeentscheidungen der Landgerichte nur gegeben, wenn dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ) oder wenn das Beschwerdegericht sie in dem Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO ). Diese Voraussetzungen liegen unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen in Bezug auf den Beschluss der Einzelrichterin vom 1. Dezember 2022 nicht vor.
16 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 4 InsO , § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO .