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Wirtschaftsrecht
23.02.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Voraussetzungen für die Erlangung des Schutzes für ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses („Sattelunterseite“)

EuGH, Urteil vom 16.2.2023 – C-472/21, Monz Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG gegen Büchel GmbH & Co. Fahrzeugtechnik KG

ECLI:EU:C:2023:105

Volltext: BB-Online BBL2023-449-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen ist dahin auszulegen, dass das Erfordernis der „Sichtbarkeit“, das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt. Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner „bestimmungsgemäßen Verwendung“ durch den Endbenutzer aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei diese bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. 1998, L 289, S. 28).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Monz Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG (im Folgenden: Monz) und der Büchel GmbH & Co. Fahrzeugtechnik KG (im Folgenden: Büchel) wegen eines Antrags von Büchel auf Feststellung der Nichtigkeit eines eingetragenen nationalen Designs.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 98/71

3          Im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 98/71 heißt es:

„Der Schutz sollte sich weder auf Bauelemente erstrecken, die während der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses nicht sichtbar sind, noch auf Merkmale eines Bauelements, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist, oder die selbst nicht die Voraussetzungen der Neuheit oder Eigenart erfüllen. Merkmale eines Musters, die aus diesen Gründen vom Schutz ausgenommen sind, sollten bei der Beurteilung, ob andere Merkmale des Musters die Schutzvoraussetzungen erfüllen, nicht herangezogen werden.“

4          Art. 1 („Begriffe“) dieser Richtlinie lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie

a) ist ein ‚Muster oder Modell‘ (nachstehend ‚Muster‘ genannt) die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt;

b) ist ein ‚Erzeugnis‘ jeder industrielle oder handwerkliche Gegenstand, einschließlich – unter anderem – von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern; ein Computerprogramm gilt jedoch nicht als ‚Erzeugnis‘;

c) ist ein ‚komplexes Erzeugnis‘ ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann.“

5          Art. 3 („Schutzvoraussetzungen“) der Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten schützen Muster durch Eintragung und gewähren den Inhabern von Mustern nach Maßgabe dieser Richtlinie ausschließliche Rechte.

(2) Ein Muster wird durch ein Musterrecht geschützt, wenn es neu ist und Eigenart hat.

(3) Das Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisse[s] ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt nur dann als neu und hat nur dann Eigenart,

a) wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und

b) soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen.

(4) ‚Bestimmungsgemäße Verwendung‘ im Sinne des Absatzes 3 Buchstabe a) bedeutet die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.“

6          Art. 5 („Eigenart“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Ein Muster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Muster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit vor dem Tag seiner Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, am Prioritätstag zugänglich gemacht worden ist.“

Verordnung (EG) Nr. 6/2002

7          In den Erwägungsgründen 9 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) heißt es:

„(9) Die materiellrechtlichen Bestimmungen dieser Verordnung über das Geschmacksmusterrecht sollten den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 98/71… angepasst werden.

(12) Der Schutz sollte sich weder auf Bauelemente erstrecken, die während der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses nicht sichtbar sind, noch auf Merkmale eines Bauelements, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist, oder die selbst nicht die Voraussetzungen der Neuheit oder Eigenart erfüllen. Merkmale eines Geschmacksmusters, die aus diesen Gründen vom Schutz ausgenommen sind, sollten bei der Beurteilung, ob andere Merkmale des Geschmacksmusters die Schutzvoraussetzungen erfüllen, nicht herangezogen werden.“

8          Art. 4 („Schutzvoraussetzungen“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Ein Geschmacksmuster wird durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat.

(2) Ein Geschmacksmuster, das in einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt nur dann als neu und hat nur dann Eigenart:

a) wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt … und

b) soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen.

(3) ‚Bestimmungsgemäße Verwendung‘ im Sinne des Absatzes 2 Buchstabe a) bedeutet Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Instandhaltungs‑, Wartungs- oder Reparaturarbeiten.“

Deutsches Recht

9          § 1 Nr. 4 und § 4 des Gesetzes über den rechtlichen Schutz von Design vom 24. Februar 2014 (BGBl. 2014 I S. 122) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: DesignG) setzen Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 um.

10        Nach § 1 („Begriffsbestimmungen“) Nr. 3 DesignG ist ein komplexes Erzeugnis ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann. Nach § 1 Nr. 4 DesignG ist eine „bestimmungsgemäße Verwendung“ die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.

11        § 4 („Bauelemente komplexer Erzeugnisse“) DesignG bestimmt, dass ein Design, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu gilt und nur dann Eigenart hat, wenn das Bauelement, das in ein komplexes Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12        Monz, eine Gesellschaft deutschen Rechts, ist Inhaberin eines Designs, das seit dem 3. November 2011 beim Deutschen Patent- und Markenamt (im Folgenden: DPMA) für die Erzeugnisse „Sättel für Fahrräder oder Motorräder“ eingetragen ist. Dieses Design ist mit einer einzigen Darstellung eingetragen, die die Unterseite eines Sattels wie folgt zeigt:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


13        Büchel, eine Gesellschaft deutschen Rechts, beantragte am 27. Juli 2016 beim DPMA die Feststellung der Nichtigkeit dieses Designs und machte zur Begründung geltend, dass es die nach § 4 DesignG für die Erlangung rechtlichen Designschutzes erforderlichen Voraussetzungen nicht erfülle. Insbesondere sei dieses Design, das bei einem Sattel benutzt werde, bei dem es sich um ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses wie eines „Fahrrads“ oder eines „Motorrads“ handele, bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses nicht sichtbar.

14        Mit Entscheidung vom 10. August 2018 wies das DPMA den Nichtigkeitsantrag zurück. Zur Begründung führte es aus, dass für das fragliche Design kein Schutzausschlussgrund nach § 4 DesignG bestehe. Zwar sei der Fahrradsattel, bei dem dieses Design benutzt werde, ein „Bauelement eines komplexen Erzeugnisses“, doch bleibe dieses Bauelement bei bestimmungsgemäßer Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar. Zur bestimmungsgemäßen Verwendung eines solchen Erzeugnisses zähle auch „ein nicht der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur dienendes Ab- und Aufmontieren des Sattels“, da Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur in einer abschließenden Aufzählung von Verwendungen genannt würden, die nach § 1 Nr. 4 DesignG vom Begriff der bestimmungsgemäßen Verwendung ausgenommen seien.

15        Auf eine gegen diese Entscheidung gerichtete Beschwerde von Büchel hin erklärte das Bundespatentgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Februar 2020 das fragliche Design für nichtig, da es nicht den Erfordernissen der Neuheit und der Eigenart genüge. Nach § 4 DesignG seien von vornherein nur solche Bauelemente einem rechtlichen Designschutz zugänglich, die „nach Einbau/Einfügung in das komplexe Erzeugnis als dessen Bestandteil sichtbar“ blieben. Hingegen könne bei einem Bauelement, das erst durch oder bei Trennung von einem komplexen Erzeugnis sichtbar werde, nicht davon ausgegangen werden, dass es die Voraussetzung der Sichtbarkeit erfülle, so dass es diesen Schutz nicht genießen könne. Als bestimmungsgemäße Verwendung im Sinne von § 1 Nr. 4 DesignG seien nur das Fahren mit dem Fahrrad sowie das Auf- und Absteigen anzusehen. Im Rahmen dieser Verwendungen sei die Sattelunterseite aber weder für den Endbenutzer noch für einen Dritten sichtbar.

16        Gegen diese Entscheidung legte Monz beim Bundesgerichtshof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Rechtsbeschwerde ein. Nach Ansicht dieses Gerichts hängt die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung der Begriffe „Sichtbarkeit“ und „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 ab.

17        Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, es teile die Auffassung des Bundespatentgerichts, dass nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die insbesondere auf das Urteil vom 20. Dezember 2017, Acacia und D’Amato (C‑397/16 und C‑435/16, EU:C:2017:992, Rn. 64), zurückgehe, ein Fahrrad ein komplexes Erzeugnis und der Sattel ein Bauelement dieses Erzeugnisses sei.

18        Zur Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits sei erstens zu klären, ob das Erfordernis, dass ein Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei „bestimmungsgemäßer Verwendung“ dieses Erzeugnisses „sichtbar“ bleiben müsse, unter Berücksichtigung bestimmter Bedingungen der Nutzung des Erzeugnisses oder bestimmter Betrachterperspektiven zu prüfen sei oder ob es vielmehr allein auf die objektive Möglichkeit ankomme, das Design zu erkennen, das bei dem Bauelement in der Form, wie es in das komplexe Erzeugnis eingefügt sei, benutzt werde.

19        Insoweit habe das Bundespatentgericht angenommen, es sei erforderlich, dass das Bauelement im Rahmen der durch den Endbenutzer erfolgenden bestimmungsgemäßen Verwendung des komplexen Erzeugnisses, in das dieses Bauelement eingefügt sei, für den Endbenutzer oder einen Dritten sichtbar bleibe. Dagegen habe die Rechtsbeschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens geltend gemacht, es reiche für die Schutzfähigkeit des Designs aus, dass es erkennbar sei, wenn das Bauelement, bei dem es benutzt werde, in das komplexe Erzeugnis eingebaut worden sei. Es sei daher irrelevant, ob das Design aus einer bestimmten „Perspektive“ leicht zu sehen sei.

20        In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 und meint, dass der Zweck dieser Vorschriften nicht eindeutig aus dieser Richtlinie hervorgehe.

21        Das vorlegende Gericht führt u. a. aus, die Erwägung, dass einem Hersteller, der keinen Wert auf die Sichtbarmachung eines Designs lege, ein Interesse an der Inanspruchnahme von Musterschutz abzusprechen sei, greife zu kurz, da keine zwingende Identität zwischen Designinhaber, Hersteller des Bauelements und Hersteller des komplexen Erzeugnisses bestehe.

22        Ferner sei zu beachten, dass die fragliche Vorschrift dem Schrifttum zufolge dem Grundsatz zuwiderlaufe, dass die Fähigkeit, rechtlichen Designschutz zu genießen, bereits bei der Eintragung des betreffenden Designs feststehen müsse.

23        Diese Erwägungen sprächen für eine enge Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71.

24        Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass zwar die allgemeinsprachliche Bedeutung des Wortes „sichtbar“ ein objektives Verständnis nahelege, das sich auf die Möglichkeit der Wahrnehmung beziehe, aus dem Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ aber nicht abgeleitet werden könne, dass bestimmte Formen der Betrachtung des komplexen Erzeugnisses ausgeschlossen seien.

25        Zweitens seien die Kriterien zu bestimmen, die für die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 relevant seien.

26        Insoweit stelle sich insbesondere die Frage, ob es bei einer solchen Beurteilung auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder nur auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer ankomme.

27        Die Definition des Begriffs „bestimmungsgemäße Verwendung“ in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 könne so verstanden werden, dass für den Unionsgesetzgeber jede Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer grundsätzlich eine bestimmungsgemäße Verwendung sei, vorbehaltlich der in dieser Vorschrift genannten Ausnahmen.

28        Zum Kriterium des vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszwecks führt das vorlegende Gericht aus, dass seine Anwendung es erlauben würde, den Ausschluss vom rechtlichen Designschutz zu vermeiden, da die Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch die Endbenutzer dann unerheblich wäre. Das Gericht erinnert aber an seine in Rn. 21 des vorliegenden Urteils dargelegten Bedenken hinsichtlich dieses Kriteriums.

29        Drittens sei fraglich, ob nur der Hauptverwendungszweck des komplexen Erzeugnisses maßgeblich sei oder ob gegebenenfalls auch weitere Verwendungszwecke dieses Erzeugnisses in Betracht zu ziehen seien.

30        Insoweit befürwortet das vorlegende Gericht eine weite Auslegung von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71, um die Wirkungen von deren Art. 3 Abs. 3, der im Schrifttum als der Logik des Designschutzsystems zuwiderlaufend angesehen wird, zu minimieren und eine größere Ungleichbehandlung der Inhaber von Designs, mit denen Bauelemente komplexer Erzeugnisse versehen werden, im Vergleich zu den Inhabern sonstiger Designs zu vermeiden.

31        Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann „sichtbar“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?

2. Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:

a) Kommt es für die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?

b) Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer „bestimmungsgemäß“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 ist?

Vorlagefragen

32        Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen zum einen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass das Erfordernis der „Sichtbarkeit“, das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf bestimmte Bedingungen der Nutzung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist oder ob es allein auf die objektive Möglichkeit ankommt, das Muster zu erkennen, das bei dem Bauelement in der Form, wie es in das komplexe Erzeugnis eingebaut ist, benutzt wird. Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welche Kriterien es für die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer ankommt.

33        Diese Fragen werden im Rahmen eines Rechtsstreits gestellt, der auf den Antrag von Büchel zurückgeht, das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Design für nichtig zu erklären, weil es keinen rechtlichen Designschutz genießen könne, da der Sattel als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses wie eines „Fahrrads“ oder „Motorrads“ bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses nicht sichtbar sei.

34        Vorab ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall – vor dem Hintergrund, dass ein Fahrrad bzw. ein Motorrad für sich genommen ein komplexes Erzeugnis im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 98/71 darstellt – der Sattel eines Fahrrads oder eines Motorrads ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses im Sinne von Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie ist. Ein Sattel lässt sich nämlich ersetzen, so dass das Fahrrad bzw. das Motorrad auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und ohne den Sattel könnte dieses komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Acacia und D’Amato, C‑397/16 und C‑435/16, EU:C:2017:992, Rn. 64 bis 66).

35        Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71, betrachtet im Licht deren zwölften Erwägungsgrundes, ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu gilt und nur dann Eigenart hat, wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt (Buchst. a) und soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen (Buchst. b).

36        Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 enthält somit eine Sonderregelung speziell für Muster, die bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 98/71 ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt werden.

37        Sodann ist darauf hinzuweisen, dass es gemäß Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/71 die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon ist, die Gegenstand des rechtlichen Musterschutzes im Sinne dieser Richtlinie ist.

38        Im Zusammenhang mit dem in der Verordnung Nr. 6/2002 geregelten Schutz von Geschmacksmustern hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Erscheinungsform das entscheidende Merkmal eines Geschmacksmusters ist und die Tatsache, dass ein Merkmal eines Geschmacksmusters sichtbar ist, eine wesentliche Voraussetzung für diesen Schutz darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2017, Easy Sanitary Solutions und EUIPO/Group Nivelles, C‑361/15 P und C‑405/15 P, EU:C:2017:720, Rn. 62 und 63, sowie vom 28. Oktober 2021, Ferrari, C‑123/20, EU:C:2021:889, Rn. 30).

39        Speziell in Bezug auf Geschmacksmuster, die in ein Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, eingefügt werden, hat der Gerichtshof klargestellt, dass, damit die Erscheinungsform des Bauelements eines komplexen Erzeugnisses als Geschmacksmuster geschützt werden kann, dieses Bauelement definitionsgemäß sichtbar und durch Merkmale abgegrenzt sein muss, die seine besondere Erscheinungsform bilden, d. h. durch Linien, Konturen, Farben, die Gestalt oder eine besondere Oberflächenstruktur. Dies setzt voraus, dass die Erscheinungsform dieses Bauelements nicht vollständig in dem Gesamterzeugnis untergeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2021, Ferrari, C‑123/20, EU:C:2021:889, Rn. 49 und 50).

40        Insoweit ist davon auszugehen, dass diese Grundsätze auch für das in der Richtlinie 98/71 vorgesehene Musterschutzsystem gelten.

41        So verlangt Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement, um Musterschutz genießen zu können, bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben muss. Ferner heißt es im zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass sich der Schutz weder auf Bauelemente erstrecken sollte, die während der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses nicht sichtbar sind, noch auf Merkmale eines Bauelements, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist, oder die selbst nicht die Voraussetzungen der Neuheit oder Eigenart erfüllen.

42        Diese Beschränkung des rechtlichen Musterschutzes auf die sichtbaren Merkmale des betreffenden Bauelements erklärt sich dadurch, dass sich die Erscheinungsform dieses Bauelements ausschließlich aus diesen Merkmalen ergibt.

43        Diese Auslegung wird durch die Systematik der Richtlinie 98/71 sowie durch den Zweck ihres Art. 3 Abs. 3 gestützt. Der Musterschutz im Sinne dieser Richtlinie gilt nämlich nur für Merkmale, die die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon prägen. Ein sichtbares Bauelement hat zwangsläufig an der Erscheinungsform des komplexen Erzeugnisses teil (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Acacia und D’Amato, C‑397/16 und C‑435/16, EU:C:2017:992, Rn. 73).

44        Außerdem geht aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71 klar hervor, dass das in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement, um rechtlichen Musterschutz genießen zu können, „bei … bestimmungsgemäßer Verwendung“ dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben muss.

45        Daraus folgt, dass eine abstrakte Beurteilung der Sichtbarkeit des in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements ohne Bezug zu jedweder konkreten Situation der Verwendung dieses Erzeugnisses nicht genügt, damit ein solches Bauelement den Musterschutz nach der Richtlinie 98/71 genießen kann. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 verlangt aber wohlgemerkt nicht, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung des komplexen Erzeugnisses vollständig sichtbar bleibt.

46        Wie der Generalanwalt in den Nrn. 33 und 34 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ist die Sichtbarkeit eines in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 4 nämlich nicht allein aus der Sicht des Endbenutzers dieses Erzeugnisses zu beurteilen. Insoweit ist auch die Sichtbarkeit eines solchen Bauelements für einen außenstehenden Beobachter zu berücksichtigen.

47        Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 dahin gehend definiert wird, dass darunter „die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur“, zu verstehen ist. Nach dieser Definition entspricht die „bestimmungsgemäße Verwendung“ der Verwendung durch den Endbenutzer. Hiervon ausdrücklich ausgenommen sind Verwendungen durch den Endbenutzer, die unter Instandhaltung, Wartung oder Reparatur des komplexen Erzeugnisses fallen.

48        Insoweit ist zu klären, ob der Begriff der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 dem vom Hersteller oder Entwickler des Bauelements intendierten Verwendungszweck, dem vom Hersteller oder Entwickler des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder der üblichen Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer entspricht.

49        Was erstens die Frage anbelangt, ob die „bestimmungsgemäße Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses dem vom Hersteller des Bauelements intendierten Verwendungszweck, dem vom Hersteller des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder der üblichen Verwendung dieses Erzeugnisses durch den Endbenutzer entspricht, ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 gemäß seinem Wortlaut auf die „bestimmungsgemäße Verwendung“ des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellt.

50        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in der deutschen Sprachfassung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 zwar als Kriterium für die Sichtbarkeit eines in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements die „bestimmungsgemäße Verwendung“ genannt wird, in anderen Sprachfassungen dieser Vorschriften wie etwa der englischen („normal use“), der französischen („utilisation normale“), der italienischen („la normale utilizzazione“), der spanischen („la utilización normal“) oder der niederländischen („normaal gebruik“) Sprachfassung aber angegeben wird, dass das in ein komplexes Erzeugnis eingefügte Bauelement bei der „normalen“ oder „üblichen“ Verwendung dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben muss.

51        Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen der Sache nach festgestellt hat, deckt sich die normale oder übliche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer in der Regel mit einer Verwendung gemäß der Bestimmung des komplexen Erzeugnisses, die dessen Hersteller oder Entwickler beabsichtigt hat.

52        Indessen wollte der Unionsgesetzgeber, wie die Kommission zum Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Wesentlichen ausgeführt hat, auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellen, um eine Verwendung dieses Erzeugnisses auf anderen Handelsstufen auszuschließen und auf diese Weise einer Umgehung des Sichtbarkeitserfordernisses vorzubeugen. Die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Richtlinie 98/71 kann daher nicht allein auf die Absicht des Herstellers des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses gestützt werden.

53        Was zweitens die Frage betrifft, welche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer eine „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 darstellt, ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass in dieser Bestimmung nicht näher angegeben wird, welche Art der Verwendung eines solchen Erzeugnisses von diesem Begriff erfasst wird, sondern allgemein auf die Verwendung eines solchen Erzeugnisses durch den Endbenutzer Bezug genommen wird, für eine weite Auslegung dieses Begriffs spricht.

54        Wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erfordert die Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion in der Praxis oft verschiedene Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis diese Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa die Aufbewahrung oder den Transport des Erzeugnisses. Folglich ist davon auszugehen, dass die „bestimmungsgemäße Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 alle diese Handlungen umfasst, mit Ausnahme derjenigen, die in diesem Abs. 4 ausdrücklich ausgenommen sind, nämlich Handlungen, die mit Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zusammenhängen.

55        Somit muss der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 die Handlungen, die mit der üblichen Verwendung eines Erzeugnisses zusammenhängen, sowie weitere Handlungen, die anlässlich einer solchen Verwendung vernünftigerweise vorgenommen werden können und aus Sicht des Endbenutzers üblich sind, umfassen, einschließlich der Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa Aufbewahrung oder Transport des Erzeugnisses.

56        Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass das Erfordernis der „Sichtbarkeit“, das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt. Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner „bestimmungsgemäßen Verwendung“ durch den Endbenutzer aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei diese bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

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