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Wirtschaftsrecht
29.05.2015
Wirtschaftsrecht
BGH: Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung bei Ausgabe völlig wertloser Aktien

BGH, Urteil vom 17.3.2015 VI ZR 11/14

Amtliche Leitsätze

a) § 513 Abs. 2 ZPO und § 545 Abs. 2 ZPO finden Anwendung, wenn die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Erstgerichts nicht von denselben Voraussetzungen abhängt, die für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte maßgebend sind.

b) Zu den Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB wegen der Ausgabe völlig wertloser Aktien.

ZPO § 513 Abs. 2; § 545 Abs. 2; LuGÜ II Art. 5 Nr. 3; BGB § 826

Sachverhalt

Die Klägerin begehrt aus abgetretenem Recht ihres Bruders von den Beklagten Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der ES AG, einer nicht börsennotierten Schweizer Aktiengesellschaft mit Sitz in der Schweiz.

Geschäftsgegenstand der ES AG, die 22 Millionen Namensakten zu einem Nennwert von 0,01 Schweizer Franken herausgegeben hatte, war das Factoring. Aus dem operativen Geschäft erzielte sie ausweislich ihrer Bilanzen verhältnismäßig geringe Erlöse, denen Ausgaben unter anderem für Dienstleistungen und Beratungen gegenüberstanden. Der Großteil der Umsätze erfolgte durch den Verkauf ihrer eigenen Aktien sowie der Aktien ihrer Hauptaktionärin, der I. SA mit Sitz auf den Bahamas, die 62 % der Aktien der ES AG hielt. Die Aktien wurden von bei der ES AG angestellten Telefonverkäufern unter anderem in Deutschland über eine unselbständige Niederlassung in Düsseldorf an Privatanleger veräußert. Ein Wertpapierprospekt stand auf der Webseite der ES AG zum Download bereit. In gedruckter Form wurde der Prospekt potentiellen Anlegern nur auf Anforderung übersandt.

Der Beklagte zu 1 war vom 8. November 2004 bis zum 18. Februar 2010 Mitglied des Verwaltungsrates und Geschäftsführer der ES AG. Der Beklagte zu 2 war vom 8. November 2004 bis zum 27. November 2008, nach dem Vortrag der Klägerin bis zum 5. Januar 2009, Präsident des Verwaltungsrates der ES AG.

Der Zedent erwarb zwischen dem 28. November 2006 und dem 5. August 2009 insgesamt 20.000 Namensaktien für zusammen 61.000 €. Die Aktienkäufe erfolgten jeweils nach Telefonaten zwischen dem Zedenten und einem Mitarbeiter der Zweigniederlassung der ES AG in Düsseldorf. Die Zahlungen leistete der Zedent von seinem in Deutschland geführten Konto auf ein ebenfalls in Deutschland geführtes Konto der ES AG. Am 18. Juni 2010 wurde über das Vermögen der ES AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Die von dem Zedenten gezeichneten Aktien sind wertlos.

Die Klägerin macht geltend, der Beklagte zu 1 habe die Telefonverkäufer angewiesen, Kaufinteressenten durch unrichtige Angaben über die Umsätze und Gewinne sowie einen geplanten Börsengang der ES AG zu täuschen. Über die Risiken der Anlage sei der Zedent nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden. Ihm seien bei der telefonischen Beratung falsche Angaben über die Umsätze und Gewinne aus dem operativen Geschäft gemacht worden. Der Beklagte zu 2 hätte für eine ordnungsgemäße Aufklärung interessierter Anleger Sorge tragen und den Beklagten zu 1 entsprechend überwachen müssen.

Das LG hat den Beklagten zu 1 antragsgemäß u.a. zum Ersatz des Anlagebetrages verurteilt und die Klage gegen den Beklagten zu 2 abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung des Beklagten zu 1 hat das OLG auch die gegen ihn gerichtete Klage abgewiesen. Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Klägerin führte zur Zurückverweisung.

Aus den Gründen

14 II. … 1. Zutreffend hat das Berufungsgericht … die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte bejaht, die auch im Revisionsrechtszug von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. Senatsurteile vom 2. März 2010 - VI ZR 23/09, BGHZ 184, 313 Rn. 7 [RIW 2010, 326]; vom 5. Oktober 2010 - VI ZR 159/09, BGHZ 187, 156 Rn. 8 [BB-Entscheidungsreport Breckheimer, BB 2010, 3049]; vom 31. Mai 2011 - VI ZR 154/10, BGHZ 190, 28 Rn. 16 [RIW 2011, 636], jeweils mwN und vom 24. Juni 2014 - VI ZR 315/13, WM 2014, 1614 Rn. 12 [RIW 2015, 307]) …

16        2. Ohne Erfolg macht die Revisionserwiderung geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass ihm die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 513 Abs. 2 ZPO verwehrt sei.

17        a) Nach § 513 Abs. 2 ZPO kann die Berufung nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Ob dies vorliegend der Fall ist, ist einer revisionsrechtlichen Überprüfung entzogen, denn gemäß § 545 Abs. 2 ZPO kann die Revision nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen oder verneint hat. Demgemäß findet in der Revisionsinstanz eine Prüfung der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts grundsätzlich auch dann nicht statt, wenn die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte vom Revisionsgericht zu prüfen ist (BGH, Beschluss vom 20. September 2010 - XI ZR 57/08, juris [RIW 2010, 729 Ls]; im Ergebnis ebenso BGH, Urteil vom 9. Juli 2009 - Xa ZR 19/08, BGHZ 182, 24 Rn. 7 ff.; zu § 549 Abs. 2 ZPO a.F. vom Senat noch offen gelassen im Urteil vom 16. Dezember 1997 - VI ZR 408/96, VersR 1998, 378, 379 [RIW 1998, 475]; OLG Köln, Urteil vom 19. Februar 2014 - 6 U 163/13, juris Rn. 7; aA Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 24 EuGVVO Rn. 33). Zu der insoweit entsprechenden Regelung in § 549 Abs. 2 ZPO a.F. hat der Bundesgerichtshof allerdings entschieden, dass diese Vorschrift bezüglich der örtlichen Zuständigkeit nicht anzuwenden ist, soweit daneben die internationale Zuständigkeit im Streit ist und beide Zuständigkeiten von denselben Voraussetzungen abhängen (BGH, Urteil vom 21. November 1996 - IX ZR 264/95, BGHZ 134, 127, 130 [RIW 1997, 149]). Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben, denn der Erfolgsort lag nach dem Vortrag der Klägerin …  in Deutschland. Während sich die Frage, ob das Landgericht örtlich zuständig war, danach richtet, ob der Erfolgsort in seinem Bezirk liegt, kommt es für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nur darauf an, ob sich das geschädigte Guthaben des Zedenten an irgendeinem Ort in Deutschland befand. Die Frage der örtlichen Zuständigkeit hängt vorliegend mithin nicht von denselben Voraussetzungen ab, die für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte maßgebend sind.

18        b) Diese Auslegung von § 545 Abs. 2 ZPO verstößt weder gegen deutsches Verfassungsrecht noch gegen Unionsrecht. Zwar führen § 513 Abs. 2 und § 545 Abs. 2 der deutschen Zivilprozessordnung dazu, dass die nach Unionsrecht zu bestimmende örtliche Zuständigkeit - anders als die internationale Zuständigkeit - in der Berufungsinstanz (im Falle ihrer erstinstanzlichen Bejahung) und in der Revisionsinstanz grundsätzlich nicht mehr überprüft werden kann. Die Normen verstoßen jedoch nicht gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität. Das Unionsrecht läuft durch § 513 Abs. 2, § 545 Abs. 2 ZPO nicht leer, weil die erstinstanzlich international zuständigen deutschen Gerichte berufen sind, ihre örtliche Zuständigkeit entsprechend den unionsrechtlichen Bestimmungen zu prüfen und das Unionsrecht wie das deutsche Verfassungsrecht keinen Instanzenzug vorschreibt …

22        3. Die angefochtene Entscheidung hält jedoch in der Sache revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

23        a) Zu Recht … hat das Berufungsgericht seiner Beurteilung deutsches Deliktsrecht zugrunde gelegt. Dies folgt, soweit die Klägerin ihre Klage auf Aktienerwerbe vor dem 11. Januar 2009 stützt, aus Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB und für Aktienerwerbe ab dem 11. Januar 2009 auf Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-Verordnung).

24        b) Die Angriffe der Revision bleiben im Ergebnis auch insoweit ohne Erfolg, als sie sich gegen die Verneinung einer Haftung wegen unzureichender Aufklärung über die mit der Anlage verbundenen Risiken richten … [Denn] nach den getroffenen Feststellungen beruht der eingetretene Schaden nicht auf einer unzureichenden Aufklärung des Anlegers …

25        c) Mit Erfolg wendet sich die Revision aber dagegen, dass das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gemäß § 826 BGB unter dem Gesichtspunkt des Vertriebs eines von vornherein chancenlosen Geschäftsmodells verneint hat.

26        aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haftet ein Vermittler wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB, wenn sein Geschäftsmodell darauf angelegt ist, für den Anleger chancenlose Geschäfte zum ausschließlich eigenen Vorteil zu vermitteln (BGH, Urteile vom 9. März 2010 - XI ZR 93/09, BGHZ 184, 365 Rn. 26 [RIW 2010, 391]; vom 2. Februar 1999 - XI ZR 381/97, VersR 1999, 976 [BB 1999, 605] und vom 22. November 2005 - XI ZR 76/05, VersR 2006, 365). Wie das Berufungsgericht nicht verkennt, ist eine Haftung unter diesem Gesichtspunkt nicht auf Vermittler und nicht auf solche Fallgestaltungen beschränkt, bei denen es allein darum geht, durch möglichst viele Geschäfte hohe Gewinne aufgrund überhöhter Gebühren und Aufschläge zu realisieren. So kann sich ein Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB auch gegen Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft richten und insbesondere dann in Betracht kommen, wenn ein Anleger völlig wertlose Aktien dieser Gesellschaft erwirbt (vgl. Senatsurteil vom 11. September 2012 - VI ZR 92/11, VersR 2012, 1525 Rn. 21 ff. [BB-Entscheidungsreport Gärtner, BB 2012, 2973]). Dies kann dann der Fall sein, wenn sich das Geschäftsmodell der Gesellschaft als von vornherein chancenlos erweist und die Aktien praktisch allein zu dem Zweck ausgegeben werden, sich auf Kosten des Anlegers zu bereichern.

27        bb) Das Berufungsgericht hält einen solchen Fall vorliegend für nicht gegeben …

29        cc) …dd) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Frage, ob das Geschäftsmodell der ES AG von vornherein chancenlos war, wesentlichen Sachvortrag der Parteien unbeachtet gelassen. Zutreffend weist die Revision auf eine Reihe von Umständen hin, die in ihrer Gesamtheit zu einer anderen Beurteilung des Geschäftsmodells führen könnten, vom Berufungsgericht in diesem Zusammenhang aber außer Acht gelassen worden sind.

30        So ist zu berücksichtigen, dass die ES AG 22 Millionen Namensaktien zu einem Nennwert von je 0,01 CHF ausgegeben hat und diese den Anlegern unstreitig zu Preisen von 1,60 € bis zu 5,20 € verkauft worden sind. Damit überstieg der Verkaufspreis der Aktien deren Nennwert um mehr als das 159- bis 519-fache. Umstände, die ein Aufgeld in dieser Höhe bei einem jungen Unternehmen als gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, waren und sind nicht ansatzweise erkennbar. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass diese - von der ES AG selbst festgelegten - hohen Ausgabepreise mit aus dem Factoring zu erwartenden Erträgen korrespondierten. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen erzielte die Gesellschaft aus dem Factoring nämlich nur geringe Einnahmen. Nach dem nicht bestrittenen Vortrag der Klägerin betrug der Umsatz aus dem operativen Geschäft im Geschäftsjahr 2007/2008 1,6 % und im Geschäftsjahr 2008/2009 3,1 % des gesamten Umsatzes der ES AG. Der Ertragsanteil aus dem Verkauf eigener Aktien betrug dagegen 98,4 % bzw. 96,9 %. Auch wenn der Geschäftszweck der ES AG nicht ausschließlich in dem Verkauf eigener Aktien bestand, so können diese Umsatzzahlen doch darauf hindeuten, dass in Wahrheit darin der Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit lag und das Factoring von ihr nicht ernsthaft und eher nur am Rande betrieben wurde. Nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung dieser Umstände zu einer anderen Bewertung des Beweisergebnisses und des Vortrags der Beklagten gekommen wäre. Die Revision verweist daneben auf zahlreiche weitere Fakten, die für die Beurteilung der Werthaltigkeit der ausgegebenen Aktien von Bedeutung sein können, so auf mehrfach erfolgte bilanzielle Wertberichtigungen, auf den Verwendungszweck der entnommenen Gewinne, auf erhebliche Barabhebungen, auf hohe Aufwendungen u.a. für Beraterverträge und Niederlassungen der Gesellschaft, auf entstandene Emissionskosten sowie auf hohe Zahlungen an die Hauptaktionärin der ES AG. Diese Auffälligkeiten können bei der Bewertung des Geschäftsmodells der Gesellschaft nicht unberücksichtigt bleiben. Sie sind in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen, die - gegebenenfalls unter Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe - nachzuholen sein wird.

31        ee) Die für einen Schadensersatzanspruch wegen des Vertriebs völlig wertloser Aktien erforderliche Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden kann auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht verneint werden, zumal der Zedent zu dieser Frage nicht gehört worden ist.

32        III. Das Berufungsurteil kann daher gegenüber beiden Beklagten keinen Bestand haben, sondern ist aufzuheben (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Da das Berufungsgericht keine eigenen Feststellungen zu den subjektiven Voraussetzungen eines Sittenverstoßes und zum Schädigungsvorsatz der Beklagten und bezüglich des Beklagten zu 2 - aus seiner Sicht folgerichtig - auch keine Feststellungen zum konkreten Inhalt seiner Pflichten getroffen hat, ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei der erneuten Befassung zu beachten haben, dass die Klägerin ihr ursprüngliches Feststellungsbegehren nicht weiterverfolgt, die Zug-um-Zug-Einschränkung fallengelassen und den Zahlungsantrag zuletzt unbeschränkt gestellt hat.

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