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Wirtschaftsrecht
22.06.2012
Wirtschaftsrecht
EuGH: Voraussetzungen einer Freistellung hinsichtlich selektiver Vertriebssysteme im Kraftfahrzeugsektor

EuGH, Urteil vom 14.6.2012 - C‑158/11


betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 29. März 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 1. April 2011, in dem Verfahren


Auto 24 SARL


gegen


Jaguar Land Rover France SAS


erlässt


DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)


unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und A. Arabadjiev,


Generalanwalt: J. Mazák,


Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,


aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2012,


unter Berücksichtigung der Erklärungen


- der Auto 24 SARL, vertreten durch R. Bertin, avocat,


- der Jaguar Land Rover France SAS, vertreten durch J. Vogel und L. Boudailliez, avocats,


- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und J. Gstalter als Bevollmächtigte,


- der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Mongin, A. Biolan und F. Ronkes Agerbeek als Bevollmächtigte,


aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,


folgendes


Urteil


1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (ABl. L 203, S. 30, im Folgenden: Verordnung).


2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Auto 24 SARL (im Folgenden: Auto 24) und der Jaguar Land Rover France SAS (im Folgenden: JLR) wegen der Weigerung Letzterer, Auto 24 als Vertragshändlerin für Neuwagen der Marke LAND ROVER zuzulassen.


Rechtlicher Rahmen


Unionsrecht


3 Die auf der Grundlage von Art. 1 der Verordnung Nr. 19/65/EWG des Rates vom 2. März 1965 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen (ABl. 1965, Nr. 36, S. 533) erlassene Verordnung regelt eine Freistellung vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG für bestimmte Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (im Folgenden: Freistellung).


4 Die Erwägungsgründe 1 sowie 4 bis 8 der Verordnung lauten:


„(1) Auf der Grundlage der im Kraftfahrzeugsektor mit dem Vertrieb von neuen Kraftfahrzeugen ... gewonnenen Erfahrungen lassen sich Gruppen von vertikalen Vereinbarungen bestimmen, bei denen die Voraussetzungen von Artikel 81 Absatz 3 in der Regel als erfüllt gelten können.


...


(4) In den Genuss der Freistellung sollten nur vertikale Vereinbarungen gelangen, von denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass sie die Voraussetzungen von Artikel 81 Absatz 3 erfüllen.


(5) Vertikale Vereinbarungen im Sinne dieser Verordnung können die wirtschaftliche Effizienz innerhalb einer Produktions- oder Vertriebskette erhöhen, indem sie eine bessere Koordinierung zwischen den beteiligten Unternehmen ermöglichen; sie können insbesondere zur Senkung der Transaktions- und Distributionskosten der Beteiligten und zur Optimierung ihrer Umsätze und Investitionen beitragen.


(6) Die Wahrscheinlichkeit, dass die effizienzsteigernden Wirkungen stärker ins Gewicht fallen als wettbewerbsschädliche Wirkungen, die von Beschränkungen in vertikalen Vereinbarungen verursacht werden, hängt von der Marktmacht der beteiligten Unternehmen und somit von dem Ausmaß ab, in dem diese Unternehmen dem Wettbewerb anderer Anbieter von Waren oder Dienstleistungen ausgesetzt sind, die von den Käufern ... als austauschbar oder substituierbar angesehen werden.


(7) Als Indikator für die Marktmacht des Lieferanten sollten marktanteilsbezogene Schwellenwerte festgelegt werden. ... Die Schwellenwerte, unterhalb von welchen die Vorteile einer vertikalen Vereinbarung voraussichtlich größer sind als ihre restriktive Wirkung, sollten je nach den Merkmalen der verschiedenen Arten vertikaler Vereinbarungen unterschiedlich hoch angesetzt werden. Deshalb kann angenommen werden, dass vertikale Vereinbarungen im Allgemeinen die beschriebenen Vorteile aufweisen, sofern der Lieferant einen Marktanteil von bis zu 30 % an den Märkten für den Vertrieb von neuen Kraftfahrzeugen oder Ersatzteilen bzw. von bis zu 40 % bei quantitativem selektivem Vertrieb für den Verkauf von neuen Kraftfahrzeugen erreicht ....


(8) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass oberhalb dieser Marktanteilsschwellen vertikale Vereinbarungen, die unter Artikel 81 Absatz 1 fallen, üblicherweise objektive Vorteile mit sich bringen, welche nach Art und Umfang geeignet sind, die mit ihnen verbundenen Nachteile für den Wettbewerb auszugleichen. Greift der Lieferant jedoch auf einen qualitativen selektiven Vertrieb zurück, so kann das Entstehen solcher Vorteile unabhängig vom Marktanteil des Lieferanten erwartet werden."


5 Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. f bis h der Verordnung gelten folgende Begriffsbestimmungen:


„f) ‚Selektive Vertriebssysteme‘ sind Vertriebssysteme, in denen sich der Lieferant verpflichtet, die Vertragswaren oder ‑dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler oder Werkstätten zu verkaufen, die aufgrund festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler oder Werkstätten verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an nicht zugelassene Händler oder unabhängige Werkstätten zu verkaufen, unbeschadet der Möglichkeit des Ersatzteilverkaufs an unabhängige Werkstätten und der Pflicht, unabhängigen Marktbeteiligten sämtliche für die Instandsetzung und Wartung der Kraftfahrzeuge und für Umweltschutzmaßnahmen erforderlichen technischen Informationen, Diagnoseausrüstung, Geräte und fachliche Unterweisung zur Verfügung zu stellen.


g) ‚Quantitative selektive Vertriebssysteme‘ sind selektive Vertriebssysteme, in denen der Lieferant Merkmale für die Auswahl der Händler und Werkstätten verwendet, durch die deren Zahl unmittelbar begrenzt wird.


h) ‚Qualitative selektive Vertriebssysteme‘ sind selektive Vertriebssysteme, in denen der Lieferant rein qualitative Merkmale für die Auswahl der Händler oder Werkstätten anwendet, die wegen der Beschaffenheit der Vertragswaren oder ‑dienstleistungen erforderlich sind, für alle sich um die Aufnahme in das Vertriebssystem bewerbenden Händler oder Werkstätten einheitlich gelten, in nicht diskriminierender Weise angewandt werden und nicht unmittelbar die Zahl der Händler oder Werkstätten begrenzen."


6 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:


„Unbeschadet der Absätze 2, 3, 4, 5, 6 und 7 gilt die Freistellung nur, wenn der Anteil des Lieferanten an dem relevanten Markt, auf dem er Kraftfahrzeuge, Kraftfahrzeugersatzteile oder Instandsetzungs- oder Wartungsdienstleistungen verkauft, 30 % nicht überschreitet.


Die Marktanteilsschwelle für die Anwendung der Freistellung beträgt jedoch 40 % für Vereinbarungen über quantitative selektive Vertriebssysteme zum Verkauf neuer Kraftfahrzeuge.


Diese Marktanteilsschwellen gelten nicht für Vereinbarungen über qualitative selektive Vertriebssysteme."


7 Nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung gilt die Freistellung mit Bezug auf den Verkauf von neuen Kraftfahrzeugen nicht für „alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen, welche die Möglichkeiten von Händlern von Personenkraftwagen oder leichten Nutzfahrzeugen in einem selektiven Vertriebssystem einschränken, zusätzliche Verkaufs- oder Auslieferungsstellen an anderen Standorten im Gemeinsamen Markt zu errichten, an denen selektiver Vertrieb verwendet wird".


8 Nach Art. 6 der Verordnung kann der Rechtsvorteil der Freistellung im Einzelfall entzogen werden, wenn eine nach dieser Verordnung freigestellte vertikale Vereinbarung gleichwohl Wirkungen hat, welche mit den Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 3 EG unvereinbar sind.


9 Nach Art. 12 der Verordnung ist diese am 1. Oktober 2002 in Kraft getreten, mit Ausnahme von Art. 5 Abs. 2 Buchst. b, der ab dem 1. Oktober 2005 gilt.


Französisches Recht


10 Nach Art. 1382 des Code civil verpflichten „Handlungen, durch die einem anderen ein Schaden zugefügt wird, ... denjenigen, der den Schaden verschuldet hat, zu dessen Ersatz".


Ausgangsverfahren und Vorlagefrage


11 JLR ist Importeurin von Neuwagen und Erzeugnissen der Marke LAND ROVER in Frankreich.


12 Seit 1994 war Auto 24 ausschließliche Vertragshändlerin von JLR in Périgueux (Frankreich). Ihr Konzessionsvertrag wurde am 27. September 2002 gemäß der vertraglich vorgesehenen Frist von zwei Jahren zum 30. September 2004 gekündigt. Zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Kündigung schloss Auto 24 mit JLR einen Vertrag als zugelassene Werkstatt. Ihre Bewerbung als Vertragshändlerin wurde von JLR hingegen abgelehnt.


13 Mit Urteil, das am 28. Oktober 2005 rechtskräftig wurde, entschied das Tribunal de commerce de Versailles, dass JLR bei der Prüfung dieser Bewerbung eine Diskriminierung begangen habe, und verurteilte sie infolgedessen dazu, an Auto 24 den Betrag von 100 000 Euro als Schadensersatz für den entgangenen Gewinn zu zahlen, den Auto 24 hätte erzielen können, wenn sie die Stellung einer Vertragshändlerin erlangt hätte.


14 Am 19. Januar 2006 lehnte es JLR erneut ab, Auto 24 die Stellung einer Vertragshändlerin in Périgueux einzuräumen. Zur Begründung gab sie an, dass der von ihr festgelegte „Numerus clausus" die Benennung eines Neuwagenhändlers in dieser Stadt nicht vorsehe.


15 Im Oktober 2006 eröffnete das als Vertragshändler von JLR tätige Unternehmen Pericaud Automobiles eine Zweigniederlassung in Trélissac (Frankreich) am Stadtrand von Périgueux.


16 Unter diesen Umständen erhob Auto 24 gegen JLR Klage beim Tribunal de commerce de Bordeaux auf Ersatz des durch deren Weigerung, sie als Vertragshändlerin für das Gebiet von Périgueux zuzulassen, entstandenen Schadens.


17 Mit Urteil vom 8. Februar 2008 wies das Tribunal de commerce de Bordeaux sämtliche Klageanträge von Auto 24 ab.


18 Mit Urteil vom 2. Dezember 2009 bestätigte die Cour d'appel de Paris dieses Urteil und führte zur Begründung insbesondere aus, dass JLR die Zulassung von Auto 24 als Vertragshändlerin unter Berufung auf einen am 8. April 2005 festgelegten „Numerus clausus" verweigert habe, der 72 Verträge für zugelassene Händler an 109 Standorten vorgesehen habe, die in einer Tabelle von Verträgen und Orten aufgeführt gewesen seien, zu denen Périgueux nicht gehört habe.


19 Auto 24 legte daraufhin gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein. Mit diesem Rechtsmittel rügt Auto 24 insbesondere, die Cour d'appel de Paris habe Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung und Art. 1382 des Code civil dadurch verkannt, dass sie die Ansicht vertreten habe, die Konzessionsgeberin sei weder nach nationalen noch nach gemeinschaftlichen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zur Angabe von wirtschaftlichen oder anderen Gründen für die Aufstellung eines „Numerus clausus" verpflichtet, und sich weiter auf die Feststellung, dass JLR einen „Numerus clausus" ohne die Möglichkeit einer Händlerzulassung in Périgueux festgelegt habe, gestützt habe, ohne die Objektivität der Auswahlmerkmale, ihre wirtschaftliche Zweckmäßigkeit, die Verbesserung der Dienstleistungen für die Kundschaft und die Bedingungen ihrer Erbringung geprüft zu haben. In einem quantitativen selektiven Vertriebssystem müsse der Lieferant für die Auswahl der Händler genaue und objektive quantitative Auswahlmerkmale verwenden, die dem zu erreichenden Ziel angemessen seien und in nicht diskriminierender Art und Weise angewandt würden.


20 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation, die Zweifel in Bezug auf die Auslegung der Verordnung und insbesondere die Anforderungen an die Auswahlmerkmale bei quantitativen selektiven Vertriebssystemen hegt, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:


Was ist bei einem quantitativen selektiven Vertrieb unter dem Begriff „festgelegte Merkmale" in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung Nr. 1400/2002 zu verstehen?


Zur Vorlagefrage


21 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „festgelegte Merkmale" in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er als Voraussetzung für den Rechtsvorteil der Freistellung verlangt, dass ein quantitatives selektives Vertriebssystem im Sinne der Verordnung auf Merkmalen beruht, die objektiv gerechtfertigt sind sowie einheitlich und unterschiedslos auf alle Bewerber um die Zulassung angewandt werden.


22 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. u. a. Urteile vom 18. Dezember 1986, VAG France, 10/86, Slg. 1986, 4071, Randnr. 12, vom 30. April 1998, Cabour, C‑230/96, Slg. 1998, I‑2055, Randnrn. 47, 48 und 51, und vom 2. April 2009, Pedro IV Servicios, C‑260/07, Slg. 2009, I‑2437, Randnr. 68) die Nichtbeachtung einer notwendigen Voraussetzung für die Freistellung nicht bereits als solche einen Schadensersatzanspruch nach Art. 101 AEUV entstehen lassen oder einen Lieferanten dazu zwingen kann, einen Händler, der sich darum bewirbt, in ein Vertriebssystem aufzunehmen.


23 Im vorliegenden Fall macht Auto 24 im Kern geltend, dass jedes quantitative Merkmal im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung, also jedes für die Auswahl der Händler und Werkstätten verwendete Merkmal, durch das deren Zahl unmittelbar begrenzt werde, durch objektive wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt sein müsse, für die der Lieferant beweispflichtig sei, und einheitlich und ohne Diskriminierung für sämtliche Einzugsgebiete und sämtliche möglichen Bewerber für das Vertriebssystem gelten müsse.


24 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Genuss der Freistellung, wie aus dem ersten Erwägungsgrund sowie aus den Erwägungsgründen 4 bis 6 der Verordnung hervorgeht, auf vertikale Vereinbarungen beschränkt ist, hinsichtlich deren auf der Grundlage der mit dem Vertrieb im Kraftfahrzeugsektor gewonnenen Erfahrungen wegen ihrer effizienzsteigernden Wirkungen die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV als erfüllt angesehen werden können.


25 Wie dem siebten Erwägungsgrund der Verordnung zu entnehmen ist, werden die Schwellenwerte, unterhalb deren die Vorteile einer vertikalen Vereinbarung voraussichtlich größer sind als ihre restriktive Wirkung, je nach den Merkmalen der verschiedenen Arten vertikaler Vereinbarungen unterschiedlich hoch angesetzt.


26 Nach den Erwägungsgründen 7 und 8 der Verordnung bringen vertikale Vereinbarungen diese Vorteile üblicherweise mit sich, wenn der betreffende Lieferant einen Marktanteil von bis zu 40 % bei „quantitativem selektivem Vertrieb" für den Verkauf von neuen Kraftfahrzeugen erreicht, während bei „qualitativem selektivem Vertrieb" solche Vorteile unabhängig vom Marktanteil des Lieferanten erwartet werden können.


27 Daher beträgt nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung die Marktanteilsschwelle für die Anwendung der Freistellung 40 % für Vereinbarungen über quantitative selektive Vertriebssysteme zum Verkauf neuer Kraftfahrzeuge, während nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 für die Geltung der Freistellung für Vereinbarungen über qualitative selektive Vertriebssysteme der Marktanteil des betreffenden Lieferanten unerheblich ist.


28 In diesem Kontext sind die in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f bis h der Verordnung definierten Begriffe „selektives Vertriebssystem", „quantitatives selektives Vertriebssystem" und „qualitatives selektives Vertriebssystem" auszulegen.


29 Aus den letztgenannten Bestimmungen ergibt sich, dass sowohl in quantitativen selektiven Vertriebssystemen als auch in qualitativen selektiven Vertriebssystemen im Sinne der Verordnung die Händler anhand von „festgelegten Merkmalen" im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung auszuwählen sind.


30 In diesem Kontext ist der Begriff „festgelegte Merkmale" dahin auszulegen, dass er sich auf Merkmale bezieht, deren genauer Inhalt überprüft werden kann.


31 Hierzu ist klarzustellen, dass es für die Überprüfung des genauen Inhalts der für ein selektives Vertriebssystem verwendeten Auswahlmerkmale nicht notwendig ist, dass diese veröffentlicht werden, womit, wie die französische Regierung ausführt, die Gefahr verbunden wäre, dass das Geschäftsgeheimnis unterlaufen würde oder auch kollusive Verhaltensweisen zum Nachteil der Beteiligten erleichtert würden.


32 Ferner geht aus der Bestimmung des Begriffs „quantitatives selektives Vertriebssystem" in Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung nicht hervor, dass dieser Begriff dahin auszulegen wäre, dass er ein Erfordernis umfasste, wonach die vom Lieferanten für die Auswahl der Händler verwendeten Merkmale nicht nur „festgelegt" sein müssen, sondern zudem objektiv gerechtfertigt sein sowie einheitlich und unterschiedslos auf alle Bewerber um die Zulassung angewandt werden müssten.


33 Nur im Kontext der qualitativen selektiven Vertriebssysteme nämlich verlangt die Verordnung durch die in ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. h enthaltene Definition u. a., dass die vom Lieferanten verwendeten Auswahlmerkmale „wegen der Beschaffenheit der Vertragswaren oder ‑dienstleistungen erforderlich sind, für alle sich um die Aufnahme in das Vertriebssystem bewerbenden Händler oder Werkstätten einheitlich gelten [und] in nicht diskriminierender Weise angewandt werden".


34 Es ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f und g der Verordnung, dass ein Vertriebssystem für Neuwagen als „quantitatives selektives Vertriebssystem" im Sinne der Verordnung eingestuft werden kann, wenn es den Weiterverkauf an nicht zugelassene Händler untersagt und auf objektiven Merkmalen beruht, durch die die Zahl der Händler unmittelbar begrenzt wird. Der Umstand, dass Vertriebssysteme für Neuwagen in der Praxis sehr häufig sowohl qualitative als auch quantitative Merkmale umfassen, ist in dieser Hinsicht unerheblich, wie JLR und die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung in der Sache anerkannt haben.


35 Deshalb würden, wenn im Rahmen der Verordnung quantitative Auswahlmerkmale zwingend objektiv und nicht diskriminierend sein müssten, hierdurch, wie JLR, die französische Regierung und die Kommission im Wesentlichen vorgetragen haben, die von der Verordnung verlangten Voraussetzungen für die Anwendung der Freistellung auf qualitative Vertriebssysteme mit denen für die Anwendung der Freistellung auf quantitative selektive Vertriebssysteme vermischt.


36 Aus der Systematik der Verordnung ergibt sich jedoch nicht, dass der Gesetzgeber für diese beiden selektiven Vertriebssysteme die gleichen Freistellungsvoraussetzungen festlegen wollte. Da die Verordnung vielmehr, wie sich insbesondere aus den Randnrn. 26 und 27 des vorliegenden Urteils ergibt, unterschiedliche Freistellungsvoraussetzungen in Abhängigkeit davon vorsieht, ob der betreffende selektive Vertrieb als „quantitativ" oder als „qualitativ" eingestuft wird, können die nur in Art. 1 Abs. 1 Buchst. h geregelten Tatbestandsmerkmale nicht auch im Rahmen von Buchst. g dieser Bestimmung angewandt werden, da sonst die beiden Arten selektiven Vertriebs miteinander vermengt würden.


37 Im Übrigen ist entgegen dem Vorbringen von Auto 24 insoweit unerheblich, dass ein Lieferant nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung nicht die Eröffnung einer Zweigniederlassung durch einen seiner Vertragshändler verhindern kann.


38 Ebenso ist in der vorliegenden Sache nicht die von Auto 24 angeführte Rechtsprechung einschlägig, die auf das Urteil vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte/Kommission (26/76, Slg. 1977, 1875), zurückgeht. Hierzu genügt die Feststellung, dass sich im Rahmen der Verordnung, wie insbesondere aus den Randnrn. 32 bis 34 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ein „quantitatives selektives Vertriebssystem" definitionsgemäß von einer „Auswahl der Wiederverkäufer" nach Gesichtspunkten „qualitativer Art" im Sinne von Randnr. 20 des Urteils Metro SB-Großmärkte/Kommission unterscheidet.


39 Nach allem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass unter dem Begriff „festgelegte Merkmale" in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung im Fall eines quantitativen selektiven Vertriebssystems im Sinne dieser Verordnung Merkmale zu verstehen sind, deren genauer Inhalt überprüft werden kann. Um in den Genuss der in der Verordnung vorgesehenen Freistellung zu gelangen, ist es nicht erforderlich, dass ein solches System auf Merkmalen beruht, die objektiv gerechtfertigt sind sowie einheitlich und unterschiedslos auf alle Bewerber um die Zulassung angewandt werden.


Kosten


40 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.


Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:


Unter dem Begriff „festgelegte Merkmale" in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor sind im Fall eines quantitativen selektiven Vertriebssystems im Sinne dieser Verordnung Merkmale zu verstehen, deren genauer Inhalt überprüft werden kann. Um in den Genuss der in dieser Verordnung vorgesehenen Freistellung zu gelangen, ist es nicht erforderlich, dass ein solches System auf Merkmalen beruht, die objektiv gerechtfertigt sind sowie einheitlich und unterschiedslos auf alle Bewerber um die Zulassung angewandt werden.

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