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Wirtschaftsrecht
02.11.2023
Wirtschaftsrecht
BGH: Voraussetzungen einer Entlastung des Herstellers eines vom sog. Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs

BGH, Urteil vom 25.9.2023 – VIa ZR 1/23

ECLI:DE:BGH:2023:250923UVIAZR1.23.0

Volltext: BB-Online BBL2023-2562-5

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Entlastung des Herstellers eines vom sogenannten Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs im Falle seiner Inanspruchnahme nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV.

BGB § 823 Abs. 2 Bf, Eh; EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1

Sachverhalt

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

Der Kläger erwarb im Januar 2015 von einem Dritten einen von der Beklagten hergestellten neuen Audi SQ5 3.0 l, der mit einem von der Beklagten hergestellten V6 Turbodieselmotor (Schadstoffklasse Euro 5) ausgestattet ist. Den Kaufpreis finanzierte er mittels eines Darlehens. In dem Fahrzeug kommt eine Abgasrückführung zur Anwendung, die sich mindernd auf die Stickoxidemissionen auswirkt, jedoch außerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs abgeschaltet beziehungsweise reduziert wird (sogenanntes Thermofenster). Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) betroffen.

Nach Veräußerung des Fahrzeugs hat der Kläger - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 14.756,95 € nebst Prozesszinsen zu zahlen (Berufungsantrag zu 1) und ihn von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten freizustellen (Berufungsantrag zu 3). Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge zu 1 und zu 3 weiter.

Aus den Gründen

4          Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision, die entsprechend der beschränkten Zulassung durch das Berufungsgericht ausschließlich Ansprüche unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung des Klägers zum Gegenstand hat (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 1031/22, NJOZ 2023, 1133 Rn. 8 f.), hat im Umfang des auf die Berufungsanträge zu 1 und zu 3 beschränkten Rechtsmittelangriffs Erfolg.

 

I.

5          Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

 

6          Die Beklagte hafte nicht gemäß §§ 826, 31 BGB. Der Kläger habe die Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung nicht schlüssig dargelegt. Dabei könne offenbleiben, ob es sich beim "Thermofenster" in seiner konkreten Ausgestaltung um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele. Es fehle insoweit an Vortrag zu Umständen, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Dagegen habe der Kläger für das Vorliegen sonstiger unzulässiger Abschalteinrichtungen schon keine tatsächlichen Anhaltspunkte dargetan. Ein Schadensersatzanspruch folge auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Es könne dahinstehen, ob es sich bei diesen Vorschriften um drittschützende Normen handele. Es sei bereits ein fahrlässiges Handeln von Repräsentanten der Beklagten in Bezug auf die Einhaltung der europarechtlichen Vorschriften im Zeitpunkt der Beantragung und Erlangung der EG-Typgenehmigung nicht feststellbar. Das KBA habe in einer Reihe von amtlichen Auskünften für den eingebauten Motortyp mitgeteilt, dass unzulässige Abschalteinrichtungen auch nach umfangreichen Untersuchungen nicht festgestellt worden seien. Jedenfalls könne der Kläger keine Rückabwicklung des Kaufvertrags verlangen. Einen etwaigen Minderwert des Fahrzeugs wegen des verbauten Thermofensters habe der Kläger schon nicht behauptet; ein solcher sei auch kaum vorstellbar.

 

II.

7          Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

 

8          1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.

 

9          2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.

 

10        a) Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).

 

11        Das Berufungsgericht hat auf dieser Grundlage zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hätte ihm aber Gelegenheit geben müssen, einen erlittenen Differenzschaden darzulegen, weil dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines solchen Schadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ist ein entsprechender Schaden vom Rechtsschutzbegehren des Klägers umfasst. Dem vom Kläger in erster Linie auf §§ 826, 31 BGB gestützten "großen" Schadensersatz einerseits und einem Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV andererseits liegen lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde, die im Kern an die Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 45).

 

12        b) Die weitere Annahme des Berufungsgerichts, deliktische Ansprüche scheiterten jedenfalls daran, dass ein mindestens fahrlässiger Verstoß der Beklagten gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht feststellbar sei, ist ebenfalls von Rechtsfehlern beeinflusst.

 

13        aa) Das Verschulden des Fahrzeugherstellers wird innerhalb des § 823 Abs. 2 BGB im Fall des objektiven Verstoßes gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV vermutet. Dementsprechend muss der Fahrzeughersteller, wenn er eine Übereinstimmungsbescheinigung trotz der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegeben und dadurch § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verletzt hat, im Fall der Inanspruchnahme nach § 823 Abs. 2 BGB Umstände darlegen und beweisen, die sein Verhalten zum maßgeblichen Zeitpunkt des Kaufs des Fahrzeugs durch den Kläger ausnahmsweise nicht als fahrlässig erscheinen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 59, 61 mwN). Beruft sich der Fahrzeughersteller auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, muss er sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums darlegen und erforderlichenfalls beweisen.

 

14        Das setzt zunächst die Darlegung und erforderlichenfalls den Nachweis eines Rechtsirrtums seitens des Fahrzeugherstellers voraus (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 63). Der Fahrzeughersteller muss darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 62) im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2018 - II ZR 11/17, BGHZ 220, 162 Rn. 17 ff.). Beruft sich der Fahrzeughersteller weder auf eine tatsächliche oder hypothetische Genehmigung der zuständigen Behörde noch auf einen externen qualifizierten Rechtsrat, sondern auf selbst angestellte Erwägungen, ist ihm eine Entlastung verwehrt, wenn mit Rücksicht auf die konkret verwendete Abschalteinrichtung eine nicht im Sinne des Fahrzeugherstellers geklärte Rechtslage hinreichend Anlass zur Einholung eines Rechtsrats bot. Ebenso scheitert eine Entlastung, wenn sich der Hersteller mit Rücksicht auf eine nicht in seinem Sinn geklärte Rechtslage erkennbar in einem rechtlichen Grenzbereich bewegte, schon deshalb eine abweichende rechtliche Beurteilung seines Vorgehens in Betracht ziehen und von der eventuell rechtswidrigen Verwendung der Abschalteinrichtung absehen musste (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 69). Eine Entlastung ohne Rücksicht auf die aus den vorstehenden Erwägungen folgenden Sorgfaltspflichten, etwa mit Rücksicht auf den Umstand, dass der Verwendung von Thermofenstern ein allgemeiner Industriestandard zugrunde lag oder dass nach den vom Berufungsgericht zitierten Angaben des KBA rechtlich von ihm so bewertete unzulässige Abschalteinrichtungen auch nach umfangreichen Untersuchungen nicht festgestellt worden seien, kommt dagegen nach dem gesetzlichen Fahrlässigkeitsmaßstab nicht in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 70).

 

15        bb) Diesen Maßstäben ist das Berufungsgericht, das seine Entscheidung vor dem Senatsurteil vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) gefällt hat, nicht gerecht geworden. Es hat rechtsfehlerhaft für die Frage, ob der Beklagten ein Verschuldensvorwurf gemacht werden könne, auf den Zeitpunkt der Beantragung und Erlangung der EG-Typgenehmigung und nicht auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses des Klägers abgestellt. Es hat keine tragfähigen Feststellungen dazu getroffen, sämtliche Repräsentanten der Beklagten hätten sich im maßgeblichen Zeitpunkt in einem Rechtsirrtum befunden. Es hat schließlich verkannt, dass erst im Anschluss an die Darlegung und den Nachweis dieser Umstände Bedeutung gewinnen konnte, ob eine festgestellte Abschalteinrichtung entweder in all ihren für die Bewertung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten von der damit befassten nationalen Behörde genehmigt war oder genehmigt worden wäre. Bezogen auf ein Thermofenster hätte das Berufungsgericht berücksichtigen müssen, dass die Bedeutung der Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht höchstrichterlich und insbesondere nicht durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärt war.

 

III.

16        Die angefochtene Entscheidung ist aufzuheben, § 562 ZPO, weil sie sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Insbesondere ist entgegen den Einwänden der Revisionserwiderung die Geltendmachung eines Differenzschadens nicht ausgeschlossen, weil der Kläger das Fahrzeug vor Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz veräußert hat.

 

17        Zu §§ 826, 31 BGB entspricht es ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass der Weiterverkauf des Fahrzeugs den Vertragsabschlussschaden nicht ohne Weiteres entfallen lässt, sondern im Wege der Vorteilsausgleichung lediglich der erzielte marktgerechte Verkaufserlös anstelle des herauszugebenden und zu übereignenden Fahrzeugs wie etwa erzielte Nutzungsvorteile mit dem dem Käufer zustehenden Schadensersatz zu verrechnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 2021 - VI ZR 533/20, NJW 2021, 3594 Rn. 24 ff.; Urteil vom 23. Juni 2022 - VII ZR 442/21, juris Rn. 19). Für den Differenzschaden auf der Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gilt nichts anderes, weil dem auf §§ 826, 31 BGB gestützten "großen" Schadensersatz einerseits und einem Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV andererseits lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde liegen, die beide im Kern an die Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 45).

 

IV.

18        Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Die Sache ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

 

19        Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Das Berufungsgericht wird insoweit zu beachten haben, dass ein Differenzschaden nur bis zur Höhe von 15% des gezahlten Kaufpreises zu ersetzen ist und darüber hinaus auf der Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV der Ersatz eines Finanzierungsschadens nicht verlangt werden kann (BGH, Urteil vom 11. September 2023 - VIa ZR 1533/22, zVb).

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