R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Wirtschaftsrecht
11.04.2024
Wirtschaftsrecht
BGH: Verjährungsfristbeginn für Schadensersatzanspruch wegen von Anfang an ungerechtfertigter einstweiliger Verfügung

BGH, Urteil vom 21.3.2024 – IX ZR 138/22

ECLI:DE:BGH:2024:210324UIXZR138.22.0

Volltext: BB-Online BBL2024-834-1

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Besteht eine entgegenstehende nationale höchstrichterliche Rechtsprechung, beginnt die Verjährungsfrist eines Anspruchs auf Schadensersatz wegen einer von Anfang an ungerechtfertigten einstweiligen Verfügung, wenn die einstweilige Verfügung weiter besteht und keine Hauptsacheentscheidung zugunsten des Verfügungsgegners ergangen ist, nicht bereits in dem Zeitpunkt, in dem die zwischen den Parteien streitige Rechtsfrage im Wege eines Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Auslegung einer Richtlinie der Europäischen Union im Sinne der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen Partei geklärt ist.

ZPO § 945 Variante 1; BGB §§ 195, 199 Abs. 1

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Vollziehung einer einstweiligen Verfügung in Anspruch.

Die Klägerin vertreibt in Deutschland als Parallelimporteurin von Arzneimitteln und Medizinprodukten unter anderem aus dem EU-Ausland eingeführte Teststreifen für von der R.              GmbH hergestellte Blutzuckermessgeräte zur Eigenanwendung der Marke "A.       ". Diese verpackt sie hierfür um, versieht sie mit einem deutschen Etikettenaufkleber und fügt eine deutsche Gebrauchsanweisung bei. Die Beklagte vertreibt als Vertriebsgesellschaft der R.               GmbH ebenfalls solche Blutzuckerteststreifen in Deutschland.

Am 17. September 2010 erwirkte die Beklagte beim Landgericht Frankfurt am Main eine Beschlussverfügung, mittels derer der Klägerin untersagt wurde, aus Ländern der Europäischen Union und/oder des Europäischen Wirtschaftsraums eingeführte Blutzuckerteststreifenverpackungen mit der Kennzeichnung "A.        A.    , "A.        C.     " und "A.   C.    C.      " mit einer umgestalteten Packung und/oder Gebrauchsanweisung in den Verkehr zu bringen, ohne dass diese Gebrauchsanweisungen oder Etikettierungen vorab in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden sind. Die Entscheidung des Landgerichts stand dabei im Einklang mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Mai 2010 (I ZR 185/07, GRUR 2010, 756 - One Touch Ultra), wonach In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung im Inland nur in Verkehr gebracht werden durften, wenn sie eine Gebrauchsanweisung und eine Etikettierung in deutscher Sprache enthalten, die vorab in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden sind.

Mit Urteil vom 13. Oktober 2016 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 30. April 2015 - I ZR 153/13, GRUR Int 2015, 729 - Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle I), dass Art. 9 der Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 1998 über In-vitro-Diagnostika (ABl. EG L 331 S.1) dahin auszulegen ist, dass er den Parallelimporteur eines Produkts zur Eigenanwendung für die Blutzuckerbestimmung, das die CE-Kennzeichnung trägt und von einer benannten Stelle einer Konformitätsbewertung unterzogen worden ist, nicht verpflichtet, eine neue Bewertung vornehmen zu lassen, mit der die Konformität der Kennzeichnung und der Gebrauchsanweisung dieses Produkts wegen ihrer Übersetzung in die Amtssprache des Einfuhrmitgliedstaats bescheinigt werden soll (EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2016 - C-277/15, GRUR Int 2016, 1149, Rn. 43 f, 52 - Servoprax/RDD). Daraufhin forderte die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 25. Oktober 2016 auf, auf die Ausübung ihrer Rechte aus der Beschlussverfügung des Landgerichts Frankfurt am Main vom 17. September 2010 zu verzichten. Nachdem die Beklagte dies unter Hinweis auf die noch ausstehende endgültige Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Ausgangsverfahren abgelehnt hatte, erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2016 Widerspruch gegen die Beschlussverfügung des Landgerichts Frankfurt am Main. Mit Urteil vom 1. Juni 2017 schloss sich der Bundesgerichtshof unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 3. Oktober 2016 an (BGH, Urteil vom 1. Juni 2017 - I ZR 152/13, GRUR 2017, 938 Rn. 23 - Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle II). Am 6. Juli 2017 hob das Landgericht Frankfurt am Main auf den Widerspruch der Klägerin die Beschlussverfügung vom 17. September 2010 auf.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten gemäß § 945 Variante 1 ZPO wegen der Vollziehung der einstweiligen Verfügung den Ersatz entgangenen Gewinns sowie weiteren Schadensersatz. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil der geltend gemachte Anspruch aus § 945 Variante 1 ZPO mit Ablauf des 31. Dezember 2019 verjährt sei. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Zahlungsansprüche gegen die Beklagte unverändert weiter.

Aus den Gründen

6          Die Revision führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.

 

I.

7          Das Berufungsgericht hält den Anspruch aus § 945 Variante 1 ZPO für verjährt. Der Anspruch verjähre mit einer Frist von drei Jahren, beginnend mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt habe. Diese Kenntnis habe der Verfügungsgegner, wenn er aufgrund der ihm bekannten Tatsachen eine Schadensersatzklage erheben könne, die bei verständiger Würdigung so viel Erfolgsaussicht habe, dass sie ihm zumutbar sei. Für den Beginn der Verjährungsfrist sei nicht zwingend erforderlich, dass die einstweilige Verfügung aufgehoben oder über den Verfügungsanspruch in einem Hauptsacheverfahren entschieden worden sei; entscheidend sei vielmehr, ob die Sach- und Rechtslage eindeutig geklärt sei. Die für den Beginn der Verjährung maßgebliche Klarheit über die fehlende Rechtfertigung der einstweiligen Verfügung könne auch dadurch eintreten, dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Rechtsfrage ändere, auf der die Verfügung allein tragend beruhe, oder dass dieser bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung durch eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs der Boden entzogen worden sei.

 

8          Jedenfalls ab dem 25. Oktober 2016 sei der Klägerin aufgrund der ihr bekannten Einzelfallumstände eine Klageerhebung zumutbar gewesen, so dass die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres 2016 zu laufen begonnen habe und die am 29. Dezember 2020 bei Gericht eingereichte Leistungsklage die Verjährung nicht mehr habe hemmen können. Aufgrund des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 13. Oktober 2016 (C-277/15, GRUR Int 2016, 1149, Rn. 43 f, 52 - Servoprax/RDD) habe die Klägerin keinen vernünftigen Zweifel daran haben können, dass die Beschlussverfügung des Landgerichts Frankfurt am Main vom 17. September 2010 bereits von Anfang an ungerechtfertigt gewesen sei. Auch wenn die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nur die mit dem Ausgangsverfahren befassten Gerichte gebunden hätte, sei mit hoher Sicherheit zu erwarten gewesen, dass sich die letztinstanzlichen Gerichte und mit ihnen die Instanzgerichte in anderen Verfahren mit hinreichend identischen streitentscheidenden Fragen der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union anschließen würden.

 

II.

9          Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Prüfung nicht stand.

 

10        1. Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO beginnt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Regelfall erst mit dem Abschluss des Verfahrens betreffend den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des einstweiligen Verfahrens besteht für die dort in Anspruch genommene Partei die für den Beginn der Verjährung ihres Schadensersatzanspruchs erforderliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den Umständen, aus denen sich die Ersatzpflicht des Verfügungsklägers ergibt, §§ 195, 199 Abs. 1 BGB. Denn der Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO ist nicht nur in seiner zweiten, die Aufhebung der einstweiligen Entscheidung nach § 926 Abs. 2 ZPO oder § 942 Abs. 2 ZPO ausdrücklich voraussetzenden Variante, sondern auch in seiner ersten Variante, wonach sich die Anordnung eines Arrests oder einer einstweiligen Verfügung als von Anfang an ungerechtfertigt erweisen muss, formal ausgestaltet. Der Ausgang des einstweiligen Verfahrens ist aufgrund der Bindungswirkung, welche die Aufhebung des Arrests oder der einstweiligen Verfügung im vorläufigen Verfahren als von Anfang an unbegründet für den Richter im Schadensersatzprozess entfaltet (BGH, Urteil vom 20. März 1979 - VI ZR 30/77, BGHZ 75, 1, 5; Beschluss vom 8. Januar 1985 - VI ZR 145/83, VersR 1985, 335), von streitentscheidender Bedeutung für den Schadensersatzprozess. Der Bestand eines Schadensersatzanspruchs hängt demnach in beiden Tatbestandsvarianten des § 945 ZPO von einem weiteren prozessualen Geschehen ab, das im Voraus regelmäßig nicht abschließend beurteilt werden kann. Es wäre mithin weder interessengerecht noch prozesswirtschaftlich befriedigend, wenn die im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommene Partei zur Vermeidung des Eintritts der Verjährung schon vor Abschluss des einstweiligen Verfahrens eine Klage auf Feststellung ihres Schadensersatzanspruchs in einem Parallelprozess führen müsste (BGH, Urteil vom 20. März 1979, aaO S. 4 ff; vom 26. März 1992 - IX ZR 108/91, NJW 1992, 2297 f).

 

11        2. Der Grundsatz, wonach die Verjährung von Ansprüchen nach § 945 ZPO nicht vor rechtskräftigem Abschluss des einstweiligen Verfahrens beginnt, gilt allerdings, wie der Bundesgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, nicht ausnahmslos.

 

12        a) So beginnt der Lauf der Verjährungsfrist bereits vor Abschluss des einstweiligen Verfahrens, wenn die Parteien den Streit um den dem einstweiligen Rechtsschutz zugrundeliegenden Anspruch allein im Hauptsacheverfahren austragen und dieses rechtskräftig abgeschlossen ist. Mit dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens ist die Grundlage für die jederzeitige Beseitigung des noch bestehenden Arrests oder der noch bestehenden einstweiligen Verfügung gegeben. Dies ermöglicht der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen Partei eine abschließende Beurteilung des prozessualen Ergebnisses, von dem der Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO abhängt (BGH, Urteil vom 26. März 1992 - IX ZR 108/91, NJW 1992, 2297, 2298; vom 12. November 1992 - IX ZR 8/92, NJW 1993, 863, 864). Weitergehend hat der Senat entschieden, dass es dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens gleichsteht, wenn in einem anderen EU-Mitgliedstaat das Hauptsacheverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist und dieses Urteil in Deutschland rechtskräftig anerkannt ist. Denn ein hiervon abweichendes Urteil darf dann in Deutschland nicht mehr ergehen (BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2006 - IX ZR 148/04, juris Rn. 2).

 

13        b) Der Senat hat ferner angenommen, dass der Lauf der Verjährungsfrist vor Abschluss des einstweiligen Verfahrens beginnt, falls die einstweilige Verfügung aus formalen Gründen - im entschiedenen Fall wegen Versäumung der Vollziehungsfrist - aufgehoben wird und die im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommene Partei im Hauptsacheverfahren ein zwar noch nicht rechtskräftiges Urteil zu ihren Gunsten erzielt, dieses aber in hohem Maße dafür spricht, dass die einstweilige Verfügung von Anfang an nicht gerechtfertigt war. In diesem Fall kann sich der Verfügungsbeklagte zwar vorher nicht sicher sein, ob das zu seinen Gunsten ergangene Urteil im Hauptsacheverfahren rechtskräftig werden würde. Der Senat hat es für den Beginn der Verjährungsfrist des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO aber im dort entschiedenen Fall für ausreichend erachtet, dass der Standpunkt, die einstweilige Verfügung sei von Anfang an ungerechtfertigt gewesen, mit überwiegender Erfolgsaussicht vertreten werden konnte (BGH, Urteil vom 15. Mai 2003 - IX ZR 283/02, NJW 2003, 2610, 2612).

 

14        3. Bislang ausdrücklich offen gelassen hat der Senat die Frage, ob - bei noch bestehender einstweiliger Verfügung - die Verjährung des Anspruchs aus § 945 Variante 1 ZPO jedenfalls dann vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens beginnt, wenn die Unbegründetheit des Verfügungsanspruchs auch unter Berücksichtigung der formalen Ausgestaltung der Tatbestandsvoraussetzungen klar auf der Hand liegt, etwa wenn die im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommene Partei bei tatsächlich unstreitigen und rechtlich einfachen oder höchstrichterlich geklärten Sachverhalten ein noch nicht rechtskräftiges Urteil zu ihren Gunsten erzielt hat (vgl. BGH, Urteil vom 26. März 1992 - IX ZR 108/91, NJW 1992, 2297, 2298; vom 15. Mai 2003 - IX ZR 283/02, NJW 2003, 2610, 2612; vom 23. März 2006 - IX ZR 134/04, NJW 2006, 2557 Rn. 10). Diese Frage stellt sich im Streitfall nicht, weil die Unbegründetheit des Verfügungsanspruchs nicht schon allein aufgrund des Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 13. Oktober 2016 (C-277/15, GRUR Int 2016, 1149, Rn. 43 f, 52 - Servoprax/RDD) in diesem Sinn klar auf der Hand lag.

 

15        a) Die Parteien streiten darüber, ob die Verjährungsfrist bereits im Zeitpunkt der Kenntnis der Klägerin von dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 13. Oktober 2016 begonnen hat, mit dem der Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs entschieden hat, dass Art. 9 der Richtlinie 98/79/EG über In-vitro-Diagnostika dahin auszulegen ist, dass er den Parallelimporteur eines Produkts zur Eigenanwendung für die Blutzuckerbestimmung, das die CE-Kennzeichnung trägt und von einer benannten Stelle einer Konformitätsbewertung unterzogen worden ist, nicht verpflichtet, eine neue Bewertung vornehmen zu lassen, mit der die Konformität der Kennzeichnung und der Gebrauchsanweisung dieses Produkts wegen ihrer Übersetzung in die Amtssprache des Einfuhrmitgliedstaats bescheinigt werden soll (EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2016 - C-277/15, GRUR Int 2016, 1149, Rn. 43 f, 52 - Servoprax/RDD). Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof der Europäischen Union die zwischen den Parteien streitige Rechtsfrage im Sinne der hiesigen Klägerin geklärt (vgl. nachfolgend BGH, Urteil vom 1. Juni 2017 - I ZR 152/13, GRUR 2017, 938 Rn. 23 - Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle II). Eine gerichtliche Entscheidung über den Verfügungsanspruch zu Gunsten der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen hiesigen Klägerin war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ergangen. Ein Hauptsacheverfahren war zwischen den Parteien nicht anhängig und im einstweiligen Verfahren hat das Landgericht Frankfurt am Main die einstweilige Verfügung auf den Widerspruch der Klägerin vom 20. Dezember 2016 erst mit Urteil vom 7. Juli 2017 wieder aufgehoben.

 

16        Im Streitfall stellt sich mithin die Frage, ob die Verjährung schon beginnt, wenn ein Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs der Europäischen Union eine zwischen den Parteien streitige Rechtsfrage über die Auslegung einer Richtlinie der Europäischen Union im Sinne der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen Partei klärt, obwohl die einstweilige Verfügung weiter besteht und weder eine Hauptsacheentscheidung zugunsten des Verfügungsgegners noch eine Entscheidung über den Verfügungsanspruch im einstweiligen Verfahren ergangen ist. Diese Frage verneint der Senat jedenfalls für die Fallkonstellation, dass eine entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung besteht.

 

17        b) Der Senat hält daran fest, dass die Verjährung des Ersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO aufgrund der formalen Ausgestaltung des Tatbestands grundsätzlich erst beginnt, wenn entweder das einstweilige Verfügungsverfahren oder das Hauptsacheverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Erst mit dem Abschluss eines solchen Verfahrens ist der hinsichtlich eines wesentlichen Teils seiner positiven Elemente formal ausgestaltete Haftungstatbestand des § 945 Variante 1 ZPO voll beurteilbar (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 1979 - VI ZR 30/77, BGHZ 75, 1, 5). Das Urteil des Senats vom 15. Mai 2003 (IX ZR 283/02, NJW 2003, 2610, 2612) betrifft die Sonderkonstellation, in der die einstweilige Verfügung bereits aus formalen Gründen aufgehoben worden war.

 

18        Die Erfolgsaussichten einer Klage auf Schadensersatz wegen Vollziehung der einstweiligen Verfügung nach § 945 Variante 1 ZPO liegen jedenfalls dann noch nicht klar auf der Hand, wenn - wie hier - eine zwischen den Parteien streitige Frage zum Verständnis einer Richtlinie der Europäischen Union nur im Wege eines Vorabentscheidungsurteils durch den Gerichtshof der Europäischen Union in einem Verfahren zwischen anderen Parteien geklärt worden ist, zuvor für das nationale Recht eine gegenteilige höchstrichterliche Rechtsprechung ergangen ist und die deutschen Gerichte noch nicht geklärt haben, dass und wie die aus dem Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs der Europäischen Union folgende Auslegung der Richtlinie für das anwendbare nationale Recht gilt.

 

19        c) Im Streitfall mussten die Parteien im Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Beschlussverfügung vom 17. September 2010 aufgrund der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 12. Mai 2010 - I ZR 185/07, GRUR 2010, 756 - One Touch Ultra) davon ausgehen, dass In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung in Deutschland nur in Verkehr gebracht werden durften, wenn sie eine Gebrauchsanweisung und eine Etikettierung in deutscher Sprache enthielten, die vorab in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden waren. Die in diesem Sinne eindeutige Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof erst im Nachgang zum Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 13. Oktober 2016 (C-277/15, GRUR Int 2016, 1149, Rn. 43 f, 52 - Servoprax/RDD) mit Urteil vom 1. Juni 2017 (I ZR 152/13, GRUR 2017, 938 Rn. 23 - Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle II) aufgegeben und sich der Rechtsauffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union angeschlossen. Frühestens ab diesem Zeitpunkt war die Rechtslage - nun im entgegen gesetzten Sinne zur bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung - geklärt und musste die hiesige Klägerin davon ausgehen, dass sie eine Aufhebung der einstweiligen Verfügung mit überwiegender Erfolgsaussicht würde erreichen können.

 

20        An die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren über die Auslegung von Art. 9 der Richtlinie 98/79/EG über In-vitro-Diagnostika kann für den Zeitpunkt der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin von den Anspruch nach § 945 Variante 1 ZPO begründenden Umständen und der Person des Anspruchsgegners nicht angeknüpft werden. Die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in anderen Verfahren als dem Ausgangsverfahren ist in zweierlei Hinsicht beschränkt.

 

21        Die aufgrund des Art. 267 AEUV ergangenen Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union binden grundsätzlich nur die mit dem Ausgangsverfahren befassten Gerichte. Eine Auslegung des nationalen Rechts und eine Würdigung seiner Wirkungen nimmt der Gerichtshof der Europäischen Union dabei nicht vor. Die Vorabentscheidungen binden das vorlegende Gericht nur hinsichtlich der Auslegung der betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und Handlungen (EuGH, Urteil vom 3. Februar 1977 - C-52/76, Slg. 1977, 163, 183 - Benedetti). Diese Bindungswirkung "inter partes" schließt zudem nicht aus, dass das nationale Gericht oder eine höhere Instanz den Gerichtshof der Europäischen Union erneut anruft, falls es dies für erforderlich hält. Eine erneute Vorlage ist gerechtfertigt, wenn das nationale Gericht beim Verständnis oder der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es dem Gerichtshof eine neue Rechtsfrage stellt oder wenn es ihm neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Rechtsfrage abweichend zu beurteilen (EuGH, Beschluss vom 5. März 1986 - C-69/85, Slg. 1986, 948 Rn. 15 - Wünsche/Deutschland).

 

22        Dass Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union auch in anderen Verfahren eine tatsächlich rechtsbildende Kraft entfalten können, um eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen (BGH, Urteil vom 21. April 1994 - I ZR 31/92, NJW 1994, 2607, 2608), genügt im Streitfall nicht. Unter Berücksichtigung der formalen Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO lag die Unbegründetheit des Verfügungsanspruchs angesichts der entgegenstehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht klar auf der Hand.

 

23        d) Die Verjährungsfrist hat im Streitfall somit erst mit dem Schluss des Jahres 2017 zu laufen begonnen, so dass die auf den Zeitpunkt der Einreichung der vorliegenden Klage am 29. Dezember 2020 zurückwirkende Zustellung an die Beklagte den Ablauf der Verjährungsfrist rechtzeitig hemmen konnte.

 

III.

24        Eine eigene Sachentscheidung kann der Senat nicht treffen, weil die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Das Berufungsgericht hat - von seinem Standpunkt aus konsequent - bislang keine Feststellungen zu den weiteren Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO getroffen. Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben und zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

stats