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Wirtschaftsrecht
11.04.2019
Wirtschaftsrecht
EuGH: Verhängung von Geldbußen nach unionsrechtlichen und nationalen Wettbewerbsregeln in einer Entscheidung – kein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem

EuGH, Urteil vom 3.4.2019C-617/17, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie S.A. gegen Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów

ECLI:EU:C:2019:283

Volltext: BB-Online BBL2019-897-1

Tenor

Der in Art. 50 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegte Grundsatz ne bis in idem ist dahin auszulegen, dass er eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht daran hindert, gegen ein Unternehmen im Rahmen ein und derselben Entscheidung eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht und eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Art. 82 EG zu verhängen. In einem solchen Fall hat sich die nationale Wettbewerbsbehörde jedoch zu vergewissern, dass die Geldbußen insgesamt der Art des Verstoßes angemessen sind.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des in Art. 50 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) niedergelegten Grundsatzes ne bis in idem und von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).

2          Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie S.A. (im Folgenden: PZU Życie) und dem Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Leiter des polnischen Amts für den Schutz des Wettbewerbs und der Verbraucher, im Folgenden: Leiter des UOKiK) über dessen Entscheidung, mit der gegen PZU Życie wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung eine Geldbuße für einen Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht und eine Geldbuße für einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union verhängt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 heißt es:

„Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] setzt voraus, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteiligt werden. Dies wiederum bedeutet, dass sie zur Anwendung des [Unions]rechts befugt sein sollten.“

4          Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:

„Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 [EG] an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel 81 [EG] auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach Artikel 82 [EG] verbotene Missbräuche an, so wenden sie auch Artikel 82 [EG] an.“

5          Art. 5 („Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel 81 und 82 [EG] in Einzelfällen zuständig. Sie können hierzu von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen

– Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.

Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.“

6          Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor:

„(1) Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] eng zusammen.

(3) Werden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 81 oder Artikel 82 [EG] tätig, so unterrichten sie hierüber schriftlich die Kommission vor Beginn oder unverzüglich nach Einleitung der ersten förmlichen Ermittlungshandlung. Diese Unterrichtung kann auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden.

…“

7          In Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003 heißt es:

„(1) Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel 81 oder 82 [EG] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen. Sie müssen es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck kann das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das vor ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel 234 [EG].

(2) Wenn Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach Artikel 81 oder 82 [EG] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen treffen, die der von der Kommission erlassenen Entscheidung zuwiderlaufen würden.“

Polnisches Recht

8          Art. 8 Abs. 1 der Ustawa o ochronie konkurencji i konsumentów (Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs und der Verbraucher) vom 15. Dezember 2000 (Dz. U. 2000, Nr. 122, Pos. 1319, im Folgenden: GSWV) lautet:

„Der Missbrauch einer beherrschenden Stellung auf dem relevanten Markt durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten.“

9          Art. 101 Abs. 1 GSWV bestimmt:

„Der [Leiter des UOKiK] kann einem Unternehmer durch Bescheid eine Geldbuße auferlegen, deren Höhe 10 % der Einnahmen nicht überschreiten darf, die der Unternehmer in dem der Auferlegung der Geldbuße vorausgegangenen Wirtschaftsjahr erzielt hat, wenn dieser Unternehmer, sei es auch fahrlässig:

1) gegen das in Art. 5, soweit kein Ausschlusstatbestand nach den Art. 6 und 7 eingreift, oder in Art. 8 aufgestellte Verbot verstoßen hat;

2) gegen Art. 81 oder Art. 82 [EG] verstoßen hat;

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10        Mit Entscheidung vom 25. Oktober 2007 stellte der Leiter des UOKiK fest, dass PZU Życie im Zeitraum vom 1. April 2001 bis zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Entscheidung ihre beherrschende Stellung auf dem Markt der Gruppenlebensversicherungen für Arbeitnehmer in Polen missbraucht und demzufolge gegen Art. 8 GSWV verstoßen habe.

11        Ferner stellte der Leiter des UOKiK fest, dass sich die diesen Missbrauch darstellende Verhaltensweise negativ auf die Möglichkeit ausländischer Versicherer auswirken könne, in den polnischen Markt einzusteigen, was zu einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten führen könne. Folglich habe PZU Życie neben dem nationalen Recht auch Art. 82 EG verletzt.

12        Der Leiter des UOKiK verhängte gegen PZU Życie eine Sanktion in Höhe von insgesamt 50 381 080 polnischen Zloty (PLN) (ungefähr 11 697 000 Euro), die sich aus einer Geldbuße von 33 022 892,77 PLN (ungefähr 7 664 000 Euro) für den Verstoß gegen die Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts im Zeitraum vom 1. Mai 2001 bis zum 25. Oktober 2007 und einer Geldbuße von 17 358 187,23 PLN (ungefähr 4 033 000 Euro) für den Verstoß gegen Art. 82 EG im Zeitraum vom 1. Mai 2004, dem Zeitpunkt des Beitritts der Republik Polen zur Union, bis zum 25. Oktober 2007 zusammensetzt.

13        Mit Urteil vom 28. März 2014 wies der Sąd Okręgowy w Warszawie – Sąd Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Bezirksgericht Warschau – Gericht für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz, Polen) den von PZU Życie gegen die Entscheidung vom 25. Oktober 2007 eingelegten Rechtsbehelf zurück. Dieses Urteil wurde durch ein Urteil des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) vom 17. September 2015 bestätigt.

14        PZU Życie erhob beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Kassationsbeschwerde und rügte eine Verletzung des in Art. 50 der Charta und in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Grundsatzes ne bis in idem. Sie macht geltend, sie sei für eine Verletzung des Unionsrechts doppelt bestraft worden, und zwar einmal unmittelbar auf der Grundlage von Art. 82 EG in Verbindung mit Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 und ein zweites Mal mittelbar gemäß dem nationalen Wettbewerbsrecht.

15        Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem in einem demokratischen Rechtsstaat von wesentlicher Bedeutung sei und die erneute Verfolgung und Bestrafung ein und derselben Person für ein und dieselbe Tat verbiete. Der Ausgangsrechtsstreit betreffe im Wesentlichen die Frage, wann für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem in derselben Rechtssache eine erneute Verfolgung oder Bestrafung wegen Verletzung des Wettbewerbsrechts vorliege.

16        Erstens habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – so das vorlegende Gericht – im Urteil vom 10. Februar 2009, Sergey Zolotukhin/Russland (CE:ECHR:2009:0210JUD001493903, Nrn. 78 bis 82), entschieden, dass dieser Grundsatz Anwendung finde, wenn der Sachverhalt identisch sei und nicht, wenn dieselbe Straftat vorliege. Aus dieser Rechtsprechung ergebe sich, dass die doppelte Bestrafung einer Person für dasselbe wettbewerbswidrige Verhalten wie im vorliegenden Fall eine Verletzung dieses Grundsatzes darstelle. Der Gerichtshof habe in anderen Bereichen als dem Wettbewerbsrecht, u. a. in den Urteilen vom 5. Mai 1966, Gutmann/Kommission (18/65 und 35/65, EU:C:1966:24), und vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C436/04, EU:C:2006:165), denselben Ansatz verfolgt.

17        Zweitens habe der Gerichtshof jedoch in seiner Rechtsprechung zum Wettbewerbsrecht entschieden, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts abhänge. Was insbesondere die Identität des Sachverhalts betreffe, habe der Gerichtshof im Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C17/10, EU:C:2012:72, Rn. 99), klargestellt, dass sie nicht nur anhand des Verhaltens des Unternehmens zu beurteilen sei, sondern auch anhand des Zeitraums und des Gebiets, in dem sich das Verhalten ausgewirkt habe.

18        Somit besteht dem vorlegenden Gericht zufolge ein Unterschied zwischen dem Ansatz des Gerichtshofs in Wettbewerbssachen und seinem Ansatz in anderen Bereichen des Unionsrechts. In Wettbewerbssachen verlange der Gerichtshof nämlich, dass neben der Identität des Sachverhalts und des Zuwiderhandelnden auch das geschützte Rechtsgut identisch sei. Diese zusätzliche Voraussetzung schränke den Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem ein. Sie führe im vorliegenden Fall zu der Feststellung, dass dieser Grundsatz nicht verletzt sei.

19        Das vorlegende Gericht hat demnach Zweifel hinsichtlich der Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem, da es sowohl die Bestimmungen der EMRK als auch die der Charta anzuwenden habe. Darüber hinaus möchte es wissen, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung dieses Grundsatzes in Wettbewerbssachen mit Art. 52 Abs. 3 Satz 2 der Charta in Einklang steht, da diese Rechtsprechung einen geringeren als den durch die EMRK garantierten Schutz gewähre.

20        Für den Fall, dass der Gerichtshof bestätigen sollte, dass die Identität des geschützten Rechtsguts eine weitere Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ist, fragt sich das vorlegende Gericht drittens, ob das Urteil vom 13. Februar 1969, Wilhelm u. a. (14/68, EU:C:1969:4), das in einer Rechtssache ergangen sei, in der es nicht um die Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem gegangen sei, dahin zu verstehen sei, dass das Unionsrecht und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut schützten. Auch das Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C17/10, EU:C:2012:72, Rn. 81 und 98), sei insoweit nicht eindeutig, könne aber dahin verstanden werden, dass das Unionsrecht und das nationale Recht dasselbe Rechtsgut schützten. Diese Frage, über die noch nicht entschieden worden sei, sei maßgebend für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits, in dem der Sachverhalt identisch sei und im Rahmen desselben Verfahrens entsprechende Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts parallel angewandt worden seien.

21        Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Kann Art. 50 der Charta dahin ausgelegt werden, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nicht nur die Identität des Zuwiderhandelnden und des Sachverhalts voraussetzt, sondern auch die des geschützten Rechtsguts?

2. Ist Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass unionsrechtliche und nationale Wettbewerbsregeln, die durch die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats parallel angewandt werden, dasselbe Rechtsgut schützen?

Zu den Vorlagefragen

22        Mit seinen Vorlagefragen, die gemeinsam zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 50 der Charta niedergelegte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er eine nationale Wettbewerbsbehörde daran hindert, gegen ein Unternehmen im Rahmen ein und derselben Entscheidung eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht und eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Art. 82 EG zu verhängen.

23        Um die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union sicherzustellen, sollen durch die Verordnung Nr. 1/2003 nach ihrem sechsten Erwägungsgrund die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteiligt werden, indem ihnen die Befugnis zur Anwendung des Unionsrechts erteilt wird.

24        Deshalb wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 dieser Verordnung auch Art. 82 EG an, wenn sie das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach diesem Artikel verbotene Missbräuche anwenden.

25        Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht parallel anwendbar sind. Mit den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften auf europäischer und auf nationaler Ebene werden die restriktiven Praktiken unter unterschiedlichen Aspekten beurteilt, und die Anwendungsbereiche dieser Vorschriften sind nicht deckungsgleich (Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C17/10, EU:C:2012:72, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26        Hat die Kommission kein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 eingeleitet, ist die nationale Wettbewerbsbehörde demzufolge, wenn sie die Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts anwendet, mit denen einseitige Handlungen von Unternehmen verboten werden, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 82 EG beeinträchtigen können, nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 verpflichtet, parallel dazu auch Art. 82 EG anzuwenden (vgl. entsprechend zu Art. 81 EG Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C17/10, EU:C:2012:72, Rn. 77 und 78).

27        Gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 kann die für die Anwendung von Art. 82 EG zuständige nationale Wettbewerbsbehörde Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängen.

28        In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz ne bis in idem in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten ist. Dieser Grundsatz verbietet es im Bereich des Wettbewerbsrechts, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird (Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C17/10, EU:C:2012:72, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich somit, dass der Grundsatz ne bis in idem verhindern soll, dass ein Unternehmen „erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt“ wird, was voraussetzt, dass das betreffende Unternehmen in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde.

30        Diese Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem wird durch den Wortlaut von Art. 50 der Charta sowie durch den Sinn und Zweck dieses Grundsatzes gestützt.

31        Was erstens den Wortlaut von Art. 50 der Charta anbelangt, bestimmt dieser, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“.

32        Wie der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, betrifft dieser Artikel somit speziell die Wiederholung eines durch eine endgültige Entscheidung abgeschlossenen Verfahrens in Bezug auf dieselbe Handlung. Wenn die nationale Wettbewerbsbehörde gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1/2003 das nationale Wettbewerbsrecht und Art. 82 EG parallel anwendet, fehlt diese Wiederholung aber gerade.

33        Was zweitens den Sinn und Zweck des Grundsatzes ne bis in idem angeht, liegt dieser, wie der Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, als Folge des Grundsatzes res iudicata darin, Rechtssicherheit und Gleichheit zu gewährleisten; er stellt sicher, dass ein Zuwiderhandelnder, der einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, dass er für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt wird.

34        Der Schutz, den der Grundsatz ne bis in idem gegen die zur Verhängung einer Sanktion führende erneute Verfolgung bieten soll, ist somit gegenstandslos, wenn in ein und derselben Entscheidung das nationale Wettbewerbsrecht und das Wettbewerbsrecht der Union parallel angewandt werden.

35        Demzufolge ist der Grundsatz ne bis in idem, wie der Leiter des UOKiK, die polnische Regierung, die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde in ihren Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt haben, nicht auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar, in dem die nationale Wettbewerbsbehörde gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 das nationale Wettbewerbsrecht und die Wettbewerbsregeln der Union parallel anwendet und gegen ein Unternehmen nach Art. 5 dieser Verordnung eine Sanktion verhängt, indem sie ihm im Rahmen ein und derselben Entscheidung eine Geldbuße für den Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht und eine Geldbuße für den Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln der Union auferlegt.

36        Allerdings hat die nationale Wettbewerbsbehörde, wenn sie gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 entscheidet, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Art. 82 EG zu verhängen, ihre Befugnisse unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben.

37        Aus ständiger Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass die Mitgliedstaaten dann, wenn eine Verordnung der Union keine besondere Vorschrift enthält, die für den Fall eines Verstoßes gegen diese Verordnung eine Sanktion vorsieht, oder insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften verweist, nach Art. 10 EG verpflichtet sind, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, dass Verstöße gegen das Unionsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen ähneln, die bei nach Art und Schwere gleichartigen Verstößen gegen das nationale Recht gelten, und jedenfalls der Sanktion einen verhältnismäßigen Charakter verleihen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Juli 1990, Hansen, C326/88, EU:C:1990:291, Rn. 17).

38        Wie die EFTA-Überwachungsbehörde in ihren Erklärungen ausgeführt hat, hat sich die nationale Wettbewerbsbehörde deshalb, wenn sie im Rahmen ein und derselben Entscheidung zwei Geldbußen verhängt, um einen Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht und einen Verstoß gegen Art. 82 EG zu ahnden, zu vergewissern, dass die Geldbußen insgesamt der Art des Verstoßes angemessen sind, was im Ausgangsverfahren das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

39        Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta niedergelegte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht daran hindert, gegen ein Unternehmen im Rahmen ein und derselben Entscheidung eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht und eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Art. 82 EG zu verhängen. In einem solchen Fall hat sich die nationale Wettbewerbsbehörde jedoch zu vergewissern, dass die Geldbußen insgesamt der Art des Verstoßes angemessen sind.

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