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Wirtschaftsrecht
01.10.2015
Wirtschaftsrecht
BVerfG: Verfassungsmäßigkeit der Erstreckung bußgeldrechtlicher Verantwortlichkeit auf wirtschaftlich nahezu identische Rechtsnachfolger

BVerfG, Beschluss vom 20.8.2015 –1 BvR 980/15; unanfechtbar

Volltext: BB-Online BBL2015-2449-1

unter www.betriebs-berater.de

Nicht amtlicher Leitsatz

1. Eine bloße Umfirmierung und auch der alleinige Wechsel der Rechtsform stehen einer bußgeldrechtlichen Verantwortungszurechnung nach § 30 Abs. 1 OWiG in der Regel nicht entgegenstehen.

2. Aber auch bei weitergehenden gesellschaftsrechtlichen Umwandlungen kann von einer Verhängung der Geldbuße gegen „diese“ juristische Person gesprochen werden, wenn es sich aus Sicht des Bürgers faktisch um die gleiche juristische Person handelt.

GG 103 Abs. 2; OWiG § 30 Abs. 1

Sachverhalt

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind zivilgerichtliche Entscheidungen auf dem Gebiet des Kartellrechts.

Die Beschwerdeführerin ist Rechtsnachfolgerin der im Jahr 2012 auf sie verschmolzenen M. Kaffee GmbH (im Folgenden: M. GmbH). Die Geschäftsführer und Vertriebsleiter der M. GmbH hatten mit Repräsentanten konkurrierender Röstkaffeehersteller ein Preiskartell auf den deutschen Absatzmärkten für Röstkaffee praktiziert.

Das OLG hat gegen die Beschwerdeführerin wegen einer vorsätzlichen Kartellordnungswidrigkeit gemäß § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB i.V.m. Art. 81 Abs. 1 EGV eine Geldbuße in Höhe von 55.000.000 Euro festgesetzt. Nachdem die M. GmbH infolge wirksamer Verschmelzung nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 UmwG erloschen sei, erstrecke sich die bußgeldrechtliche Haftung für von deren Leitungspersonen begangene Ordnungswidrigkeiten auf die Beschwerdeführerin als Gesamtrechtsnachfolgerin des erloschenen Verbandes. Die Zurechnung folge aus § 30 Abs. 1 OWiG. Die gegen dieses Urteil gerichtete Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin verwarf der BGH als unbegründet. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin, mit der sie die Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3, Art. 20 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 2 GG rügt, wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Aus den Gründen

10        II. … Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hat die Beschwerdeführerin weder im Hinblick auf die Auslegung und Anwendung von § 30 Abs. 1 OWiG durch die Fachgerichte (1.), noch bezüglich der gesetzlichen Regelung in § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB (2.) ausreichend dargelegt.

11        1. Art. 103 Abs. 2 GG zieht auch für die Auslegung von Bußgeldvorschriften eine verfassungsrechtliche Schranke (vgl. BVerfGE 87, 399, 411 m.w.N.). Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Wenn Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Bußgeldandrohung für den Normadressaten verlangt, so kann das nur bedeuten, dass dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist (vgl. BVerfGE 71, 108, 115). Diese Grenze haben die Fachgerichte mit ihrer Interpretation von § 30 Abs. 1 OWiG nicht überschritten.

12        Die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass die Festsetzung einer Geldbuße gegen eine Gesamtrechtsnachfolgerin, die mit der ursprünglichen juristischen Person bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise nahezu identisch ist, von diesem Wortlaut nicht mehr erfasst wird, trifft nicht zu. Gerade aus Sicht eines unvoreingenommenen Bürgers dürfte in diesen Fällen die Annahme einer fortdauernden bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit zur Vermeidung der Umgehungsgefahr nahe liegen.

13        Unbestritten ist dementsprechend, dass eine bloße Umfirmierung und auch der alleinige Wechsel der Rechtsform einer Verantwortungszurechnung nach § 30 Abs. 1 OWiG in der Regel nicht entgegenstehen (vgl. Meyberg, in: BeckOK OWiG, § 30 Rn. 39, 41, 15. Dezember 2014 m.w.N.). Aber auch bei weitergehenden gesellschaftsrechtlichen Umgestaltungen kann von einer Verhängung der Geldbuße gegen „diese“ juristische Person gesprochen werden, wenn es sich aus Sicht des Bürgers faktisch um die gleiche juristische Person handelt. Die hierfür vom Bundesgerichtshof entwickelten Kriterien - Gesamtrechtsnachfolge und „Nahezu-Identität“ bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise (vgl. BGHSt 52, S. 58 ff.; BGH, Beschluss vom 11. März 1986 - KRB 8/85 -, juris, Rn. 13 ff.; Beschluss vom 23. November 2004 - KRB 23/04 -, juris, Rn. 15 ff.; Beschluss vom 4. Oktober 2007 - KRB 59/07 -, juris, Rn. 7) - sind dabei geeignet, die Voraussetzungen für die Annahme einer Verantwortungszurechnung hinreichend zu konkretisieren.

14        Auch der Wille des Gesetzgebers stützt die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung. Denn Zweck der Geldbuße für juristische Personen ist die Schaffung eines Ausgleichs dafür, dass der juristischen Person, die nur durch ihre Organe zu handeln im Stande ist, zwar die Vorteile dieser in ihrem Interesse vorgenommenen Betätigung zufließen, dass sie aber beim Fehlen einer Sanktionsmöglichkeit nicht den Nachteilen ausgesetzt wäre, die als Folge der Nichtbeachtung der Rechtsordnung im Rahmen der für sie vorgenommenen Betätigung eintreten können. Dementsprechend sollen die der juristischen Person zugeflossenen Gewinne abgeschöpft und die Erzielung solcher Gewinne bekämpft werden (vgl. BT-Drucks V/1269, S. 59 f.). Der Bundesgerichtshof ermöglicht mit seiner Rechtsprechung die Erreichung dieser Ziele auch bei wirtschaftlich zumindest weitgehend identischen Rechtsnachfolgern.

15        Demgegenüber kann die Ansicht der Beschwerdeführerin, der Begriff der juristischen Person sei aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung in einem „fachsprachlichen“ Sinne auszulegen, nicht überzeugen. Es bleibt einerseits unklar, welchen Inhalt dieses fachsprachliche Verständnis haben soll, während die Beschwerdeführerin andererseits außer Acht lässt, dass in einer zwar einheitlichen, aber je nach Sachbereichen differenzierten Rechtsordnung eine „Relativität der Rechtsbegriffe“ angelegt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Dezember 1991 - 2 BvR 72/90 -, juris, Rn. 10).

16        Hinzu kommt, dass für die Beschwerdeführerin das Risiko ihrer Heranziehung bei der Ahndung der Kartellordnungswidrigkeit zumindest aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorhersehbar sein musste (vgl. dazu BVerfGE 73, 206, 243; 126, 170,  196 f. m.w.N.). Der Bundesgerichtshof hatte seine grundlegende Entscheidung aus dem Jahr 1986 mehrfach und auch unmittelbar vor der Umwandlung der M. GmbH bestätigt (vgl. BGHSt 57, S. 193 ff.; BGH, Beschluss vom 10. August 2011 - KRB 2/10 -, juris, Rn. 8 ff.; Beschluss vom 10. August 2011 - KRB 55/10 -, juris, Rn. 13 ff.). Auch in der Rechtsprechung der Obergerichte (vgl. BayObLG, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 3 ObOWi 29/02 -, juris, Rn. 7; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Januar 2010 - VI-Kart 55/06 OWi u.a. -, juris, Rn. 39 ff.; s.a. schon KG, Urteil vom 18. April 1984 - Kart. a 27/83 -) und von der überwiegenden Meinung in der Literatur wird die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs geteilt (vgl. Gürtler, in: Göhler/Gürtler/Seitz, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 30 Rn. 38c; Rogall, in: Karlsruher Kommentar OWiG, 4. Aufl.  2014, § 30 Rn. 46 ff. m.w.N. auch zur Gegenauffassung; Förster, in: Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, § 30 Rn. 50 ff. April 2014) …

 

 

 

 


 

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