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Wirtschaftsrecht
16.10.2024
Wirtschaftsrecht
EuGH: Verbraucherinformation – Angabe des Gebiets Westsahara (und nicht Marokko) als Ursprungsland auf dem Etikett von dort geernteten Melonen und Tomaten

EuGH, Urteil vom 4.10.2024 – C-399/22; Confédération paysanne gegen Ministère de l’Agriculture et de la Souveraineté alimentaire, Ministère de l’Économie, des Finances et de la Souveraineté industrielle et numérique

ECLI:EU:C:2024:839

Volltext: BB-Online BBL2024-2433-2

Tenor

1. Art. 207 AEUV, die Verordnung (EU) 2015/478 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2015 über eine gemeinsame Einfuhrregelung und die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates sind zusammen dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, einseitig ein Einfuhrverbot für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu erlassen, die durchgängig nicht mit den Rechtsvorschriften der Union über die Angabe des Ursprungslands oder ‑gebiets im Einklang stehen.

2. Art. 76 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 ist in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 der Kommission vom 7. Juni 2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates für die Sektoren Obst und Gemüse und Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse dahin auszulegen, dass auf den Stufen der Einfuhr und des Verkaufs an den Verbraucher auf dem Etikett der im Gebiet der Westsahara geernteten Charentais-Melonen und Kirschtomaten allein die Westsahara als ihr Ursprungsland anzugeben ist.
 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. 2011, L 304, S. 18), insbesondere ihrer Art. 9 und 26, der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 671), insbesondere ihres Art. 76, der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 der Kommission vom 7. Juni 2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates für die Sektoren Obst und Gemüse und Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse (ABl. 2011, L 157, S. 1), der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex der Union) und des Beschlusses (EU) 2019/217 des Rates vom 28. Januar 2019 über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union einerseits und dem Königreich Marokko andererseits zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. 2019, L 34, S. 1) sowie die Gültigkeit des Beschlusses 2019/217 im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 und Art. 21 EUV sowie Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen.

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Confédération paysanne, einem französischen Landwirtschaftsverband, und dem Ministre de l’Agriculture et de la Souveraineté alimentaire (Minister für Landwirtschaft und Nahrungsmittelsouveränität, Frankreich) sowie dem Ministre de l’Économie, des Finances et de la Souveraineté industrielle et numérique (Minister für Wirtschaft, Finanzen sowie industrielle und digitale Souveränität, Frankreich) wegen der impliziten Ablehnung des Antrags der Confédération paysanne auf Erlass eines Einfuhrverbots für Kirschtomaten und Charentais-Melonen, die im Gebiet der Westsahara geerntet wurden (im Folgenden: in Rede stehende Erzeugnisse).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Durchführungsverordnung Nr. 543/2011

3          Die Erwägungsgründe 4, 8, 12 und 16 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 lauten:

„(4)       Gemäß Artikel 113 Absatz 1 Buchstaben b und c der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 [des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. 2007, L 299, S. 1)] kann die Kommission Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse bzw. für Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse vorsehen. Gemäß Artikel 113a Absatz 1 der genannten Verordnung dürfen die Erzeugnisse des Sektors Obst und Gemüse, die frisch an den Verbraucher verkauft werden sollen, nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie in einwandfreiem Zustand, unverfälscht und von vermarktbarer Qualität sind und das Ursprungsland angegeben ist. Um die Durchführung dieser Bestimmung zu harmonisieren, empfiehlt es sich, diesbezüglich ausführliche Angaben zu machen und eine allgemeine Vermarktungsnorm für alles frische Obst und Gemüse vorzusehen. …

(8)        Von den Vermarktungsnormen vorgegebene Angaben sollten auf der Verpackung und/oder dem Etikett deutlich sichtbar sein. Um Betrug und die Irreführung der Verbraucher zu vermeiden, sollten die von den Vermarktungsnormen vorgegebenen Angaben dem Verbraucher vor dem Kauf verfügbar sein; dies gilt insbesondere für den Fernabsatz, bei dem die Erfahrung gezeigt hat, dass Betrugsrisiken bestehen und der durch die Normen gewährte Verbraucherschutz möglicherweise umgangen wird. …

(12)      Jeder Mitgliedstaat sollte die Kontrollstellen bezeichnen, die für die Durchführung der Konformitätskontrolle auf den einzelnen Vermarktungsstufen zuständig sind. Eine dieser Stellen sollte für die Kontakte und die Koordinierung zwischen allen anderen benannten Stellen zuständig sein. …

(16)      Einfuhren von Obst und Gemüse aus Drittländern sollten den Vermarktungsnormen oder gleichwertigen Normen genügen. Vor der Abfertigung dieser Waren zum freien Verkehr in der Union muss daher eine Konformitätskontrolle durchgeführt werden, außer bei kleinen Partien, bei denen nach Auffassung der Kontrolldienste nur eine geringe Gefahr der Nichtkonformität besteht. In bestimmten Drittländern, die unter zufriedenstellenden Bedingungen gewährleisten, dass die Normen eingehalten werden, können vor der Ausfuhr von den Kontrollstellen dieser Drittländer Kontrollen vorgenommen werden. Wird von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, so sollten die Mitgliedstaaten regelmäßig die Wirksamkeit und Qualität der von den Drittlandkontrollstellen vor der Ausfuhr durchgeführten Kontrollen überprüfen.“

4          Art. 3 („Vermarktungsnormen; Besitzer“) der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 sieht vor:

„(1)       Die Anforderungen von Artikel 113a Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 gelten als die allgemeine Vermarktungsnorm. Die Einzelheiten der allgemeinen Vermarktungsnorm sind in Anhang I Teil A der vorliegenden Verordnung aufgeführt.

Obst und Gemüse, für das keine spezielle Vermarktungsnorm gilt, muss der allgemeinen Vermarktungsnorm entsprechen. …

(2)        Die speziellen Vermarktungsnormen gemäß Artikel 113 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 sind für folgende Erzeugnisse in Anhang I Teil B der vorliegenden Verordnung aufgeführt: …

j)          Tomaten/Paradeiser. …“

5          Art. 5 („Kennzeichnungsangaben“) der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)       Die in diesem Kapitel vorgeschriebenen Kennzeichnungsangaben müssen auf einer Seite der Verpackung deutlich sichtbar und lesbar entweder unverwischbar aufgedruckt oder auf einem Etikett angebracht sein, das Bestandteil des Packstücks ist oder haltbar am Packstück befestigt ist.

(2)        Bei in loser Schüttung beförderten Erzeugnissen, die direkt auf das Transportmittel verladen werden, müssen die Kennzeichnungsangaben gemäß Absatz 1 auf einem Warenbegleitpapier oder auf einem im Innern des Transportmittels sichtbar angebrachten Schild vermerkt sein.“

6          Art. 8 („Geltungsbereich“) der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 lautet:

„Dieses Kapitel enthält Vorschriften für die Konformitätskontrollen, d. h. die Kontrollen, die bei Obst und Gemüse auf allen Vermarktungsstufen durchgeführt werden, um festzustellen, ob die Erzeugnisse den Vermarktungsnormen und anderen Bestimmungen dieses Titels sowie der Artikel 113 und 113a der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 entsprechen.“

7          Art. 15 („Anerkennung der von Drittländern vor Einfuhr in die Union durchgeführten Konformitätskontrollen“) der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 bestimmt in den Abs. 1 und 4:

„(1)       Die Kommission kann auf Antrag eines Drittlands und nach dem Verfahren des Artikels 195 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 bei speziellen Vermarktungsnormen die Konformitätskontrollen, die dieses Drittland vor der Einfuhr in die Union durchführt, anerkennen. …

(4)        Die Drittländer, deren Konformitätskontrollen gemäß diesem Artikel anerkannt wurden, und die betreffenden Erzeugnisse sind in Anhang IV aufgeführt. …“

8          Art. 17 Abs. 3 Unterabs. 1, 4 und 5 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 sieht vor:

„Im Falle der Nichtkonformität stellt die Kontrollstelle ein an den Händler oder seinen Vertreter gerichtetes Beanstandungsprotokoll aus. Waren, die Gegenstand eines solchen Beanstandungsprotokolls sind, dürfen nicht ohne Erlaubnis der Kontrollstelle bewegt werden, die das Beanstandungsprotokoll ausgestellt hat. Diese Erlaubnis kann von der Einhaltung der von der vorgenannten Kontrollstelle festgelegten Bedingungen abhängig gemacht werden. …

Können die Waren weder nachgebessert noch der Tierfütterung, der industriellen Verarbeitung oder einem anderen nicht der Ernährung dienenden Zweck zugeführt werden, so kann die Kontrollstelle erforderlichenfalls die Händler auffordern, geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die betreffenden Erzeugnisse nicht vermarktet werden.

Die Händler übermitteln die von den Mitgliedstaaten für die Anwendung dieses Absatzes für erforderlich erachteten Informationen.“

9          Art. 18 Abs. 2 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 lautet:

„Ein Mitgliedstaat, in dem eine Partie Waren aus einem Drittland aufgrund der Nichteinhaltung der Vermarktungsnormen nicht zur Abfertigung zum zollrechtlich freien Verkehr zugelassen wird, teilt dies unverzüglich der Kommission, den mutmaßlich betroffenen Mitgliedstaaten und dem betroffenen, in Anhang IV aufgeführten Drittland mit.“

10        Nach Anhang I der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011, der die Vermarktungsnormen gemäß ihrem Art. 3 betrifft, gehört zu den allgemeinen Vermarktungsnormen die Angabe des Erzeugnisursprungs in Form des vollständigen Namens des Ursprungslands (Teil A Nr. 4). Die Vermarktungsnorm für Tomaten/Paradeiser in Teil 10 von Anhang I Teil B sieht vor, dass jedes Packstück zusammenhängend auf einer Seite Angaben in lesbaren, unverwischbaren und von außen sichtbaren Buchstaben zum Ursprungsland und – wahlfrei – zum Anbaugebiet aufweisen muss.

11        Marokko gehört nach Anhang IV der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 zu den Drittländern, deren Konformitätskontrollen gemäß Art. 15 für „frisches Obst und Gemüse“ anerkannt wurden.

Verordnung Nr. 1169/2011

12        Art. 1 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1169/2011 lautet:

„Diese Verordnung gilt unbeschadet der in speziellen Rechtsvorschriften der Union für bestimmte Lebensmittel enthaltenen Kennzeichnungsvorschriften.“

13        Art. 9 („Verzeichnis der verpflichtenden Angaben“) der Verordnung Nr. 1169/2011 sieht in Abs. 1 Buchst. i vor:

„Nach Maßgabe der Artikel 10 bis 35 und vorbehaltlich der in diesem Kapitel vorgesehenen Ausnahmen sind folgende Angaben verpflichtend: …

i)          das Ursprungsland oder der Herkunftsort, wo dies nach Artikel 26 vorgesehen ist …“

14        Art. 26 („Ursprungsland oder Herkunftsort“) der Verordnung Nr. 1169/2011 bestimmt in Abs. 2 Buchst. a:

„Die Angabe des Ursprungslands oder des Herkunftsorts ist in folgenden Fällen verpflichtend:

a)         falls ohne diese Angabe eine Irreführung der Verbraucher über das tatsächliche Ursprungsland oder den tatsächlichen Herkunftsort des Lebensmittels möglich wäre, insbesondere wenn die dem Lebensmittel beigefügten Informationen oder das Etikett insgesamt sonst den Eindruck erwecken würden, das Lebensmittel komme aus einem anderen Ursprungsland oder Herkunftsort …“

Zollkodex der Union

15        Art. 59 des Zollkodex der Union sieht vor:

„Die Artikel 60 und 61 enthalten Vorschriften zur Bestimmung des nichtpräferenziellen Ursprungs von Waren für die Anwendung …

c)         sonstiger Unionsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Warenursprung.“

16        Art. 60 („Ursprungserwerb“) des Zollkodex lautet:

„(1)       Waren, die in einem einzigen Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt worden sind, gelten als Ursprungswaren dieses Landes oder Gebiets.

(2)        Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist, gelten als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets, in dem sie der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.“

17        Art. 134 („Zollamtliche Überwachung“) des Zollkodex sieht in Abs. 1 vor:

„Waren, die in das Zollgebiet der Union verbracht werden, unterliegen ab dem Zeitpunkt ihres Eingangs der zollamtlichen Überwachung und können Zollkontrollen unterzogen werden. Sie unterliegen gegebenenfalls Verboten und Beschränkungen, die unter anderem aus folgenden Gründen gerechtfertigt sein können: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung oder Sicherheit, Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, Schutz der Umwelt, Schutz des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert, Schutz des gewerblichen Eigentums – wozu auch Kontrollen in Bezug auf Drogenausgangsstoffe, Waren, die bestimmte Rechte des geistigen Eigentums verletzen, und Bargeld gehören – sowie Durchführung von Maßnahmen zur Erhaltung und Bewirtschaftung der Fischereiressourcen oder von handelspolitischen Maßnahmen.

Sie bleiben so lange unter zollamtlicher Überwachung, wie dies für die Ermittlung ihres zollrechtlichen Status erforderlich ist, und sie dürfen daraus nicht ohne Erlaubnis der Zollbehörden entfernt werden.

Unbeschadet des Artikels 254 unterliegen Unionswaren nicht mehr der zollamtlichen Überwachung, sobald ihr zollrechtlicher Status festgestellt ist.

Nicht-Unionswaren bleiben unter zollamtlicher Überwachung, bis sich ihr zollrechtlicher Status ändert oder sie aus dem Zollgebiet der Union verbracht oder zerstört werden.“

Verordnung Nr. 1308/2013

18        Art. 74 („Allgemeiner Grundsatz“) der Verordnung Nr. 1308/2013 lautet:

„Die Erzeugnisse, für die in Einklang mit diesem Abschnitt Vermarktungsnormen für einzelne Sektoren oder Erzeugnisse festgelegt wurden, dürfen in der Union nur vermarktet werden, wenn sie diesen Normen entsprechen.“

19        Art. 75 der Verordnung Nr. 1308/2013 sieht vor:

„(1)       Vermarktungsnormen können für einen oder mehrere der folgenden Sektoren und für ein oder mehrere Erzeugnisse gelten: …

b)         Obst und Gemüse; …

(3)        Unbeschadet des Artikels 26 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates können die Vermarktungsnormen gemäß Absatz 1 sich auf eine oder mehrere der folgenden, auf Sektor- oder Produktbasis festzulegenden Anforderungen beziehen, die den Merkmalen jedes Sektors, der Notwendigkeit einer Regulierung der Vermarktung und den Bedingungen gemäß Absatz 5 dieses Artikels Rechnung tragen: …

j)          den Erzeugungsort und/oder den Ursprungsort des landwirtschaftlichen Produkts, mit Ausnahme von Geflügelfleisch und Streichfetten; …“

20        Art. 76 („Zusätzliche Anforderungen für die Vermarktung von Erzeugnissen des Sektors Obst und Gemüse“) der Verordnung Nr. 1308/2013 bestimmt:

„(1)       Zusätzlich zu den in Artikel 75 genannten geltenden Vermarktungsnormen dürfen gegebenenfalls Erzeugnisse des Sektors Obst und Gemüse, die frisch an den Verbraucher verkauft werden sollen, nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie in einwandfreiem Zustand, unverfälscht und von vermarktbarer Qualität sind und das Ursprungsland angegeben ist.

(2)        Die Vermarktungsnormen gemäß Absatz 1 und jegliche Vermarktungsnorm für den Sektor Obst und Gemüse, die in Einklang mit diesem Unterabschnitt festgelegt werden, gelten auf allen Stufen der Vermarktung, einschließlich Ein- und Ausfuhr, und können Güte- und Gewichtsklassen, die Kategorisierung, die Größensortierung, die Verpackung, die Lagerung, die Beförderung, die Aufmachung und die Vermarktung umfassen.

(3)        Der Besitzer von Erzeugnissen des Sektors Obst und Gemüse, für die Vermarktungsnormen gelten, darf diese Erzeugnisse in der Union nur dann feilhalten, anbieten, liefern oder anderweitig vermarkten, wenn sie diesen Normen entsprechen; er ist dafür verantwortlich, dass diese Normen erfüllt werden. …“

21        Der zu Teil III („Handel mit Drittländern“) der Verordnung Nr. 1308/2013 gehörende Art. 194 („Schutzmaßnahmen“) sieht vor:

„(1)       Vorbehaltlich des Absatzes 3 dieses Artikels erlässt die Kommission gemäß den Verordnungen (EG) Nr. 260/2009 des Rates und (EG) Nr. 625/2009 des Rates Schutzmaßnahmen gegen Einfuhren in die Union.

(2)        Vorbehaltlich anderslautender Bestimmungen in Rechtsakten des Europäischen Parlaments und des Rates sowie Rechtsakten des Rates erlässt die Kommission gemäß Absatz 3 dieses Artikels Schutzmaßnahmen gegen Einfuhren in die Union, die in gemäß dem [AEU-Vertrag] geschlossenen internationalen Übereinkünften vorgesehen sind.

(3)        Die Kommission kann Durchführungsrechtsakte mit den Maßnahmen gemäß den Absätzen 1 und 2 des vorliegenden Artikels auf Antrag eines Mitgliedstaats oder von sich aus erlassen. …

Ist die Kommission mit einem Antrag eines Mitgliedstaats befasst worden, so entscheidet sie hierüber im Wege von Durchführungsrechtsakten innerhalb von fünf Arbeitstagen nach Eingang des Antrags. Diese Durchführungsrechtsakte werden nach dem Prüfverfahren gemäß Artikel 229 Absatz 2 erlassen.

In hinreichend begründeten Fällen äußerster Dringlichkeit erlässt die Kommission nach dem Verfahren gemäß Artikel 229 Absatz 3 sofort geltende Durchführungsrechtsakte.

Diese Maßnahmen werden den Mitgliedstaaten unverzüglich mitgeteilt und sind sofort wirksam.

(4)        Die Kommission kann Durchführungsrechtsakte erlassen, die die gemäß Absatz 3 dieses Artikels getroffenen Schutzmaßnahmen der Union aufheben oder ändern. Diese Durchführungsrechtsakte werden nach dem Prüfverfahren gemäß Artikel 229 Absatz 2 erlassen.

In hinreichend begründeten Fällen äußerster Dringlichkeit erlässt die Kommission nach dem Verfahren gemäß Artikel 229 Absatz 3 sofort geltende Durchführungsrechtsakte.“

Verordnung 2015/478

22        Art. 1 der Verordnung (EU) 2015/478 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2015 über eine gemeinsame Einfuhrregelung (ABl. 2015, L 83, S. 16, im Folgenden: Grundverordnung über Schutzmaßnahmen) lautet:

„(1)       Diese Verordnung gilt für die Einfuhren der Waren mit Ursprung in Drittländern, mit Ausnahme von

a)         Textilwaren, die unter eine spezifische Einfuhrregelung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 517/94 fallen;

b)         Waren mit Ursprung in bestimmten Drittländern, die in der Verordnung (EG) Nr. 625/2009 aufgeführt sind.

(2)        Die Einfuhr der in Absatz 1 genannten Waren in die Union ist frei und unterliegt mithin – unbeschadet etwaiger Schutzmaßnahmen gemäß Kapitel V – keinen mengenmäßigen Beschränkungen.“

23        Art. 15 der Verordnung 2015/478 sieht vor:

„(1)       Wird eine Ware in derart erhöhten Mengen und/oder unter derartigen Bedingungen in die Union eingeführt, dass den Unionsherstellern eine bedeutende Schädigung entsteht oder zu entstehen droht, so kann die Kommission zur Wahrung der Interessen der Union auf Antrag eines Mitgliedstaats oder von sich aus

a)         die Frist verkürzen, innerhalb deren die Überwachungsdokumente im Sinne des Artikels 11 verwendet werden dürfen, die nach Inkrafttreten der Maßnahme erteilt werden;

b)         die Einfuhrregelung für die Ware dahin gehend ändern, dass sie nur gegen Vorlage einer Einfuhrgenehmigung zum zollrechtlich freien Verkehr abgefertigt werden darf; diese Genehmigung wird nach den Bestimmungen und innerhalb der Grenzen erteilt, die die Kommission festlegt.

Die Maßnahmen nach den Buchstaben a und b sind unmittelbar anwendbar.

(2)        Gegenüber WTO-Mitgliedern werden die Maßnahmen nach Absatz 1 nur ergriffen, wenn die beiden Voraussetzungen von Absatz 1 Unterabsatz 1 erfüllt sind. …

(5)        Die Maßnahmen nach diesem Artikel gelten für alle nach ihrem Inkrafttreten zum zollrechtlich freien Verkehr abgefertigten Waren. Nach Artikel 17 können sie auf eine Region oder mehrere Regionen der Union beschränkt werden.

Diese Maßnahmen beeinträchtigen jedoch nicht die Abfertigung bereits auf dem Weg in die Union befindlicher Waren zum zollrechtlich freien Verkehr, wenn ihre Bestimmung nicht geändert werden kann und wenn die Waren, die nach den Artikeln 10 und 11 nur gegen Vorlage eines Überwachungsdokuments zum zollrechtlich freien Verkehr abgefertigt werden können, von einem solchen Dokument begleitet sind.

(6)        Ist das Eingreifen der Kommission von einem Mitgliedstaat beantragt worden, so fasst die Kommission nach dem in Artikel 3 Absatz 3 vorgesehenen Prüfverfahren oder bei Dringlichkeit nach Artikel 3 Absatz 4 innerhalb von höchstens fünf Arbeitstagen nach dem Zeitpunkt des Eingangs des Antrags einen Beschluss.“

24        Art. 24 Abs. 2 der Verordnung 2015/478 bestimmt:

„Unbeschadet anderslautender Vorschriften der Union steht diese Verordnung dem Erlass oder der Anwendung folgender einzelstaatlicher Maßnahmen nicht entgegen:

a)         Verbote, mengenmäßige Beschränkungen oder Überwachungsmaßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen oder Tieren oder des Schutzes von Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen oder kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind; …“

Beschluss 2019/217

25        Durch Art. 1 des Beschlusses 2019/217 wird das Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits im Namen der Union genehmigt.

26        Abs. 5 jedes der beiden dem Beschluss 2019/217 beigefügten Briefe (ABl. 2019, L 34, S. 4), deren Austausch die Grundlage dieses Abkommens bildet, lautet:

„Die Europäische Union und das Königreich Marokko haben vereinbart, nach Protokoll Nr. 4 die folgende gemeinsame Erklärung in das [Assoziierungsabkommen] einzufügen.

‚Gemeinsame Erklärung über die Anwendung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (im Folgenden ‘[Assoziierungsabkommen]’)

1.         Für Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara, die der Kontrolle der Zollbehörden des Königreichs Marokko unterliegen, gelten die gleichen Handelspräferenzen wie die, die von der Europäischen Union für unter das [Assoziierungsabkommen] fallende Erzeugnisse gewährt werden.

2.         Das Protokoll Nr. 4 gilt sinngemäß für die Zwecke der Bestimmung der Ursprungseigenschaft der in Absatz 1 genannten Erzeugnisse, auch in Bezug auf die Ursprungsnachweise.

3.         Die Zollbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Königreichs Marokkos sind damit betraut, die Anwendung des Protokolls Nr. 4 auf diese Erzeugnisse sicherzustellen.‘“

Französisches Recht

27        Art. 23bis des französischen Zollkodex lautet:

„Vorbehaltlich der Anwendung internationaler Übereinkünfte kann die Einfuhr von Lebensmitteln, Stoffen und Erzeugnissen jeder Art und jeden Ursprungs, die nicht den in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften für vergleichbare innerstaatliche Lebensmittel, Stoffe oder Erzeugnisse im Bereich der Vermarktung oder des Verkaufs aufgestellten Pflichten genügen, durch gemeinsame Erlasse des Wirtschafts- und Finanzministers, des für die Ressourcen zuständigen Ministers und des mit der Betrugsbekämpfung betrauten Landwirtschaftsministers verboten oder reglementiert werden.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

28        Am 2. Oktober 2020 befasste die Confédération paysanne den Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), das vorlegende Gericht, mit einer Klage, die zum einen auf die Nichtigerklärung der impliziten Ablehnung ihres Antrags auf Erlass eines Einfuhrverbots für die in Rede stehenden Erzeugnisse in Anwendung von Art. 23bis des französischen Zollkodex durch den Minister für Landwirtschaft und Nahrungsmittelsouveränität und den Minister für Wirtschaft, Finanzen sowie industrielle Souveränität gerichtet war und zum anderen darauf, diesen Ministern aufzugeben, ein solches Verbot zu erlassen. Sie macht im Wesentlichen geltend, das Gebiet der Westsahara gehöre nicht zum Hoheitsgebiet des Königreichs Marokko, so dass die Kennzeichnung der in Rede stehenden Erzeugnisse als aus Marokko stammend gegen die Bestimmungen des Unionsrechts in Bezug auf die Information der Verbraucher über den Ursprung des zum Verkauf angebotenen Obsts und Gemüses verstoße.

29        Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass nach der einschlägigen unionsrechtlichen Regelung das Erfordernis der Angabe des Ursprungslands oder -gebiets eines Erzeugnisses grundsätzlich ab dessen Einfuhr beachtet werden müsse. Diese Regelung verleihe den Mitgliedstaaten keine ausdrückliche Befugnis zum Erlass von Einfuhrverboten für Erzeugnisse, die das genannte Erfordernis nicht erfüllten. Ein solches Verbot könnte allerdings dann gerechtfertigt sein, wenn ein massiver Verstoß gegen die Regelung vorliege, der die Durchführung von Kontrollen nach der Verbreitung der Erzeugnisse im Unionsgebiet erschwere.

30        Infolgedessen bedürfe der Klärung, ob die fragliche Regelung dahin ausgelegt werden könne, dass sie einem Mitgliedstaat gestatte, im nationalen Recht die Einfuhr von Erzeugnissen, die nicht mit korrekten Angaben zum Ursprungsland oder -gebiet versehen seien, aus einem Drittland zu verbieten, wenn es sich um massive Verstöße handele, die eine Kontrolle dieser Erzeugnisse erschwerten, sobald sie sich im Unionsgebiet befänden.

31        Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof in den Urteilen vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C-104/16 P, EU:C:2016:973), und vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK (C-266/16, EU:C:2018:118), aus den Grundsätzen der Selbstbestimmung und der relativen Wirkung von Verträgen gefolgert habe, dass die Westsahara nicht als Teil des Königreichs Marokko im Sinne des Assoziierungsabkommens zwischen Marokko und der Europäischen Union und der ihm untergeordneten Abkommen angesehen werden könne. Im Anschluss an diese Urteile hätten das Königreich Marokko und die Europäische Union jedoch in Form eines Briefwechsels ein Abkommen zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits geschlossen, das durch den Beschluss 2019/217 genehmigt worden sei. Mit diesem Abkommen seien die Zollpräferenzen für Erzeugnisse mit Ursprung in Marokko, die in die Union ausgeführt würden, auf Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara erstreckt worden.

32        Der Beschluss 2019/217 sei zwar durch das Urteil vom 29. September 2021, Front Polisario/Rat (T-279/19, EU:T:2021:639), für nichtig erklärt worden, doch seine Wirkungen seien bis zur Verkündung des Urteils des Gerichtshofs, mit dem über das Rechtsmittel der Kommission gegen das Urteil des Gerichts entschieden werde, aufrechterhalten worden. Sofern ein Mitgliedstaat befugt sei, im nationalen Recht die Einfuhr von Erzeugnissen, die nicht mit korrekten Angaben zum Ursprungsland oder -gebiet versehen seien, zu verbieten, stelle sich deshalb die Frage, ob das Abkommen in Form eines Briefwechsels dahin auszulegen sei, dass das Königreich Marokko das Ursprungsland der in Rede stehenden Erzeugnisse sei, und ob die marokkanischen Behörden für die Ausstellung der in der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 vorgesehenen Konformitätsbescheinigungen zuständig seien.

33        Drittens führt das vorlegende Gericht aus, falls diese Frage bejaht werde, bedürfe ferner der Klärung, ob der Beschluss 2019/217 mit Art. 3 Abs. 5 und Art. 21 EUV sowie mit dem u. a. in Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen erwähnten völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der Selbstbestimmung vereinbar sei.

34        Viertens schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob angesichts der Erwägungen zur Situation des Gebiets der Westsahara in den Urteilen vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C-104/16 P, EU:C:2016:973), und vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK (C-266/16, EU:C:2018:118), die einschlägige unionsrechtliche Regelung dahin auszulegen sei, dass auf der Stufe der Einfuhr der in Rede stehenden Erzeugnisse sowie ihres Verkaufs an den Verbraucher auf ihrem Etikett das Königreich Marokko als Ursprungsland angegeben werden dürfe oder ob nur das Gebiet der Westsahara anzugeben sei.

35        Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.         Sind die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1169/2011, der Verordnung Nr. 1308/2013, der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 und des Zollkodex der Union dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat ermächtigen, eine nationale Maßnahme zu erlassen, mit der Einfuhren von Obst und Gemüse aus einem bestimmten Land verboten werden, die gegen Art. 26 der Verordnung Nr. 1169/2011 und Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 verstoßen, weil ihr tatsächliches Ursprungsland oder ihr tatsächliches Herkunftsgebiet nicht angegeben ist, insbesondere wenn es sich hierbei um massive Verstöße handelt, die schwer zu überprüfen sind, sobald die Erzeugnisse in das Unionsgebiet gelangt sind?

2.         Falls die erste Frage bejaht wird: Ist das durch den Beschluss 2019/217 genehmigte Abkommen in Form eines Briefwechsels zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens vom 26. Februar 1996 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Marokko andererseits dahin auszulegen, dass für die Anwendung der Art. 9 und 26 der Verordnung Nr. 1169/2011 und von Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 zum einen Marokko das Ursprungsland von Obst und Gemüse ist, das im Gebiet der Westsahara geerntet wurde, und zum anderen die marokkanischen Behörden für die Ausstellung der in der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 vorgesehenen Konformitätsbescheinigungen für das in diesem Gebiet geerntete Obst und Gemüse zuständig sind?

3.         Falls die zweite Frage bejaht wird: Ist der Beschluss 2019/217, mit dem dieses Abkommen in Form eines Briefwechsels genehmigt wurde, mit Art. 3 Abs. 5 EUV, Art. 21 EUV und dem u. a. in Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen erwähnten völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der Selbstbestimmung vereinbar?

4.         Sind die Art. 9 und 26 der Verordnung Nr. 1169/2011 und Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen, dass auf der Stufe der Einfuhr sowie des Verkaufs an den Verbraucher auf der Verpackung von Obst und Gemüse, das im Gebiet der Westsahara geerntet wurde, nicht Marokko als Ursprungsland genannt werden darf, sondern das Gebiet der Westsahara anzugeben ist?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

36        Der Beschluss 2019/217 über den Abschluss des Abkommens zwischen der Union und dem Königreich Marokko zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen ihnen ist durch das Urteil des Gerichts vom 29. September 2021, Front Polisario/Rat (T-279/19, EU:T:2021:639), für nichtig erklärt worden.

37        Mit Urteil vom heutigen Tag in den verbundenen Rechtssachen C-779/21 P und C-799/21 P, Kommission und Rat/Front Polisario, hat der Gerichtshof die gegen das Urteil, mit dem der Beschluss 2019/217 für nichtig erklärt wurde, eingelegten Rechtsmittel zurückgewiesen.

38        Wie sich aus dem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-779/21 P und C-799/21 P ergibt, werden die Wirkungen dieses Beschlusses bis zum 4. Oktober 2025 aufrechterhalten. Daraus folgt, dass die Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Assoziierungsabkommens zwischen der Union und dem Königreich Marokko in der durch das Abkommen, das durch den Beschluss 2019/217 genehmigt wurde, geänderten Fassung bis zu diesem Zeitpunkt weiterhin für die Einfuhren der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Erzeugnisse in die Union gelten.

39        Somit hatte die Ungültigkeit des Beschlusses 2019/217 keine Auswirkungen auf die Einfuhren der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Erzeugnisse und hat es auch derzeit nicht. Daher ist es nach wie vor erforderlich, in Beantwortung der ersten und der vierten Vorlagefrage zu klären, welche Ursprungsangabe diese Erzeugnisse aufweisen müssen und welche Art von Schutzmaßnahmen ein Mitgliedstaat treffen kann, falls sich herausstellt, dass die genannten Erzeugnisse systematisch mit einer falschen Ursprungsangabe versehen wurden.

Zur ersten Frage

40        Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des in Art. 267 AEUV geregelten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 22. Dezember 2022, Ministre de la Transition écologique und Premier ministre [Haftung des Staates für die Luftverschmutzung], C-61/21, EU:C:2022:1015, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41        Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass die Confédération paysanne im Wesentlichen beim Minister für Landwirtschaft und Nahrungsmittelsouveränität und beim Minister für Wirtschaft, Finanzen sowie industrielle Souveränität beantragte, ein Einfuhrverbot für die in Rede stehenden Erzeugnisse aus dem Gebiet der Westsahara zu erlassen, weil diese Erzeugnisse mit falschen Angaben zum Ursprungsland gekennzeichnet seien. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Verordnung Nr. 1169/2011, die Verordnung Nr. 1308/2013, die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 sowie der Zollkodex der Union, einen Mitgliedstaat zum Erlass einer solchen Maßnahme ermächtigen.

42        Wie die Generalanwältin in Nr. 21 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, fällt das Verbot der Einfuhr von Waren in die Union in den Bereich der Handelsbeziehungen zwischen ihr und Drittländern oder internationalen Organisationen, die nach Art. 207 Abs. 1 AEUV den Regeln für die gemeinsame Handelspolitik unterliegen.

43        Aus dieser Bestimmung und insbesondere aus ihrem Satz 2, wonach die gemeinsame Handelspolitik zum „auswärtigen Handeln der Union“ gehört, geht nämlich hervor, dass die gemeinsame Handelspolitik den Handelsverkehr mit Drittländern betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis Deutschland, C-414/11, EU:C:2013:520, Rn. 50, und vom 22. Oktober 2013, Kommission/Rat, C-137/12, EU:C:2013:675, Rn. 56).

44        Da die erste Frage des vorlegenden Gerichts die Einfuhr der in Rede stehenden Erzeugnisse in einen Mitgliedstaat betrifft und nicht die Bedingungen ihres Verkaufs, ist sie anhand der Rechtsakte der Union zur Regelung der gemeinsamen Handelspolitik oder von Bestimmungen über Instrumente der Handelspolitik in anderen Rechtsakten der Union zu prüfen.

45        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 207 AEUV, die Grundverordnung über Schutzmaßnahmen und die Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, einseitig ein Einfuhrverbot für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu erlassen, die durchgängig nicht mit den Rechtsvorschriften der Union über die Angabe des Ursprungslands oder -gebiets im Einklang stehen.

46        Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. e AEUV die Union im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik ausschließlich zuständig ist. Gemäß Art. 207 Abs. 1 AEUV wird diese Politik nach einheitlichen Grundsätzen im Rahmen der Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union gestaltet.

47        Zum anderen kann nach Art. 2 Abs. 1 AEUV, wenn die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine ausschließliche Zuständigkeit übertragen, nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Bereich nur dann gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden oder um Rechtsakte der Union durchzuführen.

48        Folglich ist es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, einseitig ein Verbot der Einfuhr aus einem Drittgebiet oder Drittland für eine Kategorie von Erzeugnissen zu erlassen, deren Einfuhr im Übrigen durch ein von der Union geschlossenes Handelsabkommen zugelassen und geregelt wird, es sei denn, sie werden hierzu durch das Unionsrecht ausdrücklich ermächtigt.

49        Insoweit sieht Art. 1 der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen im Wesentlichen vor, dass mit Ausnahme von Textilwaren und Waren mit Ursprung in bestimmten Drittländern, zu denen weder das Königreich Marokko noch die Westsahara gehört, die Einfuhr von Waren mit Ursprung in Drittländern in die Union frei ist und mithin – unbeschadet etwaiger Schutzmaßnahmen gemäß Kapitel V dieser Verordnung – keinen mengenmäßigen Beschränkungen unterliegt. Aus Art. 15 Abs. 1 der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen ergibt sich, dass die Kommission, wenn den Unionsherstellern eine bedeutende Schädigung droht, auf Antrag eines Mitgliedstaats oder von sich aus Schutzmaßnahmen ergreift.

50        Außerdem wird durch Art. 194 der Verordnung Nr. 1308/2013, der zu ihrem dem Handel mit Drittländern gewidmeten Teil III gehört, eine Schutzregelung geschaffen, die der in Art. 15 der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen vorgesehenen Regelung entspricht, da sie ebenfalls auf Maßnahmen der Kommission in Bezug auf Einfuhren von Erzeugnissen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1308/2013 fallen, in die Union beruht.

51        Infolgedessen gestatten die Vorschriften über Schutzmaßnahmen, die nach den beiden in den Rn. 49 und 50 des vorliegenden Urteils erwähnten Verordnungen getroffen werden können, es einem Mitgliedstaat nicht, einseitig ein Verbot bestimmter Einfuhren zu erlassen.

52        Nach Art. 24 Abs. 2 Buchst. a der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen steht diese Verordnung zwar dem Erlass oder der Anwendung einzelstaatlicher „Verbote, mengenmäßige[r] Beschränkungen oder Überwachungsmaßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen oder Tieren oder des Schutzes von Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen oder kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind“, nicht entgegen. Wie die Generalanwältin in Nr. 40 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ermöglicht diese Bestimmung aus Gründen, die mit den in Art. 36 AEUV in Bezug auf den inneren Aspekt des Binnenmarkts angeführten vergleichbar sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 30. Mai 2002, Expo Casa Manta, C-296/00, EU:C:2002:316, Rn. 34), einen Eingriff in die durch Art. 1 Abs. 2 der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen vorgesehene Freiheit der Einfuhren in die Union.

53        Wie sich schon aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 Buchst. a der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen ergibt, gilt er jedoch unbeschadet anderslautender einschlägiger Vorschriften des Unionsrechts. In einem die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse betreffenden Fall wie dem des Ausgangsverfahrens gehört zu diesen anderslautenden einschlägigen Vorschriften u. a. Art. 194 der Verordnung Nr. 1308/2013, wonach, wie oben in Rn. 50 dargelegt, der Kommission die Zuständigkeit für den Erlass von Maßnahmen zum Schutz vor Einfuhren vorbehalten ist. Art. 24 Abs. 2 Buchst. a der Grundverordnung über Schutzmaßnahmen kann folglich nicht so verstanden werden, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, einseitig Maßnahmen zum Schutz vor der Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu erlassen.

54        Überdies soll das allgemeine Einfuhrverbot für die in Rede stehenden Erzeugnisse, dessen Erlass die Confédération paysanne hier von der Französischen Republik verlangt, nach den Angaben Ersterer die Einhaltung der Bestimmungen des Unionsrechts in Bezug auf die Information der Verbraucher über den Ursprung des zum Verkauf angebotenen Obsts und Gemüses gewährleisten. Bei einer generellen Missachtung der genannten Bestimmungen durch die Exporteure wäre es aber nicht Sache eines Mitgliedstaats, sondern der Kommission, gegebenenfalls im Rahmen der im Assoziierungsabkommen vorgesehenen Kooperationsmechanismen tätig zu werden.

55        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 207 AEUV, die Grundverordnung über Schutzmaßnahmen und die Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, einseitig ein Einfuhrverbot für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu erlassen, die durchgängig nicht mit den Rechtsvorschriften der Union über die Angabe des Ursprungslands oder -gebiets im Einklang stehen.

Zur zweiten und zur dritten Frage

56        Wie dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen ist, stellt das vorlegende Gericht die zweite und die dritte Frage nur für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage bejahen sollte.

57        Wie oben in Rn. 55 dargelegt, ist die erste Frage aber zu verneinen.

58        Infolgedessen ist weder die zweite noch die dritte Frage zu beantworten.

Zur vierten Frage

Zur Zulässigkeit

59        Die französische Regierung und die Kommission sind im Wesentlichen der Auffassung, falls aus der Antwort auf die erste Frage hervorgehen sollte, dass der Erlass einer Maßnahme wie der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens beantragten nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, wäre die Frage, ob bei den in Rede stehenden Erzeugnissen die Unionsregelung über die Angabe des Ursprungs von Lebensmitteln wirklich eingehalten werde, für die Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem das vorlegende Gericht befasst sei, nicht relevant.

60        Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der in Art. 267 AEUV geregelten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C-100/21, EU:C:2023:229, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61        Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Unionsvorschrift offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C-100/21, EU:C:2023:229, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62        Im vorliegenden Fall betrifft die erste Vorlagefrage nur die Einfuhr der in Rede stehenden Erzeugnisse, während die vierte Frage sowohl auf die Stufe der Einfuhr dieser Erzeugnisse als auch auf die Stufe ihres Verkaufs an die Verbraucher abzielt. In ihren schriftlichen Erklärungen spricht die Confédération paysanne im Übrigen wiederholt das Erfordernis an, den Ursprung der in Rede stehenden Erzeugnisse bei ihrer Vermarktung korrekt anzugeben.

63        Daher führt das vorlegende Gericht aus, dass zur Beantwortung des Vorbringens im Ausgangsverfahren geklärt werden müsse, ob sowohl auf der Stufe der Einfuhr der in Rede stehenden Erzeugnisse als auch bei ihrer Vermarktung auf der Verpackung das Gebiet der Westsahara und nicht das Gebiet des Königreichs Marokko als Ursprungsland anzugeben sei.

64        Demnach betrifft die vierte Frage die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts, die in Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehen. In diesem Kontext ist sie als erheblich im Sinne der oben in Rn. 60 angeführten Rechtsprechung einzustufen.

65        Folglich ist die vierte Frage zulässig.

Zur Beantwortung der Vorlagefrage

66        Aus der oben in Rn. 40 angeführten Rechtsprechung geht im Wesentlichen hervor, dass der Gerichtshof, um dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, die ihm vorgelegten Fragen wenn nötig umzuformulieren und gegebenenfalls vom nationalen Gericht in seiner Frage nicht angeführte unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen hat.

67        Im vorliegenden Fall betrifft die vierte Frage des nationalen Gerichts die Auslegung von Art. 9 und Art. 26 der Verordnung Nr. 1169/2011 sowie von Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013, die u. a. Verpflichtungen in Bezug auf die Angabe der Herkunft der betreffenden Lebensmittel vorsehen.

68        Hierzu ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die in Rede stehenden Erzeugnisse Gemüse und Obst sind. Zum einen gilt aber die Verordnung Nr. 1169/2011 nach ihrem Art. 1 Abs. 4 unbeschadet der in speziellen Rechtsvorschriften der Union für bestimmte Lebensmittel enthaltenen Kennzeichnungsvorschriften; dies wird der Sache nach durch ihren Art. 26 Abs. 1 bestätigt. Zum anderen können sich nach Art. 75 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1308/2013 in Verbindung mit ihrem Art. 75 Abs. 3 Buchst. j die Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse auf ihren Ursprungsort beziehen, während nach ihrem Art. 76 für den Endverbraucher bestimmtes frisches Obst und Gemüse nur in Verkehr gebracht werden darf, wenn das Ursprungsland angegeben ist; diese Normen gelten auf allen Stufen der Vermarktung, einschließlich Ein- und Ausfuhr.

69        Daneben sieht Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1234/2007 vor, die durch die Verordnung Nr. 1308/2013 aufgehoben wurde. Nach dem vierten Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung dürfen Erzeugnisse des Sektors Obst und Gemüse, die frisch an den Verbraucher verkauft werden sollen, nur in Verkehr gebracht werden, wenn ihr Ursprungsland angegeben ist. Im Einzelnen unterliegen Charentais-Melonen den allgemeinen Vermarktungsnormen in Anhang I Teil A der Durchführungsverordnung und Kirschtomaten den speziellen Vermarktungsnormen in Teil 10 ihres Anhangs I Teil B; diese beiden Arten von Vermarktungsnormen enthalten überdies Anforderungen an die Herkunftsangabe bei den Erzeugnissen, die sie betreffen. Aus dem Vorstehenden folgt somit, dass die Verordnung Nr. 1308/2013 und die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 spezielle Anforderungen in Bezug auf die Angabe der Herkunft der in Rede stehenden Erzeugnisse vorsehen, so dass die Verordnung Nr. 1169/2011 für die Beantwortung der vierten Frage nicht relevant ist.

70        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 dahin auszulegen ist, dass auf den Stufen der Einfuhr und des Verkaufs an den Verbraucher auf dem Etikett der in Rede stehenden Erzeugnisse nicht das Königreich Marokko als ihr Ursprungsland genannt werden darf, sondern die Westsahara anzugeben ist.

71        Erstens sehen, wie sich aus den Rn. 68 und 69 des vorliegenden Urteils ergibt, die für die in Rede stehenden Erzeugnisse maßgebenden Vermarktungsnormen vor, dass auf allen Stufen der Vermarktung, einschließlich Ein- und Ausfuhr, ihr Ursprungsland angegeben werden muss.

72        Im achten Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011, in dessen Licht die in ihrem Art. 3 Abs. 1 aufgestellten Anforderungen zu verstehen sind, heißt es im Wesentlichen, dass die von den Vermarktungsnormen vorgegebenen Angaben auf der Verpackung und/oder dem Etikett deutlich sichtbar sein sollten, um u. a. zu vermeiden, dass der Verbraucher irregeführt wird.

73        Aus dem Vorstehenden folgt, dass die für Erzeugnisse wie die hier in Rede stehenden vorgeschriebene Angabe des Ursprungslands nicht so gestaltet sein darf, dass der Verbraucher irregeführt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot, C-363/18, EU:C:2019:954, Rn. 25).

74        Zweitens hat der Gerichtshof in Bezug auf die Verordnung Nr. 1308/2013 bereits entschieden, dass der in ihrem Art. 76 verwendete Begriff „Ursprungsland“ ebenfalls unter Heranziehung des Zollkodex der Union zu definieren ist (vgl. Urteil vom 4. September 2019, Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs Frankfurt am Main, C-686/17, EU:C:2019:659, Rn. 46).

75        Gemäß Art. 59 Buchst. c des Zollkodex sind nämlich die in dessen Art. 60 und 61 vorgesehenen Vorschriften zur Bestimmung des nicht präferenziellen Ursprungs von Waren auf sonstige Unionsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Warenursprung wie Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 und Art. 3 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 anwendbar.

76        Folglich ist der sowohl in Nr. 4 von Anhang I Teil A der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 u. a. in Bezug auf Charentais-Melonen als auch in Abschnitt VI von Teil 10 ihres Anhangs I Teil B u. a. in Bezug auf Kirschtomaten verwendete Begriff „Ursprungsland“ unter Heranziehung des Zollkodex der Union zu definieren (vgl. entsprechend Urteil vom 4. September 2019, Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs Frankfurt am Main, C-686/17, EU:C:2019:659, Rn. 50).

77        Nach Art. 60 des Zollkodex der Union gelten als Ursprungswaren eines „Landes“ oder „Gebiets“ die Waren, die entweder in diesem Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt worden sind oder dort der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden.

78        Infolgedessen ist das Ursprungsland der in Rede stehenden Erzeugnisse das Land oder Gebiet, in dem sie geerntet wurden.

79        Zum Begriff „Land“ ist festzustellen, dass er im EU-Vertrag und im AEU-Vertrag häufig als Synonym für den Begriff „Staat“ verwendet wird. Daher ist diesem Begriff, um eine kohärente Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten, im Zollkodex der Union, in der Verordnung Nr. 1308/2013 und in der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 dieselbe Bedeutung beizumessen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot, C-363/18, EU:C:2019:954, Rn. 28).

80        Der Begriff „Staat“ bezeichnet eine souveräne Einheit, die innerhalb ihrer geografischen Grenzen sämtliche ihr nach dem Völkerrecht zustehenden Befugnisse ausübt (Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot, C-363/18, EU:C:2019:954, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81        In Bezug auf den Begriff „Gebiet“ ergibt sich schon aus der Verwendung der Konjunktion „oder“ in Art. 60 des Zollkodex der Union, dass damit andere Einheiten als „Länder“ und folglich auch andere als „Staaten“ gemeint sind (Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot, C-363/18, EU:C:2019:954, Rn. 30).

82        Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, gehören zu solchen Einheiten u. a. geografische Gebiete, auf die sich zwar die Hoheitsgewalt oder die internationale Verantwortung eines Staates erstreckt, die aber einen eigenen völkerrechtlichen Status haben, der sich von dem dieses Staates unterscheidet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C-266/16, EU:C:2018:118, Rn. 62 bis 64, und vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot, C-363/18, EU:C:2019:954, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

83        Aus dem Vorstehenden folgt, dass in Anbetracht von Art. 60 des Zollkodex der Union die Pflicht zur Angabe des Ursprungslands der in Rede stehenden Erzeugnisse, die sich zum einen aus den allgemeinen Vermarktungsnormen in Anhang I Teil A der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 und den speziellen Vermarktungsnormen in Teil 10 ihres Anhangs I Teil B ergibt und zum anderen aus Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1308/2013, nicht nur für Erzeugnisse aus „Ländern“ im Sinne der Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils gilt, sondern auch für Erzeugnisse aus „Gebieten“ im Sinne von Rn. 82.

84        Drittens geht in der vorliegenden Rechtssache aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die in Rede stehenden Erzeugnisse im Gebiet der Westsahara geerntet wurden.

85        Das Gebiet der Westsahara stellt aber ein vom Gebiet des Königreichs Marokko gesondertes Gebiet dar (Urteile vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario, C-104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 92, und vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C-266/16, EU:C:2018:118, Rn. 62).

86        Überdies sieht der für den Bereich der unionsrechtlichen Zollvorschriften geltende Anhang 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2020/1470 der Kommission vom 12. Oktober 2020 über das Verzeichnis der Länder und Gebiete für die europäischen Statistiken über den internationalen Warenverkehr und die geografische Aufgliederung für sonstige Unternehmensstatistiken (ABl. 2020, L 334, S. 2) unterschiedliche Codes und Bezeichnungen für die Westsahara (EH) und für das Königreich Marokko (MA) vor.

87        Unter diesen Umständen ist das Gebiet der Westsahara als ein Zollgebiet im Sinne von Art. 60 des Zollkodex der Union und infolgedessen im Sinne der Verordnung Nr. 1308/2013 und der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 anzusehen. Daher darf auf den in Rede stehenden Erzeugnissen als Ursprungsland nur die Westsahara als solche angegeben werden, da sie in diesem Gebiet geerntet wurden.

88        Jede andere Angabe wäre irreführend im Sinne der oben in Rn. 73 angeführten Rechtsprechung. Sie könnte die Verbraucher nämlich in Bezug auf den tatsächlichen Ursprung der in Rede stehenden Erzeugnisse irreführen, da sie den Eindruck erwecken könnte, dass die Erzeugnisse aus einem anderen Ort als dem Gebiet stammen, in dem sie geerntet wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot, C-363/18, EU:C:2019:954, Rn. 51).

89        Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 dahin auszulegen ist, dass auf den Stufen der Einfuhr und des Verkaufs an den Verbraucher auf dem Etikett der im Gebiet der Westsahara geernteten Charentais-Melonen und Kirschtomaten allein die Westsahara als ihr Ursprungsland anzugeben ist.

Kosten

90        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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