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Wirtschaftsrecht
11.11.2021
Wirtschaftsrecht
EuGH: Verbrauchergerichtsstand nach dem LuGÜ II

EuGH, Urteil vom 30.9.2021 – C-296/20; Commerzbank AG gegen E. O.

ECLI:EU:C:2021:784

Volltext BB-Online BBL2021-2707-1

Tenor

Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des am 30. Oktober 2007 in Lugano unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift die Zuständigkeit für den Fall bestimmt, dass der beruflich oder gewerblich Handelnde und der Verbraucher, die Parteien eines Verbrauchervertrags sind, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben durch das Übereinkommen gebundenen Staat ansässig waren und ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nach dem genannten Vertragsschluss aufgrund dessen entstanden ist, dass der Verbraucher seinen Wohnsitz später in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat verlegt hat.

Lugano-II-Übereinkommen Artt. 15, 16

Aus den Gründen

 

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das am 30. Oktober 2007 unterzeichnet und dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 (ABl. 2009, L 147, S. 1) genehmigt wurde (im Folgenden: „Lugano-II-Übereinkommen“), und insbesondere Art. 15 Abs. 1 Buchst. c sowie Art. 16 Abs. 2 dieses Übereinkommens.

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Commerzbank AG und E. O. wegen der Rückzahlung einer Schuld aus einer Überziehung des Girokontos von E. O.

Rechtlicher Rahmen

 

3          Wie aus der „Unterrichtung über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des am 30. Oktober 2007 in Lugano unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ (ABl. 2011, L 138, S. 1) hervorgeht, ist das Lugano-II-Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft am 1. Januar 2011 in Kraft getreten.

4          Titel II („Zuständigkeit“) des Lugano-II-Übereinkommens enthält in Abschnitt 1 („Allgemeine Vorschriften“) die Art. 2 bis 4.

 

5          Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens bestimmt:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen.“

 

6          Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens lautet:

„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates haben, können vor den Gerichten eines anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Titels verklagt werden.“

 

7          In Art. 5 Nr. 1 des Lugano-II-Übereinkommens, der in dessen Titel II Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) steht, heißt es:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates hat, kann in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat verklagt werden:

1.         a)         wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

b)         im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung

–          für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;

c)         ist Buchstabe b nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a;

…“

 

8          Titel II des Lugano-II-Übereinkommens enthält einen Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“), in dem Art. 15 Abs. 1 bestimmt:

„Bilden ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt,

b)         wenn es sich um ein in Raten zurückzuzahlendes Darlehen oder ein anderes Kreditgeschäft handelt, das zur Finanzierung eines Kaufs derartiger Sachen bestimmt ist, oder

c)         in allen anderen Fällen, wenn der andere Vertragspartner in dem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.“

 

9          Art. 16 Abs. 2 des Übereinkommens lautet:

„Die Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher kann nur vor den Gerichten des durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.“

10        Art. 17 des Übereinkommens bestimmt:

„Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden:

1.         wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird,

2.         wenn sie dem Verbraucher die Befugnis einräumt, andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen, oder

 

3.         wenn sie zwischen einem Verbraucher und seinem Vertragspartner, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat haben, getroffen ist und die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates begründet, es sei denn, dass eine solche Vereinbarung nach dem Recht dieses Staates nicht zulässig ist.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 

11        Die Commerzbank, eine Gesellschaft deutschen Rechts, hat ihren Sitz in Frankfurt am Main (Deutschland).

12        Im Jahr 2009 eröffnete E. O., der damals in Dresden (Deutschland) wohnhaft war, bei einer Filiale der Commerzbank, die ihren Sitz auch in Dresden hatte, ein Girokonto. Diese stellte ihm eine Kreditkarte aus.

 

13        Im Jahr 2014 verlegte E. O. seinen Wohnsitz in die Schweiz.

14        Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts duldete die Commerzbank Überziehungen auf dem Girokonto von E. O.

 

15        Im Januar 2015 wollte E. O. die Geschäftsverbindung mit der Commerzbank beenden. Das Girokonto wies zu diesem Zeitpunkt einen Sollsaldo in Höhe von 6 283,37 Euro auf. E. O. verweigerte den Ausgleich dieses Saldos mit der Begründung, der Saldo beruhe darauf, dass seine Kreditkarte missbräuchlich von Dritten eingesetzt worden sei.

16        Die Commerzbank kündigte, nachdem sie E. O. mehrfach erfolglos aufgefordert hatte, den fraglichen Sollsaldo auszugleichen, im April 2015 mit sofortiger Wirkung das „Kreditverhältnis“ zwischen den Parteien und stellte einen Schuldsaldo in Höhe von 4 856,61 Euro zu ihren Gunsten fällig.

17        Da E. O. diesen Saldo nicht ausglich, erhob die Commerzbank im November 2016 beim Amtsgericht Dresden (Deutschland) gegen ihn eine Zahlungsklage auf Ausgleich dieses Saldos.

 

18        Das Gericht wies diese Klage als unzulässig ab, da es angesichts des Wohnsitzes des Beklagten, der nunmehr in der Schweiz liege, unzuständig sei. Am 14. Juni 2018 bestätigte das Landgericht Dresden (Deutschland) das erstinstanzliche Urteil in der Berufung.

19        Die Commerzbank legte daraufhin beim vorlegenden Gericht Revision ein.

 

20        Nach den Ausführungen des Bundesgerichtshofs (Deutschland) hängt die Entscheidung über die bei ihm anhängige Revision von der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c und Art. 16 Abs. 2 des Lugano-II-Übereinkommens ab.

 

21        Er verweist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, in der dieser Art. 15 Abs. 1 des Lugano-II-Übereinkommens ausgelegt und drei kumulative Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung aufgestellt habe. Erstens müsse ein Vertragspartner die Eigenschaft eines „Verbrauchers“ aufweisen, der in einem Rahmen handele, der nicht seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden könne, zweitens müsse ein Vertrag zwischen diesem Verbraucher und einem beruflich oder gewerblich Handelnden tatsächlich geschlossen worden sein, und drittens müsse dieser Vertrag zu einer der Kategorien von Art. 15 Abs. 1 des Lugano-II-Übereinkommens gehören.

 

22        Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die ersten beiden Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt seien. Was die dritte Voraussetzung angehe, komme, da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag nicht von Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b des Lugano-II-Übereinkommens erfasst werde, nur Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Übereinkommens in Betracht.

23        Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens eine grenzüberschreitende Betätigung des Vertragspartners des Verbrauchers zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses voraussetzt, und weist darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt, d. h. im Jahr 2009, sowohl die beruflich oder gewerblich Handelnde in Form ihrer Filiale als auch der Verbraucher in Dresden ansässig gewesen seien.

 

24        Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.         Ist Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens dahin auszulegen, dass das „Ausüben“ einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit in dem durch das Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, schon bei Vertragsanbahnung und Vertragsschluss eine grenzüberschreitende Betätigung des Vertragspartners des Verbrauchers voraussetzt, oder ist die Vorschrift auch dann anzuwenden, um das zuständige Gericht für eine Klage zu bestimmen, wenn die Vertragsparteien bei Vertragsschluss ihren Wohnsitz im Sinne von Art. 59 und 60 des Lugano-II-Übereinkommens in demselben durch das Übereinkommen gebundenen Staat hatten und ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nachträglich dadurch entstanden ist, dass der Verbraucher später in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat umgezogen ist?

2.         Sofern eine grenzüberschreitende Betätigung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht notwendig ist:

Schließt Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 des Lugano-II-Übereinkommens die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 5 Nr. 1 des Lugano-II-Übereinkommens generell aus, wenn der Verbraucher zwischen Vertragsschluss und Klageerhebung in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat gezogen ist, oder ist zusätzlich erforderlich, dass der Vertragspartner des Verbrauchers seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit auch in dem neuen Wohnsitzstaat ausübt oder sie darauf ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt?

Verfahren vor dem Gerichtshof

 

25        Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Juli 2020 ist das Verfahren vor dem Gerichtshof bis zur Verkündung des Beschlusses in der Rechtssache C-98/20, mBank (Beschluss vom 3. September 2020, mBank C-98/20, EU:C:2020:672), ausgesetzt worden.

26        Das vorliegende Verfahren wurde am 7. September 2020 fortgesetzt.

27        Nach der Verkündung des genannten Beschlusses wurde das vorlegende Gericht von der Kanzlei gefragt, ob es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.

28        Mit Schreiben vom 6. Oktober 2020 hat der Bundesgerichtshof geantwortet, dass er die zweite Frage zu Art. 16 Abs. 2 des Lugano-II-Übereinkommens zurücknehme, die erste Frage seines Vorabentscheidungsersuchens zur Auslegung von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Übereinkommens hingegen aufrechterhalte.

29        Infolgedessen wurde das Vorabentscheidungsersuchen zusammen mit der Antwort des vorlegenden Gerichts zugestellt.

Zur Vorlagefrage

 

30        Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass nur dann, wenn die Bestimmungen von Titel II Abschnitt 4 des Lugano-II-Übereinkommens ausgeschlossen wären, die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte auf der Grundlage von Art. 5 Nr. 1 des Übereinkommens bejaht werden könnte.

31        Einleitend ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Lugano-II-Übereinkommen, wie der Gerichtshof im Urteil vom 20. Dezember 2017, Schlömp (C-467/16, EU:C:2017:993, Rn. 37), klargestellt hat, zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist.

32        Somit ist, obgleich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurde, in Anbetracht dessen, dass seine Kündigung sowie die anschließende Klage aber erst nach dem genannten Zeitpunkt erfolgten, die Anwendbarkeit dieses Übereinkommens nicht in Frage zu stellen.

 

33        Zweitens bleibt nach ständiger Rechtsprechung für diejenigen Bestimmungen des Lugano-II-Übereinkommens, die im Wesentlichen mit den Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1), mit den Bestimmungen von dessen Vorläufer, der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), und mit den Bestimmungen des noch älteren Brüsseler Übereinkommens von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) übereinstimmen, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung dieser Bestimmungen des Unionsrechts relevant (Beschluss vom 15. Mai 2019, MC, C-827/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:416, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34        Drittens enthält Titel II Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“) des Lugano-II-Übereinkommens u. a. die Art. 15 und 16.

35        Art. 15 des Lugano-II-Übereinkommens legt die drei in Rn. 21 des vorliegenden Urteils angeführten Voraussetzungen fest, die für die Anwendbarkeit dieses Abschnitts 4 erfüllt sein müssen. Diese Voraussetzungen müssen nach der Rechtsprechung kumulativ erfüllt sein, so dass, wenn es an einer von ihnen fehlt, die Zuständigkeit nicht nach den Regeln über die Zuständigkeit bei Verbrauchersachen bestimmt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C-215/18, EU:C:2020:235 [RIW 2020, 359], Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36        Was Art. 16 des Lugano-II-Übereinkommens angeht, hat der Gerichtshof kürzlich in Bezug auf Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012, dessen Wortlaut im Wesentlichen mit demjenigen des genannten Art. 16 übereinstimmt, festgestellt, dass der Begriff „Wohnsitz des Verbrauchers“ dahin auszulegen ist, dass er den Wohnsitz des Verbrauchers zum Zeitpunkt der Klageerhebung bezeichnet (Beschluss vom 3. September 2020, mBank, C-98/20, EU:C:2020:672, Rn. 36).

 

37        Viertens ist zu bedenken, dass eine Regelung wie die in Art. 16 Abs. 2 des Lugano-II-Übereinkommens, was die besonderen Zuständigkeitsregeln bei Verbrauchersachen betrifft und wenn die Klage wie im vorliegenden Fall von dem beruflich oder gewerblich Handelnden gegen den Verbraucher erhoben wird, als „Regel der ausschließlichen Zuständigkeit“ eingeordnet wird, wonach die Klage nur vor den Gerichten des Staats erhoben werden kann, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat (vgl. entsprechend Beschluss vom 3. September 2020, mBank, C-98/20, EU:C:2020:672, Rn. 26).

 

38        Die Vorlagefrage ist im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.

39        Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass er die Zuständigkeit für den Fall bestimmt, dass der beruflich oder gewerblich Handelnde und der Verbraucher, die Parteien des Vertrags sind, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben durch das Übereinkommen gebundenen Staat ansässig waren und ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nach diesem Zeitpunkt aufgrund dessen entstanden ist, dass der Verbraucher seinen Wohnsitz in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat verlegt hat, oder ob in einem solchen Fall nach dieser Vorschrift eine grenzüberschreitende Tätigkeit des beruflich oder gewerblich Handelnden schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorgelegen haben muss.

40        Nach ständiger Rechtsprechung ist nach den vom Gerichtshof angewandten Auslegungsmethoden nicht nur auf den Wortlaut der fraglichen Bestimmung abzustellen, sondern sind auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. [Windkraftanlagen in Aalter und Nevele], C-24/19, EU:C:2020:503 [ZNER 2021, 363], Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

41        Erstens übt der Vertragspartner des Verbrauchers nach dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens „in dem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit [aus] oder [richtet] eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, [aus,] und der Vertrag [fällt] in den Bereich dieser Tätigkeit.“

42        Wie die Europäische Kommission geltend macht, geht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung weder ausdrücklich noch implizit hervor, dass die berufliche oder gewerbliche Tätigkeit zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses notwendigerweise auf einen anderen Staat als den Staat, in dem der beruflich oder gewerblich Handelnde seinen Sitz hat, ausgerichtet sein muss. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Staat, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, um einen anderen Staat handeln muss als um denjenigen, in dem der beruflich oder gewerblich handelnde Vertragspartner seinen Sitz hat.

43        Mithin besteht die einzige ausdrückliche Voraussetzung darin, dass der beruflich oder gewerblich handelnde Vertragspartner seine Tätigkeit im Wohnsitzstaat des Verbrauchers ausübt.

44        Diese Auffassung lässt sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Regelwerken stützen, die dem Lugano-II-Übereinkommen gleichwertig sind. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die einheitlichen Zuständigkeitsvorschriften ungeachtet dessen anwendbar waren, dass der Verbraucher und der beruflich oder gewerblich Handelnde zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben Staat ansässig waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2011, Hypoteční banka, C-327/10, EU:C:2011:745 [RIW 2012, 158], Rn. 22, 29, 30 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

45        Im Urteil vom 14. November 2013, Maletic (C-478/12, EU:C:2013:735 [RIW 2014, 148], Rn. 26), hat der Gerichtshof zum wiederholten Mal seine ständige Rechtsprechung zugrunde gelegt, wonach die Anwendung der Zuständigkeitsregeln einen Auslandsbezug verlangt und sich der Auslandsbezug des fraglichen Rechtsverhältnisses nicht unbedingt daraus ergeben muss, dass durch den Grund der Streitigkeit oder den jeweiligen Wohnsitz der Parteien mehrere Vertragsstaaten mit einbezogen sind.

 

46        Unter den Umständen, die der Verkündung des Beschlusses vom 3. September 2020, mBank (C-98/20, EU:C:2020:672), zugrunde lagen, verfügte die Bank, die ihren Sitz im ersten Staat hatte, zwar über eine Zweigniederlassung im zweiten Staat, in dem der Verbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses auch seinen Wohnsitz hatte. Doch es steht fest, dass die Bank in dieser Rechtssache in dem dritten Staat, in dem der Verbraucher nunmehr seinen Wohnsitz hatte, weder eine berufliche noch eine gewerbliche Tätigkeit ausübte, ohne dass dieser Umstand der Anwendung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1215/2012 entgegenstand, dessen Bestimmungen mit denen von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens nahezu identisch sind.

 

47        Die vorstehenden Erwägungen stehen zu den Gründen des Urteils vom 7. Dezember 2010, Pammer und Hotel Alpenhof (C-585/08 und C-144/09 [RIW 2011, 241 m. RIW-Komm. Berg], EU:C:2010:740), nicht im Widerspruch. Denn die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, betraf die Auslegung der Wendung „ausrichten auf“ in einem Fall, in dem die Tätigkeit des beruflich oder gewerblich Handelnden auf einer Website präsentiert wurde, und die Frage, ob die bloße „Zugänglichkeit“ der Website hinreichend sei. Aus diesem Urteil lässt sich daher nicht ableiten, dass grundsätzlich im Rahmen von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens die Ausübung einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses notwendigerweise einen anderen Vertragsstaat betreffen muss und dass die Anwendung dieses Artikels mithin ausgeschlossen wäre, sofern der Verbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben Staat ansässig ist wie der beruflich oder gewerblich handelnde Vertragspartner.

 

48        Zweitens stützt sich das vorlegende Gericht im Weg einer systematischen Auslegung auf eine vergleichende Betrachtung der Buchst. a bis c in Art. 15 Abs. 1 des Lugano-II-Übereinkommens, um nahezulegen, dass nach Buchst. c dieser Bestimmung beim Abschluss des Vertrags ein Auslandsbezug erforderlich sei.

49        Wie insoweit auch die Kommission vorgetragen hat, ist in keinem der drei in Art. 15 Abs. 1 des Lugano-II-Übereinkommens genannten Fälle davon die Rede, dass die ausgeübte Tätigkeit zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses einen Auslandsbezug aufweisen müsste.

 

50        Hinsichtlich der systematischen Auslegung von Art. 15 des Übereinkommens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 17 Nr. 3 des Übereinkommens eine Gerichtsstandsvereinbarung erfolgen kann, „wenn sie zwischen einem Verbraucher und seinem Vertragspartner, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat haben, getroffen ist und die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates begründet, es sei denn, dass eine solche Vereinbarung nach dem Recht dieses Staates nicht zulässig ist.“

51        Daher steht, wie der Generalanwalt in den Nrn. 76 und 77 seiner Schlussanträge ausführt, der Umstand, dass die Parteien zum Zeitpunkt des Abschlusses des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags in demselben Staat ansässig waren, der Anwendung der Bestimmungen von Titel II Abschnitt 4 des Lugano-II-Übereinkommens, wie etwa von dessen Art. 17 Abs. 3, nicht entgegen.

52        Daraus folgt, dass es nach einer systematischen Auslegung der Bestimmungen von Titel II Abschnitt 4 des Lugano-II-Übereinkommens nicht erforderlich ist, dass der beruflich oder gewerblich Handelnde bereits beim Abschluss des Vertrags eine grenzüberschreitende Tätigkeit ausübt.

 

53        Drittens ist in Bezug auf das mit dem Lugano-II-Übereinkommen verfolgte Ziel und in Beantwortung des zweiten Einwands der Commerzbank zur Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln und zu der Gefahr, dass der Verbraucher den Schutzgerichtsstand „mitnehmen“ könnte, zu bedenken, dass mit den Regelungen dieses Übereinkommens nicht bezweckt wird, die Systematik des Vertrags zu regeln, sondern einheitliche Regelungen für die internationale gerichtliche Zuständigkeit zu schaffen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Februar 2021, Markt24, C-804/19, EU:C:2021:134, Rn. 30 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), und dass diese Zuständigkeitsregeln nicht vor Einleitung des Verfahrens bestimmt werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. September 2020, mBank, C-98/20, EU:C:2020:672, Rn. 36).

54        Entgegen dem Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens ist nämlich festzustellen, dass die Regel, wonach die Gerichte am Wohnsitz des Verbrauchers ungeachtet eines etwaigen Wohnsitzwechsels zuständig sind, nicht nur das Ergebnis des normativen Integrationsprozesses ist, zu dessen Ausprägungen die Regelungen des Lugano-II-Übereinkommens gehören, sondern auch der üblichen Zuständigkeit entspricht, die sich nach dem Wohnsitz des Beklagten richtet und in Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens niedergelegt ist.

55        Viertens und letztens stützt sich das vorlegende Gericht auf den Bericht von Herrn Schlosser zu dem Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zum Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie zum Protokoll betreffend die Auslegung dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof (ABl. 1979, C 59, S. 71, Rn. 161) und vertritt die Auffassung, dass dann, wenn der Verbraucher seinen Wohnsitz nach Vertragsschluss in einen anderen Staat verlege, Titel II Abschnitt 4 („Zuständigkeit für Verbrauchersachen“) des in Lugano am 16. September 1988 geschlossenen Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1988, L 319, S. 9), des sogenannten „Lugano-Übereinkommens“, auf die in Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 des Lugano-Übereinkommens (dessen Bestimmungen in Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens übernommen worden sind) genannten Fälle nur anwendbar sei, wenn die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen im neuen Wohnsitzstaat erfüllt seien.

 

56        Hierzu ist festzustellen, dass nach Rn. 161 des genannten Berichts diese Regel nicht absolut gilt, sondern Ausnahmen von ihr möglich sind. Unter anderem wird in der genannten Randnummer der Zweck dieser Regelung erläutert, der sich auf die Schwierigkeiten bezieht, die mit grenzüberschreitender Werbung für den Vertragsschluss einhergehen.

57        Insoweit ist festzustellen, dass sich die Bedingungen im Zusammenhang mit Kommunikationstechnologien seit der Veröffentlichung des Berichts erheblich verändert haben.

58        Jedenfalls vermag der Inhalt eines solchen Berichts zwar die Analyse der Bestimmungen, die der Gerichtshof auszulegen hat, zu stützen oder zu bestätigen, er ist indessen nicht geeignet, den in ihnen enthaltenen Wortlaut zu verwerfen.

59        Wie jedoch aus den Rn. 43 bis 54 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens und einer systematischen Auslegung dieser Bestimmung als auch aus dem Zweck des Übereinkommens, dass die Anwendbarkeit dieser Bestimmung nur von der ausdrücklichen Voraussetzung abhängt, dass der beruflich oder gewerblich handelnde Vertragspartner seine Tätigkeit zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Wohnsitzstaat des Verbrauchers ausübt, ohne dass die spätere Verlegung des Wohnsitzes des Verbrauchers in einen anderen Vertragsstaat die Anwendbarkeit dieser Bestimmung verhindern könnte.

 

60        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano-II-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift die Zuständigkeit für den Fall bestimmt, dass der beruflich oder gewerblich Handelnde und der Verbraucher, die Parteien eines Verbrauchervertrags sind, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben durch das Übereinkommen gebundenen Staat ansässig waren und ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nach dem genannten Vertragsschluss aufgrund dessen entstanden ist, dass der Verbraucher seinen Wohnsitz später in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat verlegt hat.

 

Kosten

61        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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