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Wirtschaftsrecht
21.06.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Verbraucherdarlehensvertrag – Zur Aussetzung der Monatsraten bei missbräuchlichen Klauseln

EuGH, Urteil vom 15.6.2023 – C-287/22, YQ, RJ gegen Getin Noble Bank S.A.

ECLI:EU:C:2023:491

Volltext: BB-Online BBL2023-1473-2

unter www.betriebs-berater.de

 

Tenor

Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sind im Licht des Effektivitätsgrundsatzes dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehen, nach der das nationale Gericht einen Antrag eines Verbrauchers auf Erlass vorläufiger Maßnahmen zurückweisen kann, der darauf gerichtet ist, dass bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Nichtigerklärung des von diesem Verbraucher geschlossenen Darlehensvertrags wegen darin enthaltener missbräuchlicher Klauseln die Zahlung der nach diesem Vertrag geschuldeten Monatsraten ausgesetzt wird, wenn der Erlass dieser vorläufigen Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit dieser Entscheidung sicherzustellen.

 

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit.

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen YQ und RJ auf der einen und der Getin Noble Bank S.A. auf der anderen Seite über einen Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen, mit denen die Aussetzung der Durchführung eines an eine Fremdwährung gebundenen Hypothekendarlehensvertrags bis zur endgültigen Entscheidung über die Rückzahlung der in Anwendung von missbräuchlichen Klauseln in diesem Vertrag rechtsgrundlos gezahlten Beträge angeordnet wird.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

 

4            Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

 

Polnisches Recht

Zivilgesetzbuch

5          Die Ustawa – Kodeks cywilny (Gesetz über das Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964 (Dz. U. Nr. 16, Position 93) in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2020, Position 1740) (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) bestimmt in Art. 3851:

„§ 1.     Die Bestimmungen eines mit einem Verbraucher geschlossenen Vertrags, die nicht individuell vereinbart worden sind, sind für ihn unverbindlich, wenn sie seine Rechte und Pflichten in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise gestalten und seine Interessen grob verletzen (unzulässige Vertragsbestimmungen). Dies gilt nicht für Bestimmungen, die die Hauptleistungen der Parteien, darunter den Preis oder die Vergütung, festlegen, wenn sie eindeutig formuliert worden sind.

§ 2.      Ist eine Vertragsbestimmung nach § 1 für den Verbraucher unverbindlich, so sind die Parteien an den Vertrag in seinem übrigen Umfang gebunden.

§ 3.      Als nicht individuell vereinbart gelten diejenigen Vertragsbestimmungen, auf deren Inhalt der Verbraucher keinen wirklichen Einfluss gehabt hat. Dies gilt insbesondere für Vertragsbestimmungen, die einem Vertragsmuster entstammen, das der Vertragspartner dem Verbraucher vorgeschlagen hat.

§ 4.      Die Beweislast dafür, dass eine Bestimmung individuell vereinbart worden ist, trägt derjenige, der sich darauf beruft.“

 

6          Art. 405 des Zivilgesetzbuchs lautet:

„Wer einen Vermögensvorteil auf Kosten einer anderen Person ohne rechtlichen Grund erlangt hat, ist verpflichtet, den Vorteil in Natur herauszugeben und, falls dies unmöglich ist, seinen Wert zu erstatten.“

 

7          Art. 410 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:

„§ 1.     Die Vorschriften der vorstehenden Artikel werden insbesondere auf eine nicht geschuldete Leistung angewandt.

§ 2. Eine Leistung ist nicht geschuldet, wenn derjenige, der sie erbracht hat, nicht oder nicht gegenüber der Person, an die er geleistet hat, leistungsverpflichtet war oder wenn die Grundlage der Leistung entfallen ist oder der beabsichtigte Zweck der Leistung nicht erreicht worden ist oder wenn das zur Leistung verpflichtende Rechtsgeschäft unwirksam war und nicht nach der Erbringung der Leistung wirksam geworden ist.“

 

Zivilprozessordnung

8          Die Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 (Dz. U. Nr. 43, Position 296) in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2021, Position 1805) (im Folgenden: Zivilprozessordnung) bestimmt in Art. 189:

„Ein Kläger kann die gerichtliche Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder Rechts begehren, sofern er insoweit ein Rechtsschutzinteresse hat.“

 

9          Art. 7301 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„§ 1.     Die Gewährung einer Sicherungsmaßnahme kann von jeder Partei oder jedem Verfahrensbeteiligten beantragt werden, wenn sie bzw. er den Anspruch und das Rechtsschutzinteresse an der Gewährung einer Sicherungsmaßnahme glaubhaft macht.

§ 2.      Ein Rechtsschutzinteresse an der Gewährung einer Sicherungsmaßnahme besteht, wenn die Nichtgewährung der Sicherungsmaßnahme die Vollstreckung der in der Sache ergehenden Entscheidung unmöglich macht oder ernsthaft erschwert oder die Erreichung des Zwecks des Verfahrens in der Sache auf andere Weise unmöglich macht oder ernsthaft erschwert.

§ 3.      Bei der Wahl der Sicherungsmaßnahme berücksichtigt das Gericht die Interessen der Parteien oder der Verfahrensbeteiligten in einer Weise, die dem Berechtigten den gebotenen Rechtsschutz gewährleistet und den Verpflichteten nicht über das erforderliche Maß hinaus belastet.“

 

10        Nach Art. 731 der Zivilprozessordnung kann, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, eine Sicherungsmaßnahme nicht auf die Befriedigung einer Forderung gerichtet sein.

 

11        Art. 755 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„§ 1.     Bezieht sich die Sicherungsmaßnahme nicht auf eine Geldforderung, so ordnet das Gericht die Sicherungsmaßnahme in der Form an, die es den Umständen nach für angemessen hält, ohne die für die Sicherung von Geldforderungen vorgesehenen Maßnahmen auszuschließen. Das Gericht kann insbesondere:

1)         die Rechte und Pflichten der Parteien oder der Verfahrensbeteiligten für die Dauer des Verfahrens regeln;

2)         ein Verbot der Übertragung von Gegenständen oder Rechten, die das Verfahren betrifft, vorsehen;

3)         das Vollstreckungsverfahren oder ein anderes Verfahren zur Durchführung der Entscheidung aussetzen;

4)         ...

5)         die Eintragung einer entsprechenden Vormerkung in das Grundbuch oder das einschlägige Register anordnen;

§ 2.      …

§ 21.    Art. 731 findet keine Anwendung, wenn die Sicherungsmaßnahme erforderlich ist, um einen drohenden Schaden oder andere nachteilige Folgen für den Berechtigten abzuwenden.

§ 3.      Der in nichtöffentlicher Sitzung erlassene Beschluss, in dem dem Verpflichteten aufgegeben wird, eine Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen oder die Handlungen des Berechtigten nicht zu beeinträchtigen, wird dem Verpflichteten vom Gericht zugestellt. Dies gilt nicht für Beschlüsse, in denen die Aushändigung von Gegenständen, die sich im Besitz des Verpflichteten befinden, angeordnet wird.“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

12        Im Jahr 2008 schlossen YQ und RJ mit der Getin Noble Bank einen Hypothekendarlehensvertrag mit einer Laufzeit von 360 Monaten über einen Betrag von 643 395,63 polnischen Zloty (PLN) (etwa 140 000 Euro) (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehender Darlehensvertrag). Dieser Darlehensvertrag sah eine Klausel über die Umrechnung dieses Betrags in Schweizer Franken (CHF) zu dem von der Bank festgelegten Ankaufskurs und einen variablen Zinssatz vor. Die in CHF berechneten Monatsraten waren in PLN zum ebenfalls einseitig von der Bank festgelegten CHF-Verkaufskurs zurückzuzahlen. Die Kläger des Ausgangsverfahrens wurden in Form einer vergleichenden Tabelle über die Auswirkungen der Schwankungen der Zinssätze und der Wechselkurse auf diesen Darlehensvertrag informiert.

 

13        Am 25. Mai 2021 erhoben diese Kläger beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) als erstinstanzlichem Gericht Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Darlehensvertrags und auf Verurteilung der Getin Noble Bank zur Zahlung eines Betrags von 375 042,34 PLN (etwa 94 000 Euro), d. h. des Betrags der Monatsraten, die sie zum Zeitpunkt der Erhebung ihrer Klage bei diesem Gericht bereits gezahlt hatten, zuzüglich gesetzlicher Verzugszinsen und Kosten. Sie machten insoweit geltend, dass die Klauseln dieses Darlehensvertrags über die Bindung des Betrags des betreffenden Darlehens an eine Fremdwährung „missbräuchliche Klauseln“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 darstellten.

 

14        Die Kläger des Ausgangsverfahrens stellten außerdem einen Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen, um die Rechte und Pflichten der Verfahrensparteien dahin festzulegen, dass für die Dauer des Verfahrens zunächst die Verpflichtung zur Zahlung der in diesem Darlehensvertrag vorgesehenen Monatsraten – in der Höhe und zu den Daten gemäß den Festlegungen in diesem Vertrag – für die Zeit von der Klageerhebung bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens ausgesetzt wird, dass es sodann der Getin Noble Bank untersagt wird, eine Erklärung über die Kündigung des Vertrags abzugeben, und dass es dieser Bank schließlich untersagt wird, bis zum Abschluss des Verfahrens dem Biuro Informacji Gospodarczej (Wirtschaftsinformationsbüro, Polen) Informationen über die unterbliebene Rückzahlung des betreffenden Darlehens durch die Kläger des Ausgangsverfahrens in der Zeit von der Gewährung der beantragten vorläufigen Maßnahmen bis zum Abschluss des Verfahrens zu übermitteln.

 

15        Das Gericht wies jedoch den Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens auf Erlass vorläufiger Maßnahmen zurück. Die Kläger hätten kein Rechtsschutzinteresse an einem Antrag auf vorläufige Maßnahmen dargetan, da es keinen Anhaltspunkt dafür gebe, dass die Nichtgewährung solcher Maßnahmen die Vollstreckung der in der Sache ergehenden Entscheidung oder die Erreichung des Zwecks des Verfahrens in der Sache unmöglich mache oder ernsthaft erschwere. Daher seien die in Art. 7301 §§ 1 und 2 der Zivilprozessordnung vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt gewesen.

 

16        Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten gegen die Entscheidung des Gerichts beim Sąd Okręgowy w Warszawie XXVIII Wydział Cywilny (Regionalgericht Warschau, XXVIII. Zivilabteilung, Polen), dem vorlegenden Gericht, Beschwerde ein und machten geltend, sie hätten ein Rechtsschutzinteresse am Erlass dieser vorläufigen Maßnahmen. Die Getin Noble Bank trat diesem Antrag entgegen und machte u. a. geltend, dass das Bestehen der Forderung der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht glaubhaft gemacht worden sei. Außerdem bezweifelte die Bank die Missbräuchlichkeit der Klauseln des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Darlehensvertrags und betonte, dass ihre finanzielle Situation gut sei.

 

17        Das vorlegende Gericht führt aus, dass bei ihm beantragt worden sei, vorläufige Maßnahmen dahin zu erlassen, dass die Verpflichtung zur Zahlung der in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Darlehensvertrag vorgesehenen Monatsraten für den Zeitraum von der Klageerhebung bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens ausgesetzt werde. In Bezug auf den Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen führt das vorlegende Gericht aus, dass es auf der Grundlage einer Glaubhaftmachung des Vorbringens der Parteien des Ausgangsverfahrens entscheide.

 

18        Insoweit ist das vorlegende Gericht zum einen hinsichtlich der Glaubhaftmachung des Anspruchs der Kläger des Ausgangsverfahrens der Ansicht, dass dargetan sei, dass einige der betreffenden Vertragsklauseln missbräuchlich seien und dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Darlehensvertrag für nichtig zu erklären sei, da seine Durchführung nach polnischem Recht objektiv nicht mehr möglich sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach Art. 410 des Zivilgesetzbuchs jede Partei eines nichtigen Vertrags einen Anspruch auf Erstattung der erbrachten Leistung habe, der von einem Anspruch der anderen Partei unabhängig sei.

 

19        Was zum anderen den Nachweis des Rechtsschutzinteresses der Kläger des Ausgangsverfahrens betrifft, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass ein solches Interesse nach Art. 7301 § 2 der Zivilprozessordnung gegeben sei, wenn die Nichtgewährung vorläufiger Maßnahmen die Vollstreckung der in der Sache ergehenden Entscheidung oder die Erreichung des Zwecks des Verfahrens in der Sache unmöglich machen oder ernsthaft erschweren würde.

 

20        Das vorlegende Gericht führt aus, dass die nationalen Gerichte unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens Anträgen von Verbrauchern auf Erlass solcher vorläufigen Maßnahmen jedoch selten stattgäben. Einige dieser Gerichte wiesen nämlich darauf hin, dass eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Vertrags wegen Missbräuchlichkeit einer darin enthaltenen Vertragsklausel nicht zu einer Zwangsvollstreckung führen könne und daher keine vorläufigen Maßnahmen erfordere. Andere Gerichte seien der Ansicht, dass der Erlass einer vorläufigen Maßnahme nicht zur Befriedigung einer Forderung, sondern zur Vermeidung eines Schadens oder anderer negativer Folgen für den betreffenden Verbraucher bestimmt sein müsse, so dass der Erlass einer solchen Maßnahme nur möglich sei, wenn glaubhaft gemacht werde, dass sich die betreffende Bank in einer schlechten finanziellen Lage befinde. Schließlich gebe es eine Rechtsprechung derselben Gerichte, wonach der betreffende Verbraucher im Fall der Nichtigerklärung eines Darlehensvertrags seine Verpflichtungen gegenüber der Bank dadurch zu erfüllen habe, dass er ihr das aufgenommene Kapital zurückzahle. Daher habe dieser Verbraucher kein Interesse daran, den Erlass vorläufiger Maßnahmen wie der im Ausgangsverfahren begehrten zu beantragen, da er auf jeden Fall, unabhängig davon, welche endgültige Entscheidung in der Sache ergehe, verpflichtet sei, Zahlungen an die Bank zu leisten, und zwar zur Rückzahlung des genutzten Kapitals oder auch als „Vergütung für die Nutzung dieses Kapitals“.

 

21        Das vorlegende Gericht ist u. a. der Ansicht, dass die Richtlinie 93/13, da sie den betreffenden Verbraucher durch eine Wiederherstellung der Gleichheit zwischen den Parteien schützen solle, einer Ablehnung des Erlasses solcher vorläufigen Maßnahmen entgegenstehe. Wenn die Streichung missbräuchlicher Vertragsklauseln die vollständige Nichtigkeit eines Darlehensvertrags zur Folge habe, sei der Erlass geeigneter vorläufiger Maßnahmen, wie die Aussetzung der Verpflichtung zur Zahlung der nach diesem Darlehensvertrag geschuldeten monatlichen Kapital- und Zinsraten für die Dauer des Verfahrens, grundsätzlich erforderlich, um die volle Wirksamkeit der in der Sache zu erlassenden Entscheidung sicherzustellen. Wenn der Darlehensvertrag infolge der Streichung missbräuchlicher Vertragsklauseln objektiv nicht mehr durchgeführt werden könne, würde die Nichtgewährung solcher vorläufigen Maßnahmen die durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vorgegebene Restitutionswirkung und damit die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigen.

 

22        Hierzu führt das vorlegende Gericht u. a. aus, dass das polnische Recht Verfahrensmodalitäten vorsehe, nach denen die Höhe des Klagebegehrens zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Nichtigerklärung des betreffenden Darlehensvertrags festgesetzt werde. Ein Verbraucher könne daher nur die Rückzahlung der bis zu diesem Zeitpunkt bereits gezahlten Monatsraten verlangen. Folglich wäre der Verbraucher, wenn zu Beginn des Verfahrens keine vorläufige Maßnahme erlassen würde, gezwungen, am Ende des Verfahrens ein neues Verfahren gegen die betreffende Bank einzuleiten, das die Rückzahlung der von ihm in der Zeit zwischen dem Beginn und dem Ende dieses neuen Verfahrens gezahlten Monatsraten zum Gegenstand hätte. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts benachteiligt eine solche Situation den betreffenden Verbraucher und beeinträchtigt die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 93/13. Außerdem lasse sich das Gleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien durch den Erlass einer solchen Entscheidung in der Sache nicht wiederherstellen, da allein der Verbraucher gezwungen sei, ein anderes Gerichtsverfahren anzustrengen, um seine Rechte geltend zu machen, und damit noch mehr Geld und Zeit aufwenden müsse.

 

23        Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie XXVIII Wydział Cywilny (Regionalgericht Warschau, XXVIII. Zivilabteilung) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit einer Auslegung nationaler Rechtsvorschriften oder einer nationalen Rechtsprechung entgegen, wonach ein nationales Gericht – insbesondere im Hinblick auf die Zahlungspflichten eines Verbrauchers gegenüber einem Unternehmer oder die gute finanzielle Lage des Unternehmers – den Antrag eines Verbrauchers auf Anordnung einer vorläufigen Maßnahme (Sicherung des Klagegegenstands), mit der die Erfüllung eines Vertrags, der infolge der Streichung missbräuchlicher Klauseln wahrscheinlich als nichtig angesehen wird, für die Dauer des Verfahrens ausgesetzt wird, unberücksichtigt lassen kann?

 

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

24        Die Getin Noble Bank hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig.

 

25        Die Beklagte des Ausgangsverfahrens macht insoweit im Wesentlichen erstens geltend, dass dieses Ersuchen nicht die Auslegung des Unionsrechts betreffe, da die Bestimmungen der Richtlinie 93/13 auf die Wirkungen der Streichung missbräuchlicher Klauseln nicht anwendbar seien, da das Ziel dieser Richtlinie erreicht sei, wenn das Gleichgewicht zwischen den Parteien wiederhergestellt werde. Die Wirkungen der Nichtigerklärung eines Vertrags, der missbräuchliche Klauseln enthalte, unterlägen daher dem nationalen Recht. Demzufolge betreffe die Frage des vorlegenden Gerichts in Wirklichkeit die Voraussetzungen für die Anwendung vorläufiger Maßnahmen in Fällen, in denen die Parteien des betreffenden Vertrags wegen dessen Nichtigerklärung gleichgestellt worden seien und nicht mehr in einem Verhältnis zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden stünden. Daher seien die Bestimmungen dieser Richtlinie bei der Beurteilung der Begründetheit des Antrags auf Erlass dieser vorläufigen Maßnahmen nicht anzuwenden.

 

26        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es allein Sache des mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung und die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen, für die eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof ist folglich grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betrifft, es sei denn, dass die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, dass das Problem hypothetischer Natur ist oder dass der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der Frage erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Zagrebačka banka, C‑567/20, EU:C:2022:352, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

27        Außerdem betrifft nach ständiger Rechtsprechung, wenn nicht offensichtlich ist, dass die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, der Einwand der Unanwendbarkeit dieser Bestimmung auf das Ausgangsverfahren nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern den Inhalt der Fragen (Urteile vom 4. Juli 2019, Kirschstein, C‑393/17, EU:C:2019:563, Rn. 28, und vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

28        Im vorliegenden Fall betrifft zum einen der Ausgangsrechtsstreit einen Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen, der u. a. darauf gerichtet ist, die Durchführung eines von einem Gewerbetreibenden mit Verbrauchern geschlossenen Hypothekendarlehensvertrags auszusetzen, bis eine endgültige Entscheidung über die Nichtigerklärung dieses Vertrags wegen Missbräuchlichkeit einer der darin enthaltenen Klauseln ergangen ist. Zum anderen betrifft die Vorlagefrage die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 93/13, die die Mitgliedstaaten u. a. verpflichten, dafür zu sorgen, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird, und mit ihr soll geklärt werden, ob diese Bestimmungen einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehen, nach der ein solcher Antrag zurückgewiesen werden kann.

 

29        Unter diesen Umständen ist nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung der Richtlinie 93/13 in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das aufgeworfene Problem hypothetischer Natur ist.

 

30        Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der durch die Richtlinie 93/13 gewährte Schutz nicht nur auf die Dauer der Erfüllung des von einem Gewerbetreibenden mit einem Verbraucher geschlossenen Vertrags beschränkt werden darf, sondern dass er auch nach Erfüllung dieses Vertrags gilt. Somit ist es im Fall der Nichtigerklärung des zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrags wegen Missbräuchlichkeit einer seiner Klauseln zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Folgen dieser Nichtigerklärung durch ihr nationales Recht zu regeln, doch muss dies unter Beachtung des einem Verbraucher durch diese Richtlinie gewährten Schutzes erfolgen, insbesondere indem die Wiederherstellung der Sach- und Rechtslage gewährleistet wird, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. März 2023, M. B. u. a. [Folgen der Nichtigerklärung eines Vertrags], C‑6/22, EU:C:2023:216, Rn. 21 und 22).

 

31        Zweitens macht die Getin Noble Bank geltend, der Gerichtshof verfüge nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich seien, da die vom vorlegenden Gericht vorgenommene Einstufung der Kläger des Ausgangsverfahrens als Verbraucher in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls fehlerhaft sei.

 

32        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen spricht, die das nationale Gericht zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Außerdem ist der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nicht befugt, darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist; diese Auslegung fällt in die ausschließliche Zuständigkeit des nationalen Gerichts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2020, Sociálna poisťovňa, C‑799/19, EU:C:2020:960, Rn. 44 und 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

33        Da im vorliegenden Fall das vorlegende Gericht die Kläger des Ausgangsverfahrens als Verbraucher angesehen hat, ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sich zu einer solchen Einstufung zu äußern. Der Gerichtshof verfügt somit über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der Vorlagefrage erforderlich sind.

 

34        Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 

Zur Beantwortung der Frage

35        Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 im Licht des Effektivitätsgrundsatzes dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehen, nach der das nationale Gericht einen Antrag eines Verbrauchers auf Erlass vorläufiger Maßnahmen zurückweisen kann, der darauf gerichtet ist, dass bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Nichtigerklärung des von diesem Verbraucher geschlossenen Darlehensvertrags wegen darin enthaltener missbräuchlicher Klauseln die Zahlung der nach diesem Vertrag geschuldeten Monatsraten ausgesetzt wird, wenn solche Maßnahmen erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit dieser Entscheidung sicherzustellen.

 

36        Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel der Richtlinie 93/13 darin besteht, ein hohes Maß an Verbraucherschutz zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2020, Banca B., C‑269/19, EU:C:2020:954, Rn. 37).

 

37        Zu diesem Zweck verpflichtet Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass missbräuchliche Vertragsklauseln für den Verbraucher unverbindlich sind, ohne dass dieser Klage erheben und ein Urteil erwirken muss, mit dem die Missbräuchlichkeit dieser Klauseln bestätigt wird (Urteil vom 4. Juni 2009, Pannon GSM, C‑243/08, EU:C:2009:350, Rn. 20 bis 28). Folglich sind die nationalen Gerichte verpflichtet, diese Klauseln unangewendet zu lassen, damit sie den Verbraucher nicht binden, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht (Urteil vom 26. März 2019, Abanca Corporación Bancaria und Bankia, C‑70/17 und C‑179/17, EU:C:2019:250, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

38        Zudem sorgen die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.

 

39        In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, durch ihr nationales Recht die Bedingungen festzulegen, unter denen die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel erfolgt und die konkreten Rechtswirkungen dieser Feststellung eintreten. Allerdings muss diese Feststellung die Wiederherstellung der Sach‑ und Rechtslage, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befände, ermöglichen. Durch eine solche Einbettung des den Verbrauchern durch die Richtlinie 93/13 gewährten Schutzes in das nationale Recht kann nämlich das Wesen dieses Schutzes nicht beeinträchtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2022, Profi Credit Bulgaria [Verrechnung von Amts wegen im Fall einer missbräuchlichen Klausel], C‑170/21, EU:C:2022:518, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

40        Nach ständiger Rechtsprechung sind die Modalitäten der Umsetzung des in der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Verbraucherschutzes mangels spezifischer Vorschriften des Unionsrechts in diesem Bereich nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache ihrer innerstaatlichen Rechtsordnungen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzprinzip), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip) (Urteil vom 10. Juni 2021, BNP Paribas Personal Finance, C‑776/19 bis C‑782/19, EU:C:2021:470, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

41        So hat der Gerichtshof insbesondere in Bezug auf vorläufige Maßnahmen, die beantragt wurden, um die Rechte aus der Richtlinie 93/13 geltend zu machen, festgestellt, dass diese Richtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel zuständigen Gericht des Erkenntnisverfahrens verwehrt, vorläufige Maßnahmen wie die Aussetzung eines Vollstreckungsverfahrens zu erlassen, wenn der Erlass dieser Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit seiner Endentscheidung sicherzustellen. Diese Regelung kann nämlich die Wirksamkeit des mit der Richtlinie beabsichtigten Schutzes beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2013, Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 59, 60 und 64).

 

42        Außerdem hat der Gerichtshof dargelegt, dass der Erlass solcher Maßnahmen insbesondere dann erforderlich sein kann, wenn die Gefahr besteht, dass der betreffende Verbraucher während eines gerichtlichen Verfahrens, dessen Dauer erheblich sein kann, Monatsraten zahlt, deren Höhe das übersteigt, was er tatsächlich schuldete, wenn die betreffende Klausel für nichtig erklärt würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 26. Oktober 2016, Fernández Oliva u. a., C‑568/14 bis C‑570/14, EU:C:2016:828, Rn. 34 bis 36).

 

43        Daher erfordert der den Verbrauchern durch die Richtlinie 93/13, insbesondere durch deren Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1, gewährleistete Schutz, dass das nationale Gericht eine geeignete vorläufige Maßnahme erlassen können muss, wenn dies erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit der zu erlassenden Entscheidung in Bezug auf die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln sicherzustellen.

 

44        Im vorliegenden Fall geht, was den Äquivalenzgrundsatz betrifft, aus den Angaben des vorlegenden Gerichts nicht hervor, dass die für vorläufige Maßnahmen maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften unterschiedlich angewandt würden, je nachdem, ob ein Rechtsstreit Ansprüche aus dem nationalen Recht oder aus dem Unionsrecht betrifft.

 

45        Zum Effektivitätsgrundsatz ist darauf hinzuweisen, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Februar 2016, Finanmadrid EFC, C‑49/14, EU:C:2016:98, Rn. 43). Das Gleiche gilt zwangsläufig auch für eine gerichtliche Auslegung der betreffenden nationalen Vorschrift.

 

46        Insoweit ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen und den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen, u. a. der polnischen Regierung, dass die Zivilprozessordnung einem polnischen Gericht, das mit einem Verfahren zur Feststellung der Nichtigkeit eines Vertrags wegen Missbräuchlichkeit einer darin enthaltenen Vertragsklausel befasst ist, den Erlass vorläufiger Maßnahmen ermöglicht. Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf Art. 7301 der Zivilprozessordnung betreffend die Voraussetzungen für den Erlass vorläufiger Maßnahmen und auf Art. 755 § 21 der Zivilprozessordnung, wonach es eine Sicherungsmaßnahme erlassen könne – und zwar auch dann, wenn sie zur Befriedigung einer Forderung bestimmt sei –, wenn dies erforderlich sei, um einen drohenden Schaden oder andere nachteilige Folgen für den Berechtigten abzuwenden.

 

47        Es gebe jedoch in der nationalen Rechtsprechung eine wichtige Rechtsprechungslinie, die Anträge auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zurückweise, nämlich dann, wenn beantragt werde, die Zahlung der nach einem Darlehensvertrag, der wegen darin enthaltener missbräuchlicher Klauseln für nichtig erklärt werden könne, geschuldeten Monatsraten bis zum Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung in der Sache auszusetzen. Nach dieser Rechtsprechung sei eine solche Zurückweisung durch das fehlende „Rechtsschutzinteresse“ des betreffenden Verbrauchers aus den in Rn. 20 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Gründen gerechtfertigt.

 

48        Aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen und den von der polnischen Regierung beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen geht indessen hervor, dass das nationale Gericht im Rahmen der Prüfung einer Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Vertrags wegen Missbräuchlichkeit einer darin enthaltenen Vertragsklausel grundsätzlich – vorbehaltlich einer Klageerweiterung – über die in der Klageschrift formulierten Anträge entscheidet, d. h. über die bis zur Erhebung der bei ihm anhängigen Klage gezahlten Beträge, da sonst ultra petita entschieden würde. Stellt das Gericht in der Sache fest, dass dieser Vertrag nach der Streichung der betreffenden Klausel objektiv nicht mehr durchgeführt werden kann, wie es im Ausgangsverfahren der Fall sein soll, und dass die Beträge, die der betreffende Verbraucher nach dem Vertrag ohne Rechtsgrund gezahlt hat, an ihn zurückzuzahlen sind, würde die Zurückweisung eines Antrags auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme, mit der die Aussetzung der Zahlung der nach dem Vertrag geschuldeten Monatsraten begehrt wird, folglich die endgültige Entscheidung in der Sache zumindest teilweise unwirksam machen. Eine solche endgültige Entscheidung würde nämlich nicht entsprechend der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zur Wiederherstellung der Sach- und Rechtslage führen, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte, da nach den anwendbaren Verfahrensmodalitäten nur ein Teil des bereits gezahlten Betrags Gegenstand dieser endgültigen Entscheidung sein könnte.

 

49        Daraus folgt, dass unter solchen Umständen der Erlass einer vorläufigen Maßnahme zur Aussetzung der Zahlung der nach einem Darlehensvertrag, der wegen einer darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel für nichtig erklärt werden kann, geschuldeten Monatsraten erforderlich sein könnte, um die volle Wirksamkeit der zu erlassenden Entscheidung, die Restitutionswirkung, die sie erzeugt, und damit die Wirksamkeit des durch die Richtlinie 93/13 gewährleisteten Schutzes sicherzustellen.

 

50        Wenn keine vorläufige Maßnahme erlassen wird, mit der seine vertragliche Verpflichtung zur Zahlung dieser Raten ausgesetzt wird, müsste ein Verbraucher nämlich – wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht –, um zu verhindern, dass eine endgültige Entscheidung über die Nichtigkeit des betreffenden Darlehensvertrags seine Lage nur teilweise wiederherstellt, entweder den Umfang seines ursprünglichen Antrags nach Zahlung jeder einzelnen Rate erweitern oder im Anschluss an eine Entscheidung, mit der der Darlehensvertrag für nichtig erklärt wird, eine neue Klage erheben, deren Gegenstand die Zahlung der im Laufe des ersten Verfahrens gezahlten Monatsraten wäre. Hierzu ist festzustellen, dass die polnische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hinweist, dass nach Art. 25a der Ustawa o kosztach sądowych w sprawach cywilnych (Gesetz über die Gerichtskosten in Zivilsachen) vom 28. Juli 2005 (Dz. U. Nr. 167, Position 1398) in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2022, Position 1125) jede Klageerweiterung mit Gerichtskosten verbunden ist.

 

51        Im Übrigen ist die Erhebung einer neuen Klage durch einen Verbraucher nach den Angaben des vorlegenden Gerichts jedenfalls dann erforderlich, wenn auf das erste Verfahren zur Feststellung der Nichtigkeit eines Darlehensvertrags wegen Missbräuchlichkeit einer darin enthaltenen Vertragsklausel ein Rechtsmittelverfahren folgt, da die Verfahrensvorschriften des polnischen Rechts in diesem Fall nicht die Möglichkeit vorsehen, den Gegenstand der vor der ersten Instanz erhobenen Klage zu erweitern. Unter diesen Umständen läge es auf der Hand, dass ohne den Erlass vorläufiger Maßnahmen zur Aussetzung der Verpflichtung zur Zahlung der nach einem Darlehensvertrag geschuldeten Monatsraten die Entscheidung, mit der dieser für nichtig erklärt und die Rückzahlung der von dem betreffenden Verbraucher bereits gezahlten Beträge angeordnet wird, das Ziel der Richtlinie 93/13 – die Wiederherstellung der zuvor bestehenden Sach- und Rechtslage – nicht erreicht werden könnte.

 

52        Außerdem erscheint der Erlass einer solchen vorläufigen Maßnahme, wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, umso notwendiger, wenn der Verbraucher an die Bank schon vor der Anstrengung eines Verfahrens einen Betrag gezahlt hat, der den aufgenommenen Darlehensbetrag übersteigt.

 

53        Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass dann, wenn keine vorläufige Maßnahme zur Aussetzung der vertraglichen Verpflichtung des Verbrauchers erlassen wird, eine längere Dauer des betreffenden Verfahrens zu einer solchen Verschlechterung seiner finanziellen Lage führt, dass er nicht mehr die erforderlichen Mittel hätte, um die Rückzahlung der Beträge zu erwirken, auf die er aufgrund des für nichtig erklärten Vertrags Anspruch hat.

 

54        Solche Umstände könnten auch das Risiko erhöhen, dass ein Verbraucher nicht mehr in der Lage ist, die nach dem Darlehensvertrag geschuldeten Monatsraten zu zahlen, was die betreffende Bank dazu veranlassen könnte, ein Verfahren zur Vollstreckung ihrer Forderung auf der Grundlage eines Darlehensvertrags einzuleiten, der für nichtig erklärt werden kann.

 

55        Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine nationale Rechtsprechung, nach der der Erlass vorläufiger Maßnahmen zur Aussetzung der Zahlung von nach einem Darlehensvertrag geschuldeten Monatsraten abgelehnt wird, obwohl diese Maßnahmen erforderlich sind, um den den Verbrauchern durch die Richtlinie 93/13 gewährten Schutz zu gewährleisten, in Anbetracht ihrer Stellung in den gesamten im polnischen Recht vorgesehenen Verfahrensmodalitäten offensichtlich nicht dem Effektivitätsgrundsatz entspricht und daher nicht mit Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vereinbar ist.

 

56        Insoweit ist jedoch erstens darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun müssen, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit dieser Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem mit ihr verfolgten Ziel im Einklang steht (Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

57        Das Erfordernis einer solchen unionsrechtskonformen Auslegung umfasst u. a. die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist. Folglich darf ein nationales Gericht nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt wurde (Urteil vom 26. Juni 2019, Addiko Bank, C‑407/18, EU:C:2019:537, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

58        Im vorliegenden Fall sind das vorlegende Gericht und die polnische Regierung der Ansicht, dass die betreffende Regelung, insbesondere die zweite Voraussetzung für den Erlass vorläufiger Maßnahmen im polnischen Recht, nämlich die in Art. 7301 der Zivilprozessordnung vorgesehene Voraussetzung des Vorliegens eines „Rechtsschutzinteresses“, unionsrechtskonform ausgelegt werden könne.

 

59        Zweitens ist zum einen hervorzuheben, dass die in Rn. 55 des vorliegenden Urteils angeführte nationale Rechtsprechung nur dann als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen werden kann, wenn dieses Gericht feststellt, dass der Erlass der beantragten vorläufigen Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit der endgültigen Entscheidung in der Sache sicherzustellen. Insoweit muss es zum einen über ausreichende Anhaltspunkte für die Missbräuchlichkeit einer oder mehrerer Vertragsklauseln verfügen, so dass es wahrscheinlich ist, dass der entsprechende Darlehensvertrag nichtig ist oder dass dem betreffenden Verbraucher zumindest eine Rückzahlung der nach diesem Vertrag geschuldeten Monatsraten zu gewähren ist. Zum anderen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob die Aussetzung der Verpflichtung des Verbrauchers zur Zahlung dieser Monatsraten für die Dauer des betreffenden Verfahrens erforderlich ist, um die Sach- und Rechtslage wiederherzustellen, die ohne diese Klausel(n) bestanden hätte. So kann das Gericht u. a. die finanzielle Situation des Verbrauchers und die für ihn bestehende Gefahr berücksichtigen, dass er an die betreffende Bank einen Betrag (zurück)zahlen muss, der den Betrag übersteigt, den er bei ihr aufgenommen hat.

 

60        Wenn das nationale Gericht der Auffassung ist, dass zum einen hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die betreffenden Vertragsklauseln missbräuchlich sind und dass somit eine Rückzahlung der von dem Verbraucher nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Darlehensvertrag gezahlten Beträge wahrscheinlich ist und dass zum anderen ohne den Erlass vorläufiger Maßnahmen zur Aussetzung der Zahlung der nach diesem Vertrag geschuldeten Monatsraten die volle Wirksamkeit der endgültigen Entscheidung in der Sache nicht gewährleistet wäre, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen hat, dann hat es vorläufige Maßnahmen zu erlassen, mit denen die Verpflichtung des Verbrauchers, nach diesem Vertrag Zahlungen zu leisten, ausgesetzt wird.

 

61        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 im Licht des Effektivitätsgrundsatzes dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehen, nach der das nationale Gericht einen Antrag eines Verbrauchers auf Erlass vorläufiger Maßnahmen zurückweisen kann, der darauf gerichtet ist, dass bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Nichtigerklärung des von diesem Verbraucher geschlossenen Darlehensvertrags wegen darin enthaltener missbräuchlicher Klauseln die Zahlung der nach diesem Vertrag geschuldeten Monatsraten ausgesetzt wird, wenn der Erlass dieser vorläufigen Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit dieser Entscheidung sicherzustellen.

 

 Kosten

 

62        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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