EuGH: Verbraucher-Auslandsreise – Verklagen des Reiseveranstalters vor dem Gericht des Verbraucher-Wohnsitzes möglich
EuGH, Urteil vom 29.7.2024 – C-774/22, JX gegen FTI Touristik GmbH
ECLI:EU:C:2024:646
Volltext: BB-Online BBL2024-1921-2
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Tenor
Art. 18 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist wie folgt auszulegen: Nach ihm ist in Fällen, in denen ein Verbraucher einen Reiseveranstalter nach Abschluss eines Pauschalreisevertrags vor dem Gericht des Mitgliedstaats verklagt, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat, und die Vertragspartner beide in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässig sind, das Reiseziel aber im Ausland liegt, dieses Gericht sowohl international als auch örtlich zuständig.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1, berichtigt in ABl. 2016, L 264, S. 43).
2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen JX und der FTI Touristik GmbH, einem Reiseveranstalter, wegen Schadensersatz aufgrund nicht hinreichender Aufklärung über die Einreisebestimmungen und die für die Reise in den betreffenden Drittstaat erforderlichen Visa.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1215/2012
3 In den Erwägungsgründen 3, 4, 15, 18, und 26 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:
„(3) Die [Europäische] Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln, indem unter anderem der Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen, erleichtert wird. Zum schrittweisen Aufbau eines solchen Raums hat die Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen, Maßnahmen zu erlassen, insbesondere wenn dies für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist.
(4) Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zu gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.
…
(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.
…
(18) Bei Versicherungs‑, Verbraucher- und Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.
…
(26) Das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege innerhalb der Union rechtfertigt den Grundsatz, dass eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Außerdem rechtfertigt die angestrebte Reduzierung des Zeit- und Kostenaufwands bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten die Abschaffung der Vollstreckbarerklärung, die der Vollstreckung im ersuchten Mitgliedstaat bisher vorausgehen musste. …“
4 Art. 7 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;
…“
5 In Kapitel II Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“, Art. 17 bis 19) der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt Art. 17:
„(1) Bilden ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6 und des Artikels 7 Nummer 5 nach diesem Abschnitt,
a) wenn es sich um den Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung handelt,
b) wenn es sich um ein in Raten zurückzuzahlendes Darlehen oder ein anderes Kreditgeschäft handelt, das zur Finanzierung eines Kaufs derartiger Sachen bestimmt ist, oder
c) in allen anderen Fällen, wenn der andere Vertragspartner in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Mitgliedstaat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Mitgliedstaats, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.
(2) Hat der Vertragspartner des Verbrauchers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats keinen Wohnsitz, besitzt er aber in einem Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus ihrem Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hätte.
(3) Dieser Abschnitt ist nicht auf Beförderungsverträge mit Ausnahme von Reiseverträgen, die für einen Pauschalpreis kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen vorsehen, anzuwenden.“
6 Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Die Klage eines Verbrauchers gegen den anderen Vertragspartner kann entweder vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet dieser Vertragspartner seinen Wohnsitz hat, oder ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des anderen Vertragspartners vor dem Gericht des Ortes, an dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.
(2) Die Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher kann nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.“
7 Art. 19 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt in Nr. 3:
„Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden,
…
3. wenn sie zwischen einem Verbraucher und seinem Vertragspartner, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Mitgliedstaat haben, getroffen ist und die Zuständigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats begründet, es sei denn, dass eine solche Vereinbarung nach dem Recht dieses Mitgliedstaats nicht zulässig ist.“
8 Art. 24 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt in Nr. 1:
„Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz der Parteien sind folgende Gerichte eines Mitgliedstaats ausschließlich zuständig:
1. für Verfahren, welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen sowie die Miete oder Pacht von unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die unbewegliche Sache belegen ist.
Jedoch sind für Verfahren betreffend die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen zum vorübergehenden privaten Gebrauch für höchstens sechs aufeinander folgende Monate auch die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, sofern es sich bei dem Mieter oder Pächter um eine natürliche Person handelt und der Eigentümer sowie der Mieter oder Pächter ihren Wohnsitz in demselben Mitgliedstaat haben“.
9 Art. 25 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt in Abs. 1:
„Haben die Parteien unabhängig von ihrem Wohnsitz vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind dieses Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig, es sei denn, die Vereinbarung ist nach dem Recht dieses Mitgliedstaats materiell ungültig. …“
Verordnung (EG) Nr. 1896/2006
10 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (ABl. 2006, L 399, S. 1) bestimmt:
„Eine grenzüberschreitende Rechtssache im Sinne dieser Verordnung liegt vor, wenn mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des befassten Gerichts hat.“
Deutsches Recht
11 § 12 („Allgemeiner Gerichtsstand; Begriff“) der Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (BGBl. 2005 I S. 3202), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 7. November 2022 (BGBl. 2022 I S. 1982) (im Folgenden: ZPO), bestimmt:
„Das Gericht, bei dem eine Person ihren allgemeinen Gerichtsstand hat, ist für alle gegen sie zu erhebenden Klagen zuständig, sofern nicht für eine Klage ein ausschließlicher Gerichtsstand begründet ist.“
12 Nach § 17 Abs. 1 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand juristischer Personen durch ihren Sitz bestimmt.
13 § 21 („Besonderer Gerichtsstand der Niederlassung“) ZPO bestimmt in Abs. 1:
„Hat jemand zum Betrieb einer Fabrik, einer Handlung oder eines anderen Gewerbes eine Niederlassung, von der aus unmittelbar Geschäfte geschlossen werden, so können gegen ihn alle Klagen, die auf den Geschäftsbetrieb der Niederlassung Bezug haben, bei dem Gericht des Ortes erhoben werden, wo die Niederlassung sich befindet.“
14 § 29 („Besonderer Gerichtsstand des Erfüllungsorts“) ZPO bestimmt:
„(1) Für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen ist das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
15 JX, eine Privatperson mit Wohnsitz in Nürnberg, buchte am 15. Dezember 2021 bei FTI Touristik, einem Reiseveranstalter mit Sitz in München, eine Pauschalreise. Die Buchung erfolgte über ein Reisebüro in Nürnberg, das nicht Vertragspartner und auch keine Niederlassung von FTI Touristik ist.
16 JX meint, er sei über die Einreisebestimmungen und die Visa, die für seine Reise in den betreffenden Drittstaat erforderlich gewesen seien, nicht ausreichend aufgeklärt worden. Er erhob deshalb beim vorlegenden Gericht, dem Amtsgericht Nürnberg (Deutschland), in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat, Klage auf Schadensersatz in Höhe von 1 499,86 Euro. Seiner Auffassung nach ergibt sich die örtliche Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts aus den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 1215/2012.
17 FTI Touristik macht geltend, dass das vorlegende Gericht örtlich nicht zuständig sei. Auf reine Binnensachverhalte wie den vorliegenden, in dem der Reisende und der Reiseveranstalter in demselben Mitgliedstaat ansässig seien, sei die Verordnung Nr. 1215/2012 nicht anwendbar. In solchen Fällen sei der für die Anwendung der Verordnung erforderliche Auslandsbezug nicht gegeben.
18 Zu seiner örtlichen Zuständigkeit führt das vorlegende Gericht aus, dass nach den Regelungen über den allgemeinen Gerichtsstand der §§ 12 und 17 ZPO, auch wenn es sich bei dem Kläger des Ausgangsverfahrens um einen Verbraucher und bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens um ein Unternehmen handele, das Gericht des Sitzes der Beklagten des Ausgangsverfahrens örtlich zuständig sei. Die Regelungen über die besonderen Gerichtsstände von § 21 Abs. 1 ZPO und § 29 ZPO kämen nicht zum Tragen. Das Reisebüro in Nürnberg, über das der Kläger des Ausgangsverfahrens seine Reise gebucht habe, sei keine Niederlassung der Beklagten des Ausgangsverfahrens, und es bestünden auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Verpflichtungen der Beklagten des Ausgangsverfahrens aus dem betreffenden Reisevertrag im Bezirk des Amtsgerichts Nürnberg zu erfüllen gewesen wären.
19 Seine örtliche Zuständigkeit könne sich hier deshalb allenfalls aus Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 ergeben. Da der Verbraucher und der Reiseveranstalter im vorliegenden Fall in demselben Mitgliedstaat ansässig seien, könne der Auslandsbezug, wegen dessen diese Bestimmung unter Umständen zur Anwendung komme, allein in dem ausländischen Reiseziel bestehen.
20 Nach der herrschenden Ansicht in der Rechtsprechung in Deutschland fehle es an dem für die Anwendung der Verordnung Nr. 1215/2012 erforderlichen Auslandsbezug, wenn dieser nur aufgrund des Ziels der Pauschalreise bestehe. Für diesen Ansatz sprächen u. a. das Gebot der restriktiven Auslegung der Bestimmungen der Verordnung sowie die Urteile vom 17. November 2011, Hypoteční banka (C‑327/10, EU:C:2011:745), und vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins (C‑9/12, EU:C:2013:860). Bestätigt werde er zudem durch das mit der Verordnung verfolgte Ziel der Regelung der internationalen Zuständigkeit, um sicherzustellen, dass den Parteien eines Rechtsstreits ein sicherer Gerichtsstand zur Verfügung stehe und sie nicht gezwungen seien, in einem anderen Mitgliedstaat bzw. in einem Drittstaat um Rechtsschutz nachzusuchen, ohne dabei in nationale Gerichtsstandsregelungen einzugreifen, sofern durch diese in dem Staat, dem die Partei angehöre, ein angemessener Rechtsschutz sichergestellt sei, und die Erforderlichkeit des Abstellens auf einen normativen und nicht rein tatsächlichen Auslandsbezug.
21 Eine gewichtige Stimme in der Literatur wolle für einen grenzüberschreitenden Bezug hingegen nicht ohne Weiteres fordern, dass Kläger und Beklagter in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sein müssten. Die Art. 18, 24 und 25 der Verordnung Nr. 1215/2012 könnten diese Auffassung stützen. Außerdem könne nicht zwischen einem tatsächlichen und einem normativen Auslandsbezug unterschieden werden. Ein Auslandsbezug könne sich aus den Gegebenheiten des Einzelfalls ergeben, wie z. B. hier dem Reiseziel.
22 Das Amtsgericht Nürnberg hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin gehend auszulegen, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter, ihren Sitz im gleichen Mitgliedstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedstaat, sondern im Ausland liegt (sogenannte „unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen kann?
Zur Vorlagefrage
23 Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass nach ihm in Fällen, in denen ein Verbraucher einen Reiseveranstalter nach Abschluss eines Pauschalreisevertrags vor dem Gericht des Mitgliedstaats verklagt, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat, und die Vertragspartner beide in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässig sind, das Reiseziel aber im Ausland liegt, dieses Gericht sowohl international als auch örtlich zuständig ist.
24 Als Erstes ist zu prüfen, ob ein Rechtsstreit, bei dem Kläger und Beklagter – wie im Ausgangsverfahren – in demselben Mitgliedstaat ansässig sind, überhaupt in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.
25 Die Zuständigkeitsregeln der Verordnung Nr. 1215/2012 sind nach ständiger Rechtsprechung nur anwendbar, wenn ein Auslandsbezug besteht. In der Verordnung ist zwar von „Zivilsachen, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen“ (dritter Erwägungsgrund), und von „grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten“ (26. Erwägungsgrund) die Rede. Es wird aber nicht definiert, was unter einem solchen Auslandsbezug zu verstehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Februar 2024, Inkreal, C‑566/22, EU:C:2024:123, Rn. 18 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt ein Auslandsbezug vor, wenn der Sachverhalt des betreffenden Rechtsstreits Fragen hinsichtlich der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte aufwerfen kann (Urteil vom 8. Februar 2024, Inkreal, C‑566/22, EU:C:2024:123, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Bei der Prüfung der Frage, ob das betreffende Rechtsverhältnis einen Auslandsbezug aufweist, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung mehrfach auf den Wohnsitz der Parteien des Rechtsstreits abgestellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Mai 2020, Parking und Interplastics, C‑267/19 und C‑323/19, EU:C:2020:351, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Gewiss besteht in Fällen, in denen mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts hat, ganz klar ein Auslandsbezug. Wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann sich ein solcher Auslandsbezug aber auch aus anderen, insbesondere mit dem Gegenstand des Rechtsstreits zusammenhängenden Gesichtspunkten ergeben.
29 Das betreffende Rechtsverhältnis kann etwa auch deshalb einen Auslandsbezug aufweisen, weil der Kläger und der Beklagte ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, sich der Sachverhalt, um den es geht, aber in einem Drittstaat zugetragen hat. Ein solcher Sachverhalt kann in dem betreffenden Mitgliedstaat nämlich Fragen hinsichtlich der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte aufwerfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2022, IRnova, C‑399/21, EU:C:2022:648, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Ein Rechtsstreit, in dem es um vertragliche Verpflichtungen geht, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie entweder in einem Drittstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat, in dem die beiden Parteien ihren Wohnsitz haben, zu erfüllen sind, kann demnach Fragen hinsichtlich der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte aufwerfen, so dass der für die Anwendung der Verordnung Nr. 1215/2012 auf den Rechtsstreit erforderliche Auslandsbezug besteht.
31 Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen wird diese Auslegung zudem durch Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestätigt, der vorsieht, dass die Regelung, die er zugunsten des Verbrauchers aufstellt, „ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des anderen Vertragspartners“ gilt, so dass sich der Verbraucher darauf sowohl gegenüber einem Unternehmen berufen kann, das in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat ansässig ist, als auch gegenüber einem Unternehmen, das in demselben Mitgliedstaat ansässig ist wie dem, in dem er seinen Wohnsitz hat.
32 Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 19 Nr. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt, ausdrücklich den Fall im Blick gehabt, dass Vereinbarungen „zwischen einem Verbraucher und seinem Vertragspartner, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Mitgliedstaat haben, getroffen“ wurden.
33 Die hier vorgenommene Auslegung trägt auch dem Ziel der Verordnung Nr. 1215/2012 Rechnung. Der Gerichtshof hat nämlich bereits mehrfach entschieden, dass die Verordnung bezweckt, die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen durch Zuständigkeitsvorschriften zu vereinheitlichen, die in hohem Maße vorhersehbar sind, und auf diese Weise ein Ziel der Rechtssicherheit verfolgt, nämlich den Rechtsschutz der in der Union ansässigen Personen in der Weise zu verbessern, dass ein Kläger ohne Schwierigkeiten festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann, und ein Beklagter vorherzusehen vermag, vor welchem Gericht er verklagt werden kann. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss das angerufene nationale Gericht deshalb in der Lage sein, ohne Weiteres über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden, und zwar ohne in eine Sachprüfung eintreten zu müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Februar 2024, Inkreal, C‑566/22, EU:C:2024:123, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Auch wenn die Verbindung zwischen der Klage und dem Ausland je nach Rechtsstreit mehr oder weniger eng sein mag, muss das angerufene Gericht in jedem Fall noch ohne Weiteres beurteilen können, ob der Rechtsstreit einen Auslandsbezug aufweist, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass bei einer Rechtssache, in der es um die Klage eines Reisenden wegen Problemen bei einer von einem Reiseveranstalter veranstalteten und verkauften Auslandsreise geht, unabhängig davon, welcher Art diese Probleme genau sind, davon auszugehen ist, dass ein Auslandsbezug im Sinne der Verordnung Nr. 1215/2012 besteht. Das Reiseziel lässt sich nämlich ohne Weiteres feststellen, so dass für die Vertragsparteien vorhersehbar ist, welche Zuständigkeitsregel greift.
35 Die Auslegung des Begriffs des Auslandsbezugs, wie sie oben in Rn. 30 vorgenommen wurde, wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung ergänzend auf den Begriff der grenzüberschreitenden Rechtssache abgestellt hat, die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1896/2006 definiert ist als eine Rechtssache, bei der mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des befassten Gerichts hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Mai 2020, Parking und Interplastics, C‑267/19 und C‑323/19, EU:C:2020:351, Rn. 34, und vom 3. Juni 2021, Generalno konsulstvo na Republika Bulgaria, C‑280/20, EU:C:2021:443, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Verordnung Nr. 1215/2012 und die Verordnung Nr. 1896/2006 zwar beide dem Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug zuzuordnen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1215/2012 im Licht der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1896/2006 auszulegen wären. Bei den beiden Rechtsakten sind das Ziel und der Geltungsbereich nämlich nicht vergleichbar.
37 Während mit der Verordnung Nr. 1215/2012 das Ziel der Vereinheitlichung der Zuständigkeitsvorschriften in Zivil- und Handelssachen verfolgt wird, die grundsätzlich zur Anwendung kommen und Vorrang vor den innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften haben müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2013, Markt24, C‑804/19, EU:C:2021:134, Rn. 30 und 32), wird durch die Verordnung Nr. 1896/2006 eine einheitliche Alternative für die Beitreibung von Forderungen geschaffen, ohne dass die nach nationalem Recht vorgesehenen Mechanismen zur Beitreibung von Forderungen ersetzt oder harmonisiert werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 79, und vom 13. Juni 2013, Goldbet Sportwetten, C‑144/12, EU:C:2013:393, Rn. 28).
38 Die Auslegung des Begriffs des Auslandsbezugs, wie sie oben in Rn. 30 vorgenommen wurde, wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 eine Abweichung sowohl von der allgemeinen Zuständigkeitsvorschrift von Art. 4 der Verordnung, nach der die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat, als auch von der besonderen Zuständigkeitsvorschrift von Art. 7 Nr. 1 der Verordnung für Verträge oder Ansprüche aus Verträgen, nach der das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, enthält und deshalb eng auszulegen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Januar 2015, Kolassa, C‑375/13, EU:C:2015:37, Rn. 28).
39 Wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wird anhand des Begriffs des Auslandsbezugs nämlich der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012 abgegrenzt. Ob ein solcher Auslandsbezug vorliegt, ist einheitlich zu beurteilen. Es kommt insoweit nicht darauf an, ob es sich bei der betreffenden Zuständigkeitsvorschrift um eine allgemeine Zuständigkeitsvorschrift oder um eine Zuständigkeitsvorschrift handelt, mit der von der allgemeinen Zuständigkeitsvorschrift abgewichen wird.
40 Ein Rechtsstreit über einen Reisevertrag fällt deshalb, sofern das Reiseziel im Ausland liegt, auch dann in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012, wenn die Vertragsparteien – der Verbraucher und sein Vertragspartner – beide in demselben Mitgliedstaat ansässig sind.
41 Was als Zweites die Frage angeht, ob Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit des betreffenden Gerichts regelt, geht aus dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 der Verordnung hervor, dass in den dort für die Klage eines Verbrauchers aufgestellten Zuständigkeitsregeln auf „[die] Gericht[e] des Mitgliedstaats …, in dessen Hoheitsgebiet [der andere] Vertragspartner seinen Wohnsitz hat“, und auf das „Gericht des Ortes, an dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat“, abgestellt wird.
42 Während die erste dieser beiden Regeln lediglich die internationale Zuständigkeit des Gerichtssystems des betreffenden Staates insgesamt festlegt, legt die zweite unmittelbar die örtliche Zuständigkeit des Gerichts des Ortes fest, an dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.
43 Wie der Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, legt diese zweite Zuständigkeitsregel nicht nur die internationale gerichtliche Zuständigkeit des betreffenden Gerichts fest, sondern auch dessen örtliche Zuständigkeit. Es wird unmittelbar ein ganz bestimmtes Gericht in einem Mitgliedstaat bestimmt, ohne dass auf die dort geltenden Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit verwiesen würde.
44 Diese Auslegung wird bestätigt durch die Ziele, die mit den Bestimmungen von Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 verfolgt werden. Wie sich aus deren 18. Erwägungsgrund ergibt, sind Verbrauchersachen nämlich durch ein gewisses Ungleichgewicht zwischen den Parteien gekennzeichnet, das durch die Bestimmungen von Art. 18 der Verordnung ausgeglichen werden soll, indem Zuständigkeitsvorschriften vorgesehen werden, die für die schwächere Partei günstiger sind als die allgemeine Regelung (vgl. entsprechend zu Versicherungsverträgen Urteil vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung, C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 49).
45 Insbesondere soll durch die in Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehene besondere Zuständigkeitsregel gewährleistet werden, dass die schwächere Partei, die die stärkere verklagen möchte, dies vor dem Gericht eines Mitgliedstaats tun kann, das für sie leicht erreichbar ist (vgl. entsprechend zu Versicherungsverträgen Urteil vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung, C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 50).
46 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 59 und 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, schützt diese besondere Zuständigkeitsregel, indem sie den Zugang zu den Gerichten erleichtert, den Verbraucher und lässt erkennen, dass der Unionsgesetzgeber die Befürchtung hatte, dass der Verbraucher, wenn zwar ein Gericht des Mitgliedstaats, in dem er lebt, zuständig wäre, aber nicht das Gericht des Ortes, an dem er seinen Wohnsitz hat, von der Erhebung einer Klage absehen könnte.
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass nach ihm in Fällen, in denen ein Verbraucher einen Reiseveranstalter nach Abschluss eines Pauschalreisevertrags vor dem Gericht des Mitgliedstaats verklagt, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat, und die Vertragspartner beide in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässig sind, das Reiseziel aber im Ausland liegt, dieses Gericht sowohl international als auch örtlich zuständig ist.