OLG Braunschweig: Untreue durch Aufsichtsratsmitglieder
OLG Braunschweig, Beschluss vom 14.6.2012 - Ws 44 + 45/12
Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig legt den Angeklagten mit Anklageschrift vom 24.8.2011 zur Last, dass sie sich im Zeitraum vom Dezember 2005 bis Juli 2009 gemäß §§ 266 Abs. 1 Var.2, Abs. 2, 263 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 StGB strafbar gemacht hätten. Dabei beschreibt die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt wie folgt:
„Der Angeschuldigte H war vom September 2002 bis Juli 2006 Aufsichtsratsvorsitzender der N AG, Braunschweig, und bis Juli 2010 Mitglied des Aufsichtsrats. Der Angeschuldigte Dr. I war seit dem 10.09.2004 Mitglied des Aufsichtsrats der N AG und von Juli 2006 bis Juli 2011 dessen Vorsitzender. Für ihre Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglieder erhielten die Angeschuldigten sowie die übrigen Mitglieder des Aufsichtsrats eine Vergütung, welche in § 14 der Satzung der N AG in der von 2001 bis Juli 2009 geltenden Fassung geregelt ist. Danach erhielten die Aufsichtsratsmitglieder neben einer festen und einer variablen Vergütung sowie der Erstattung von Auslagen auch ein Sitzungsgeld. Die Regelung zum Sitzungsgeld in § 14 Abs. 3 lautete: "Jedes Mitglied des Aufsichtsrat erhält für die Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats oder seiner Ausschüsse ein Sitzungsgeld in Höhe von € 150,-- pro Tag."
In den Geschäftsjahren bzw. Kalenderjahren ab Juli 2005 bis Februar 2009 fanden insgesamt 101 Sitzungen des Aufsichtsrates und seiner Ausschüsse statt. Der Aufsichtsrat und seine Ausschüsse tagten im zweiten Halbjahr 2005 9 mal, im ersten Halbjahr 2006 22 mal, im zweiten Halbjahr 2006 12 mal, im ersten Halbjahr 2007 16 mal, im zweiten Halbjahr 2007 11 mal, im ersten Halbjahr 2008 16 mal, im zweiten Halbjahr 2008 11 mal und im Zeitraum Januar 2009 bis 28.2.2009 5 mal.
Tatsächlich erhielten die Mitglieder des Aufsichtsrates nicht nur für diese Sitzungen ein Sitzungsgeld i. H. v. 150,- Euro, sondern auch für eine Vielzahl weiterer Termine. Insgesamt zahlte die N AG 819 mal zu viel Sitzungsgeld i. H. v. jeweils 150,- Euro aus. Dadurch wurde an die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder insgesamt eine Summe von 122.850,- Euro zu Unrecht ausgezahlt. Auf die einzelnen Abrechnungszeiträume entfielen dabei 18.300,- Euro auf das 2. Halbjahr 2005, 14.250,- Euro auf das 1. Halbjahr 2006, 14.550,- Euro auf das 2. Halbjahr 2006, 17.100,- Euro auf das 1. Halbjahr 2007, 14,400,- Euro auf das 2. Halbjahr 2007, 21.750,- Euro auf das 1. Halbjahr 2008, 17.100,- Euro auf das 2. Halbjahr 2008 sowie 5.400,- Euro auf den Zeitraum 1.1. bis 28.2.2009.
Die Abrechnung der Sitzungsgelder erfolgte kalenderhalbjährlich, jeweils im Januar und Juli durch die gesondert verfolgte D S. Zu diesem Zweck versandte Frau S an die jeweils 20 Aufsichtsratsmitglieder eine bereits mit den Terminen des Aufsichtsrates und seiner Ausschüsse versehene Tabelle, auf der von den jeweiligen Aufsichtsratsmitgliedern zu ergänzen war, an welchem der Termine sie teilgenommen und wie viele Kilometer sie dafür zurückgelegt hatten.
Die Angeschuldigten H und Dr. I sowie die übrigen gesondert verfolgten Aufsichtsratsmitglieder füllten die Tabelle aus und ergänzten diese um eine Vielzahl weiterer Termine, welche keine Sitzung des Aufsichtsrates oder seine Ausschüsse darstellten, wie zum Beispiel Gespräche mit Vorständen der N AG, Anreisetage vor Sitzungen, Teilnahme an der Grünen Woche (Korrektur durch Senat), Teilnahme an einer Grundsteinlegung.
Die Angeschuldigten H und Dr. I nahmen als Aufsichtsratsvorsitzende Einfluss auf die Abrechnung und Auszahlung der Sitzungsgelder. Sie waren, für Frau S u. a. Ansprechpartner für Rückfragen zu den Terminen. Sie gaben dieser wie weisungsbefugte Vorgesetzte gezielt Anweisung, welche Termine mit einem Sitzungsgeld abzurechnen waren und welche nicht.
Sie selbst gaben in ihren Abrechnungen eine Vielzahl von Terminen an, von denen sie wussten, dass es sich dabei nicht um Sitzungen des Aufsichtsrates und seiner Ausschüsse handelt. Durch die Rückfragen von Frau S wussten sie, dass auch die übrigen Aufsichtsratsmitglieder Termine angegeben haben, die nicht unter die Regelung der Satzung fielen.
Dadurch verstießen die Angeschuldigten gegen ihre Pflicht gemäß § 111 Abs. 1 Aktiengesetz i. V. m. §§ 116, 93 Aktiengesetz die Vermögensinteressen der N AG zu schützen. Durch die rechtsgrundlose Auszahlung des Geldes wurde das Vermögen der N AG um 122.850,- Euro vermindert.
Die Angeschuldigten kannten die Satzung der N AG und die Bestimmungen zur Vergütung ihrer Tätigkeit. Sie wussten, dass die von ihnen abgerechneten und erhaltenen Sitzungsgelder nicht mit der Satzung übereinstimmten.
Sie nahmen bewusst und gezielt Einfluss auf die Abrechnungspraxis bei der N AG. Durch dieses Vorgehen schalteten sie die vom Aktiengesetz vorgesehene Kontrolle faktisch aus.
Durch die Tat verschafften sich die Angeschuldigten eine laufende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer.
Der Angeschuldigte H erhielt für den Zeitraum Juli 2005 bis Februar 2009 insgesamt 21.450,- Euro zu Unrecht, Beim Angeschuldigten Dr. I waren es im selben Zeitraum 40.500,- Euro.
Insgesamt bewirkten die Angeschuldigten durch ihr Verhalten einen Vermögensschaden der N AG in Höhe von 122.850,- Euro.
Der Anklageschrift lässt sich nicht entnehmen, an welchem Datum die Angeklagten und die übrigen Aufsichtsratsmitglieder ihre Abrechnung eingereicht haben. Auch ist in ihr nicht aufgeführt, wann die Auszahlung der Sitzungsgelder an die Angeklagten sowie die übrigen Aufsichtsratsmitglieder erfolgte und welche Beträge die einzelnen Zahlungsempfänger erhielten.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 28.12.2011 hat die 6. Strafkammer - Wirtschaftsstrafkammer - des Landgerichts die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt.
Eine Verurteilung wegen täterschaftlicher Untreue scheitere daran, dass die Angeklagten in eigenen Vergütungsangelegenheiten - solche lägen vor - gehandelt hätten, so dass sie keine Vermögensbetreuungspflicht treffe. Ohnehin könne jedem Aufsichtsratsmitglied lediglich der Nachteil zugerechnet werden, der an ihn selbst ausgezahlt sei. Es sei deshalb verfehlt, den Angeklagten den gesamten Vermögensschaden in Höhe von 122.850,- Euro zuzurechnen.
Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Teilnahme an einer etwaigen Untreuehandlung des Vorstandes der N AG komme ebenfalls nicht in Betracht. Es fehle an einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat, weil der Untreuetatbestand eine gravierenden Pflichtverletzung des Vorstandes verlange, die nicht anzunehmen sei. Zwar treffe den Vorstand eine aktienrechtliche Pflichtverletzung, diese sei jedoch nicht so gravierend, dass sie den Untreuetatbestand erfülle.
Selbst wenn das Kriterium eines gravierenden aktienrechtlichen Pflichtverstoßes nicht zu verlangen sei, gebiete der konkrete Fall eine normative Einschränkung von § 266 StGB. Denn die Anwendung des Untreuetatbestandes sei von Verfassungs wegen auf evidente Fälle pflichtwidrigen Handelns zu beschränken. An einem evident pflichtwidrigen Handeln fehle es wegen der langjährigen Praxis der rechtswidrigen Verfahrensweise, die 2009 sogar legalisiert worden sei. Zudem sei in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Termine von den Aufsichtsräten im Unternehmensinteresse wahrgenommen worden seien. Wegen der weiteren Gründe des Beschlusses wird auf Bd. IV Bl. 106 ff. verwiesen.
Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft am 3.1.2012 sofortige Beschwerde eingelegt, die sie am 20.1.2012 (Bd. IV Bl. 135 ff.) begründet hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 14.2.2012 (Bd. IV Bl. 148 ff.) die Beschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft teilweise modifiziert. Die Generalstaatsanwaltschaft ist insbesondere der Auffassung, dass nicht von einer, sondern von insgesamt acht Straftaten der Untreue - begangen jeweils im besonders schweren Fall - auszugehen sei.
Die Behörde beantragt deshalb, den Beschluss des Landgerichts Braunschweig aufzuheben und die Anklage mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zuzulassen, dass die Angeklagten der Untreue in acht besonders schweren Fällen hinreichend verdächtig sind.
Die Angeklagten verteidigen mit Schriftsätzen vom 29. und 30.3.2012 die angefochtene Entscheidung. Wegen der Einzelheiten wird auf die genannten Schriftsätze (Bd. IV Bl. 174 ff. und 190 ff.) verwiesen.
Sie haben zudem ein Rechtsgutachten des Universitäts-Professors Dr. H R vom 29.12.2011 vorgelegt, auf dessen Inhalt ebenfalls verwiesen wird.
Aus den Gründen
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist gemäß § 210 Abs. 2 StPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO). Sie hat in der Sache Erfolg.
Das Hauptverfahren ist zu eröffnen (§ 203 StPO), weil eine Verurteilung der Angeklagten wegen acht Straftaten der Untreue gemäß §§ 266 Abs. 1 Var. 2, 53 StGB hinreichend wahrscheinlich ist. Untreue in Gestalt des Treubruchtatbestandes liegt jeweils vor:
1. Dem Aufsichtsrat obliegt gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Aufgabe, den Vorstand bei dessen Geschäftsleitungsmaßnahmen (§ 76 Abs. 1 AktG) zu überwachen. Damit ist notwendig die Pflicht des Aufsichtsratsmitglieds verbunden, den Vorstand der Aktiengesellschaft nicht von sich aus zu einer Handlung zu veranlassen, die dieser nicht vornehmen darf (BGH, Urteil vom 6.12.2001 - 1 StR 215/01, juris, Rn. 55 - Sponsoring = BGHSt 47, 187, 201). Ein solcher Pflichtverstoß ist den Angeklagten vorzuwerfen, weil sie in acht Fällen (jeweils im halbjährlichen Turnus) durch aktives Tun unberechtigt Sitzungsgeld abrechneten.
Dass die Angeklagten - anders als bei der genannten BGH-Entscheidung vom 6.12.2001- nicht direkt auf den nach § 111 Abs.1 AktG zu überwachenden Vorstand, sondern auf die von diesem mit der Vornahme der Auszahlungen betraute Zeugin S eingewirkt haben, steht der Strafbarkeit ihres Verhalten nach § 266 StGB nicht entgegen. Weil § 266 StGB nicht zwingend eine unmittelbare Einwirkung auf den Vorstand voraussetzt (vgl. BGHSt 9, 203 ff, 218), kommt es für die Beurteilung einer Straftat des Aufsichtsratsmitglieds nicht darauf an, ob dieses direkt an den Vorstand herantritt oder ob es - wie hier - eine Angestellte des Unternehmens zu einer rechtswidrigen Zahlung veranlasst.
Im Gegensatz zur Auffassung der Kammer traf die Angeklagten eine Vermögensbetreuungspflicht. Die Kammer weist zwar zutreffend darauf hin, dass Vorstandsmitglieder nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (3. Senat) keine Vermögensbetreuungspflicht verletzten, soweit es um Entscheidungen geht, die ihre eigenen Bezüge betreffen (BGH, Urteil vom 21.12.2005 - 3 StR 470/04, juris, Rn. 80 - Mannesmann). Diese Rechtsprechung beruht darauf, dass die Aktiengesellschaft bei Abschluss der Bezügevereinbarung durch den Aufsichtsrat, dem die Bewertung der Angemessenheit der Vorstandsvergütung obliegt (§ 87 AktG), vertreten wird (§ 112 AktG). Sie trägt zudem der Tatsache Rechnung, dass die Vermögensinteressen von Gesellschaft und Vorstand beim Aushandeln der angemessenen Vergütung nicht gleichgerichtet sind (BGH, a. a. O.).
Der 5. Senat des Bundesgerichtshofs hat unter Hinweis auf das zitierte Urteil des 3. Senats auch bei einem Aufsichtsratsmitglied, das zugleich Arbeitnehmer war, angenommen, dass diesen ausnahmsweise keine Vermögensbetreuungspflicht treffe, wenn dessen eigene Vergütungsangelegenheiten betroffen seien (BGH, Urteil vom 17.9.2009 - 5 StR 521/08, juris, BB 2010, 580, Rn. 84 - Volkswagen). Hintergrund dieser Rechtsprechung ist es, dass sich ein Aufsichtsrat in einem ähnlichen Interessenkonflikt wie ein Vorstand befindet, wenn er für die eigene Tätigkeit (im entschiedenen Fall ging es um jene als Arbeitnehmer in der Funktion als Betriebsrat) eine überhöhte Vergütung aushandelt (Waßmer in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 266, Rn. 49 „Aufsichtsrat").
Wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, besteht im konkreten Fall ein Interessenkonflikt, der die Einschränkung der Vermögensbetreuungspflicht des Aufsichtsrats rechtfertigen könnte, aber gerade nicht: Denn es geht nicht um die beschriebene Konfliktsituation bei dem Aushandeln einer rechtswidrigen Vergütungsvereinbarung, sondern um die rechtswidrige Umsetzung einer in der Satzung (§ 113 AktG) festgesetzten Vergütung. Denn zwischen der N AG und den Angeklagten wurde keine Vergütung ausgehandelt. Dazu gab es wegen des zwingenden Charakters von § 113 AktG (vgl. hierzu: Habersack in Münchner Kommentar, AktG, 3. Aufl., § 113 Rn. 3) auch gar keinen Anlass, weil weder Vorstand noch Aufsichtsrat eine Kompetenz zum Aushandeln einer Vergütung hatten. Beide Organe traf vielmehr allein die Verpflichtung, die vorgegebene Satzung anzuwenden und die rechtswidrigen Auszahlungen deshalb zu unterbinden.
Bei den angeklagten Straftaten ist ferner keine gravierende Pflichtverletzung zu fordern. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat zwar im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Zuwendungen zur Förderung von Kunst, Wissenschaft, Sozialwesen und Sport für die Annahme einer Pflichtwidrigkeit im Sinne des Untreuetatbestandes eine gravierende gesellschaftsrechtliche Pflichtverletzung gefordert (BGH, Urteil vom 6.12.2001 - 1 StR 215/01, juris, Rn. 33 - Sponsoring = BGHSt 47, 187 ff., 197). Und auch bei der Strafbarkeit einer Kreditvergabe durch Entscheidungsträger einer Sparkasse hat derselbe Senat des Bundesgerichtshofs einen gravierenden Verstoß gegen die banküblichen Informations- und Prüfungspflichten verlangt, um den Untreuetatbestand anzuwenden (BGHSt 47, 148, 152). Bei diesen Urteilen geht es jedoch - worauf der 3. Senat (BGH, Urteil vom 21.12.2005 - 3 StR 470/04, juris, Rn. 35, 36 - Mannesmann = BGHSt 50, 331 ff., 344, 345) zutreffend hingewiesen hat - offenkundig darum, dem notwendig weiten Handlungsspielraum Rechnung zu tragen, der einem Entscheidungsträger bei der Bemessung des wirtschaftlichen Nutzens von Unternehmensspenden und dem Kreditausfallrisiko zuzubilligen ist. Der Untreuetatbestand ist deshalb jedenfalls dann nicht durch das Merkmal einer gravierenden Pflichtverletzung einzuschränken, wenn die zu treffende Entscheidung keinen Handlungsspielraum zulässt (BGH, Urteil vom 21.12.2005 - 3 StR 470/04, juris, Rn. 37 f. - Mannesmann = BGHSt 50, 331 ff., 346). Hier lässt die Satzung keinen Handlungsspielraum zu, weil das Sitzungsgeld nach dem klaren Wortlaut von § 14 Abs. 3 allein für die Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats oder seiner Ausschüsse gezahlt wird, nicht aber für die Wahrnehmung sonstiger Termine.
Da die Satzung keinen Handlungsspielraum zulässt und die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht deshalb nach der dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem Satzungsverstoß folgt, gibt es im konkreten Fall des Weiteren keinen Anlass für eine normative Korrektur des Untreuetatbestandes. Es handelt sich um eindeutig unvertretbares Verhalten, bei dem weder dem Vorstand noch den Angeklagten irgendein Ermessen - die Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null im angefochtenen Beschluss (BA S. 13) ist deshalb missverständlich - eingeräumt war. Die von der Kammer herangezogenen Umstände
- langjährige Praxis der rechtswidrigen Verfahrensweise,
- satzungsgemäße Legalisierung im Jahr 2009 und
- Wahrnehmung der Termine im Unternehmensinteresse
sind solche, die keinen Einfluss auf den Tatbestand haben. Diesen Umständen wird allerdings im Rahmen der Strafzumessung, oder ggf. auch der Frage, ob das Verfahren anders als durch Urteil (§ 153 a StPO) abgeschlossen werden kann, in besonderer Weise zu Gunsten der Angeklagten Rechnung getragen werden müssen.
2. Der Kammer kann darüber hinaus nicht darin gefolgt werden, dass den Angeklagten lediglich die Auszahlungen zugerechnet werden könnten, die auf ihren eigenen Abrechnungen beruhten. Ihnen ist gemäß § 13 StGB - diese Vorschrift ist auf den Untreuetatbestand anwendbar (BGH, NJW 2009, 89, S.91 - Siemens) - jeweils neben der an positives Tun anknüpfenden Straftat (eigene Abrechnungen) außerdem vorzuwerfen, dass sie die halbjährlichen Auszahlungen an die weiteren Aufsichtsratsmitglieder nicht verhindert haben. Aufsichtsratsmitglieder haben eine Garantenstellung im Sinne des § 13 StGB (Weigend in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 13 Rn. 41; Tiedermann, Untreue bei Interessenkonflikten in Festschrift Tröndle zum 70. Geburtstag, S. 321).
Erlangt der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Überwachungspflicht Kenntnis von rechtswidrigen Handlungen, dann besteht die Garantenpflicht, zumindest faktisch auf den Vorstand einzuwirken, um den Pflichtverstoß zu verhindern (BGH, Urteil vom 6.12.2001, 1 StR 215/01, juris, Rn. 55 - Sponsoring = BGHSt 47, 187, 201). Kommt das Aufsichtsratsmitglied dieser Pflicht nicht nach, ist der Aufsichtsrat selbst dann Täter, wenn er eine Straftat nur zulässt (BGHSt 9, 203 ff., 217). Die Angeklagten waren deshalb in ihrer Funktion als Aufsichtsratsvorsitzende gehalten, den Aufsichtsrat gemäß § 110 Abs.1 AktG einzuberufen, um einen Beschluss des Aufsichtsrats (§ 108 Abs.1 AktG) zu erwirken, der den Vorstand zur Änderung der rechtswidrigen Vorgehensweise anhält. Soweit sich die Anklage auf Zeiträume bezieht, in denen die Angeklagten nur einfache Aufsichtsratsmitglieder waren, hätten sie - bei Weigerung des Aufsichtsratsvorsitzenden - ihrer Garantenpflicht dadurch nachkommen müssen, dass sie den Aufsichtsrat selbst gemäß § 110 Abs.2 AktG einberufen.
Im konkreten Fall ist davon auszugehen, dass der Vorstand der N AG die Zahlungen an die übrigen Aufsichtsräte bereits eingestellt hätte, wenn der Aufsichtsrat durch Beschluss unter Hinweis auf die Satzungsbestimmung Bedenken gegen diese vorgebracht hätte. Weil der Vorstand kein eigenes Interesse an den Zahlungen hatte, gab es keinen Grund, die Zuwendungen an den Aufsichtsrat gegen dessen Willen durchzusetzen.
Notfalls wäre der Aufsichtsrat zudem - zur Vermeidung eines durch Unterlassen bewirkten Treubruchs i. S. d. § 266 Abs. 1 Var. 2 StGB (vgl. hierzu: Brammsen, Aufsichtsratsuntreue, ZIP 2009, 1504 ff., 1510) - verpflichtet gewesen, die satzungswidrigen Zahlungen gemäß § 111 Abs.4 S.2 AktG durch ad hoc Vorbehalt von seiner Zustimmung abhängig zu machen und zu verhindern (vgl. Habersack in Münchner Kommentar, AktG, 3. Aufl., § 111 Rn. 115; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, AktG, § 111 Rn.75).
Die Angeklagten können sich nicht darauf berufen, dass bei einer Aufsichtsratssitzung die erforderliche Stimmenmehrheit (zum Erfordernis einfacher Stimmenmehrheit: Habersack in Münchner Kommentar, AktG, 3. Aufl., § 108 Rn. 20) nicht zustande gekommen wäre. Kann eine zur Schadensabwendung gebotene Maßnahme nur durch Zusammenwirken mehrerer Beteiligter bewirkt werden, so setzt jeder, der seinen Beitrag trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterlässt, die erforderliche Ursache für den Erfolg. Von der strafrechtlichen Mitverantwortung wird der Unterlassende nur befreit, wenn er alles Mögliche und Zumutbare getan hat, um die notwendige Kollegialentscheidung herbeizuführen (BGHSt 37, 106 ff, 131); daran fehlt es.
3. Durch das Verhalten der Angeklagten ist der N AG ein Nachteil i. S. d. § 266 StGB entstanden. Bei der Bestimmung des Vermögensnachteils ist es ohne Bedeutung, ob die Termine, die die Angeklagten wahrgenommen haben, tatsächlich im Unternehmensinteresse lagen. Entscheidend ist allein, dass die Angeklagten die Termine im Zeitpunkt der satzungswidrigen Zahlungen bereits wahrgenommen hatten. Weil die Zahlungen der N AG keinen zukunftsbezogenen Nutzen mehr bringen konnten, handelt es sich der Sache nach um kompensationslose Anerkenntnisprämien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als treupflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens zu bewerten sind; solche Anerkenntnisprämien sind unabhängig von der Angemessenheit der Zahlungen zulässig (BGH, Urteil vom 21.12.2005 - 3 StR 470/04, juris, Rn. 19 - Mannesmann)
Die Angeklagten können sich nicht damit entlasten, dass von ihnen ein Nachteil der N AG nicht herbeigeführt wäre, weil sie jederzeit ausgleichsbereit gewesen seien. Ein Vermögensnachteil i. S. d. § 266 StGB scheidet zwar grundsätzlich aus, wenn der Täter eigene flüssige Mittel ständig zum Ersatz bereit hält (Waßmer in Graf/Jäger/Wittig, § 266 StGB Rn. 179 m. w. N.; a. A.: Fischer, StGB, 59. Aufl., § 266 Rn. 169). Im konkreten Fall ist indes - im Gegensatz zu den üblicherweise unter diesem Gesichtspunkt diskutierten Fällen - schlechterdings kein Motiv erkennbar, weshalb die Angeklagten die Zahlungen an sich selbst überhaupt durch ihre eigenen Abrechnungen hätten veranlassen sollen, wenn sie sie tatsächlich wieder hätten ausgleichen wollen. Soweit es die Unterlassungsvorwürfe im Zusammenhang mit den Zahlungen an die übrigen Aufsichtsratsmitglieder betrifft, können sich die Angeklagten ohnehin nicht auf ihre eigene Ausgleichsbereitschaft stützen und bringen eine solche auch gar nicht vor.
4. Die Eröffnung des Hauptverfahrens scheitert darüber hinaus nicht am subjektiven Tatbestand.
Die Angeklagten befanden sich - trotz der tatsächlich seit Jahren abweichenden Praxis - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht in einem den Vorsatz (§ 15 StGB) ausschließenden Irrtum über die Berechtigung der Auszahlungen. Denn ein Aufsichtsratsmitglied kennt - davon geht der Senat aus - die Satzung der Aktiengesellschaft, weil diese die grundlegenden Regelungen für die Aufsichtsratstätigkeit enthält. Der deshalb den Angeklagten voraussichtlich bekannte Wortlaut in § 14 Abs. 3 des Gesellschaftsvertrags stellt auch für den juristischen Laien deutlich heraus, dass Sitzungsgelder lediglich für die Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats oder seiner Ausschüsse gezahlt werden und beispielsweise nicht für die Teilnahme an Grundsteinlegungen.
Sollten sie in Kenntnis des durch die Zahlungen für die N AG herbeigeführten Nachteils dennoch gemeint haben, die N AG sei entgegen der Satzung zur Auszahlung berechtigt, wäre ein solcher Irrtum über einen nicht existenten Erlaubnissatz als Verbotsirrtum (§ 17 StGB) einzuordnen (vgl. hierzu: BGH, Urteil vom 21.12.2005, 3 StR 470/04, juris, Rn. 85 - Mannesmann). Weil die Annahme, die Angeklagten seien ständig ausgleichbereit, fern liegt, steht dieses Kriterium dem Schädigungsvorsatz mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht entgegen.
Soweit es die Unterlassungsdelikte (§§ 266 Abs. 1 Var. 2, 13, 53 StGB) betrifft, begegnet die erforderliche Kenntnis des Umstandes, der die Garantenstellung begründet (die Aufsichtsratsmitgliedschaft), keinen Bedenken. Ein etwaiger Irrtum über die Verpflichtung der Angeklagten, durch Herbeiführung eines Aufsichtsratsbeschlusses die Auszahlungen an die übrigen Aufsichtsratsmitglieder zu verhindern, würde als Gebotsirrtum i. S. d. § 17 StGB den Vorsatz nicht ausschließen (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 16 Rn. 17).
5. Durch die halbjährlichen Abrechnungen haben die Angeklagten jeweils acht gesonderte Straftaten gemäß §§ 266 Abs. 1 Var. 2, 53 StGB durch positives Tun begangen. Weil die Abrechnungen der übrigen Aufsichtsratsmitglieder nach der - insoweit zweifellos vorhandenen Kenntnis der Angeklagten - ebenfalls jeweils halbjährlich erfolgten, ist der Senat der Auffassung, dass sich die Verpflichtung der Angeklagten, auf den Vorstand der N AG einzuwirken, in diesem Turnus aktualisierte. Es ergeben sich daher weitere acht Unterlassungsstraftaten gemäß §§ 266 Abs. 1 Var. 2, 1 , 53 StGB, durch die die Auszahlung an die übrigen Aufsichtsratsmitglieder bewirkt wurde.
Da die für § 266 Abs. 1 Var. 2 StGB maßgeblichen Taterfolge (die halbjährlichen Auszahlungen an sämtliche übrige Aufsichtsratsmitglieder) durch jeweils ein Unterlassen der Angeklagten bewirkt wurden, ist in jedem halbjährlichen Abrechnungsturnus indes nicht von einer Vielzahl tatmehrheitlicher Unterlassungsstraftaten, sondern insoweit von (gleichartiger) Unterlassungseinheit (§ 52 Abs. 1 Var. 2 StGB) auszugehen (vgl. Rissing van Saan in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 52 Rn. 13; Stree/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., Rn. 28 vor § 52).
In Übereinstimmung mit der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft geht der Senat darüber hinaus in jedem Abrechnungszeitraum von Tateinheit (§ 52 Abs. 1 Var. 2 StGB) aus, soweit es das Konkurrenzverhältnis von Begehungsdelikt (eigene (Abrechnungen) und Unterlassungsdelikt (halbjährliche Abrechnungen der übrigen Aufsichtsräte) betrifft. Die Abgrenzung von Tateinheit und Tatmehrheit ist beim Zusammentreffen von Begehungs- und Unterlassungsdelikten zwar in ihren Einzelheiten umstritten (zur Problematik: Rissing van Saan in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 52 Rn. 14 ff.). Die Annahme von Tateinheit ist aber nach der Rechtsprechung des BGH zulässig (BGHSt 37, 106 ff., 135) und im konkreten Fall nach Meinung des Senats geboten. Denn der Verstoß gegen die Garantenpflicht (Nichteinberufung des Aufsichtsrats zur gebotenen Beschlussfassung) beim fremdnützigen Unterlassungsdelikt diente jedenfalls auch dazu, das Begehungsdelikt (eigennützige Abrechnungen) zu ermöglichen.
6. Die Taten sind nicht verjährt. Die Verjährung wurde hinsichtlich sämtlicher Taten jedenfalls durch die Anordnung der Bekanntgabe im Wege der Akteneinsicht an die Verteidiger (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 78 c Rn. 9) vom 1.12.2010 (Bd. I BI. 85) wirksam unterbrochen. Zu diesem Zeitpunkt war das ursprünglich hur die Geschäftsjahre 2007/2008 und 2008/2009 betreffende Verfahren schon auf die Geschäftsjahre 2005/2006 und 2006/2007 erweitert worden (Bd. I BI. 66 f.).
7. Die Anklagschrift erfüllt ihre Umgrenzungsfunktion und ist deshalb wirksame Prozessvoraussetzung. Die prozessuale Tat ist hinreichend umschrieben (zu diesem Erfordernis; Schneider in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 200 Rn. 34), weil dem zitierten Anklagesatz - immerhin unter Angabe des Gesamtschadens von 122.850,- Euro - zu entnehmen ist, dass sich die Anklage auf die eigenen Abrechnungen der Angeklagten und - soweit es die jeweiligen Unterlassungsvorwürfe betrifft - jene der übrigen Aufsichtsräte für die Zeiträume 07/2005 bis 02/2009 bezieht. Bei der abweichenden Bewertung des Senats, wonach von acht tatmehrheitlich begangenen Straftaten auszugehen ist, handelt es sich lediglich um eine andere juristische Würdigung i. S. d. § 207 Abs. 2 Nr. 3 StPO.
Dass die Angeklagten in der Anklageschrift nicht davon in Kenntnis gesetzt werden, wann die Auszahlung der Sitzungsgelder an sie sowie die übrigen Aufsichtsratsmitglieder erfolgte, welche konkreten Abrechnungen dem zugrunde lagen und welche Beträge die einzelnen Zahlungsempfänger erhielten, beeinträchtigt nur die Informationsfunktion der Anklage. Mängel der Informationsfunktion hindern die Eröffnung indes nicht (vgl. Schneider in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 200 Rn. 34). Die Kammer wird die Information der Angeklagten allerdings noch nachholen müssen.
Das Hauptverfahren ist vor dem Landgericht Braunschweig - Wirtschaftsstrafkarhmer - zu eröffnen.
1. Weil die Kammer zwar den hinreichenden Tatverdacht abweichend gewürdigt hat, eine Festlegung oder Voreingenommenheit (zu diesen Kriterien: OLG Frankfurt; Beschluss vom 17.12.2010 - 1 Ws 29/09, juris, Rn.90; Schneider in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. § 210 Rn. 12) jedoch nicht erkennbar ist, gibt es keinen Anlass, die Hauptverhandlung gemäß § 210 Abs. 3 S. 1 SPO vor einem anderen Spruchkörper durchzuführen.
2. Das Verfahren ist nicht gemäß § 209 Abs. 1 StPO vor dem Amtsgericht zu eröffnen. Zwar rechtfertigt die wegen der unter Ziffer II aE genannten Strafmilderungsgründe geringe Straferwartung keine Eröffnung vor der Kammer gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 GVG. Vielmehr besteht vor dem Hintergrund der Strafmilderungsgründe selbst bei Annahme einer gewerbsmäßigen Begehungsweise (auch wegen der zügigen Rückzahlung der nach den eigenen Abrechnungen erhaltenen Beträge) Anlass zur Prüfung, ob die Indizwirkung von §§ 266 Abs. 2, 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Var. 1 StGB kompensiert und die Strafe dem unteren Bereich des Regelstrafrahmens zu entnehmen ist. Ein Vermögensverlust großen Ausmaßes i. S. d. §§ 266 Abs. 2, 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB ist vorliegend ohnehin nicht geeignet, eine höhere Straferwartung zu begründen, weil die Voraussetzungen dieses Regelbeispiels bei Annahme von acht Straftaten nicht gegeben sind.
Die Staatsanwaltschaft hat jedoch zutreffend wegen des besonderen Umfangs des Verfahrens (§§ 74 Abs.1 S. 2, 24 Abs. 1 Nr. 3 Var. 2 GVG) Anklage zum Landgedicht erhoben. Diese Bewertung ist gerechtfertigt, weil bei der anstehenden Beweisaufnahme nicht nur die Umstände der eigenen Abrechnungen der Angeklagten aufgeklärt werden müssen, sondern wegen des Unterlassungsvorwurfs auch konkrete Feststellungen zu den einzelnen Abrechnungen der übrigen Aufsichtsräte zu treffen sind. Der besondere Umfang des Verfahrens gebietet es, die Hauptverhandlung in voller Kammerbesetzung durchzuführen (§ 76 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 GVG).
Weil zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind, ist die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer gegeben (§ 74 c Abs. 1 Nr. 6 a GVG). Solche Kenntnisse sind unerlässlich, beispielsweise bei der für die Strafzumessung bedeutsamen Frage, ob die Wahrnehmung der konkreten Termine im Unternehmensinteresse lag.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10.11.2011 - 2 Ws 281/11, juris, Rn.27 m. w. N.).