EuGH: Unternehmensbegriff und Mutter- und Tochtergesellschaft als Gesamtschuldner
EuGH, Urteil vom 13.2.2025 – C-393/23, Athenian Brewery SA, Heineken NV gegen Macedonian Thrace Brewery SA
ECLI:EU:C:2025:85
Volltext: BB-Online BBL2025-449-2
unter www.betriebs-berater.de
Tenor
Art. 8 Nr. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er nicht dem entgegensteht, dass im Fall von Klagen auf Verurteilung einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft als Gesamtschuldner zum Ersatz des Schadens, der durch eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln durch die Tochtergesellschaft entstanden ist, das mit diesen Klagen befasste Gericht am Niederlassungsort der Muttergesellschaft sich für die Feststellung seiner internationalen Zuständigkeit auf die Vermutung stützt, dass eine Muttergesellschaft, die unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital einer Tochtergesellschaft hält, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln begangen hat, einen bestimmenden Einfluss auf diese Tochtergesellschaft ausübt, sofern den Beklagten nicht die Möglichkeit genommen wird, sich auf beweiskräftige Indizien zu berufen, die darauf hindeuten, dass entweder die Muttergesellschaft nicht unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hielt oder diese Vermutung gleichwohl nicht gelten kann.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Athenian Brewery SA (im Folgenden: AB) und der Heineken NV einerseits und der Macedonian Thrace Brewery SA (im Folgenden: MTB) andererseits betreffend eine Klage auf gesamtschuldnerische Haftung von AB und Heineken für den Ersatz des Schadens, den MTB wegen einer Zuwiderhandlung von AB gegen Art. 102 AEUV und gegen Art. 2 des Nomos 3959/2011 Prostasia tou eleutherou antagonismou (Gesetz 3959 über den Schutz des Wettbewerbs) vom 20. April 2011 (FEK A’ 93) erlitten hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EG) Nr. 1/2003
3 Art. 5 („Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) sieht vor:
„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] in Einzelfällen zuständig. …“
4 Art. 16 („Einheitliche Anwendung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:
„Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel [101] oder [102 AEUV] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der [Europäischen] Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen. Sie müssen es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck kann das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das vor ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel [267 AEUV].“
5 Gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 oder Art. 102 AEUV verstoßen.
Verordnung Nr. 1215/2012
6 In den Erwägungsgründen 15, 16 und 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 wird ausgeführt:
„(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.
(16) Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. Das Erfordernis der engen Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. …
…
(21) Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in verschiedenen Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. Es sollte eine klare und wirksame Regelung zur Klärung von Fragen der Rechtshängigkeit und der im Zusammenhang stehenden Verfahren sowie zur Verhinderung von Problemen vorgesehen werden, die sich aus der einzelstaatlich unterschiedlichen Festlegung des Zeitpunkts ergeben, von dem an ein Verfahren als rechtshängig gilt. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte dieser Zeitpunkt autonom festgelegt werden.“
7 In Kapitel II Abschnitt 1 („Allgemeine Bestimmungen“) der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt Art. 4 Abs. 1:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“
8 Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012, der zum selben Abschnitt gehört, sieht vor:
„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“
9 In Kapitel II Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) bestimmt Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann auch verklagt werden:
1. wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten;
…“
Richtlinie 2014/104/EU
10 Art. 9 („Wirkung nationaler Entscheidungen“) der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1) bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz nach Artikel 101 oder 102 AEUV oder nach nationalem Wettbewerbsrecht vor einem ihrer nationalen Gerichte als unwiderlegbar festgestellt gilt.
(2) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine bestandskräftige Entscheidung nach Absatz 1, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen ist, gemäß ihrem jeweiligen nationalen Recht vor ihren nationalen Gerichten zumindest als Anscheinsbeweis dafür vorgelegt werden kann, dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen wurde, und gegebenenfalls zusammen mit allen anderen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln geprüft werden kann.
(3) Dieser Artikel lässt die Rechte und Pflichten nationaler Gerichte nach Artikel 267 AEUV unberührt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 AB und MTB sind auf dem griechischen Biermarkt tätige Brauereien mit Sitz in Griechenland. AB gehört zum Heineken-Konzern, dessen Muttergesellschaft Heineken ihren Sitz in Amsterdam (Niederlande) hat. Heineken legt die Strategie und die Ziele des Konzerns fest. Sie selbst übt jedoch in Griechenland keine operativen Tätigkeiten aus. Von September 1998 bis zum 14. September 2014 hielt Heineken mittelbar etwa 98,8 % der Anteile am Kapital von AB.
12 Mit Entscheidung vom 19. September 2014 stellte die Epitropi Antagonismou (Wettbewerbskommission, Griechenland) fest, dass AB im in der vorstehenden Randnummer genannten Zeitraum ihre beherrschende Stellung auf dem griechischen Biermarkt missbraucht habe und dass dieses Verhalten als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV und Art. 2 des Gesetzes 3959 über den Schutz des Wettbewerbs einzustufen sei. Obwohl MTB die Wettbewerbskommission ersucht hatte, Heineken in die Untersuchung einzubeziehen, führte die Wettbewerbskommission in dieser Entscheidung u. a. aus, dass es keinen Anhaltspunkt dafür gebe, dass Heineken unmittelbar an den festgestellten Zuwiderhandlungen beteiligt gewesen sei, und dass die konkreten Umstände nicht darauf hätten schließen lassen, dass Heineken einen bestimmenden Einfluss auf AB ausgeübt habe. Die Wettbewerbskommission äußerte sich in der Entscheidung nicht zu der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten widerlegbaren Vermutung, dass eine Muttergesellschaft in dem besonderen Fall, dass sie unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln begangen hat, tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausübt und in gleicher Weise wie diese für die Zuwiderhandlung haftbar gemacht werden kann (im Folgenden: Vermutung des bestimmenden Einflusses und der Haftung der Muttergesellschaft).
13 MTB erhob bei der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) Klage auf Feststellung, dass Heineken und AB für die – in der vorstehenden Randnummer genannte – Zuwiderhandlung gesamtschuldnerisch haften, und folglich darauf, Heineken und AB als Gesamtschuldner zum Ersatz des MTB durch diese Zuwiderhandlung entstandenen Schadens zu verurteilen. AB und Heineken beantragten ihrerseits u. a., dass sich die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) für die Klage gegen AB für unzuständig erklärt. Die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) erklärte sich gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 für zuständig, um über die Klage gegen Heineken zu entscheiden, da Heineken ihren Sitz in Amsterdam habe. Dem Antrag von AB und Heineken auf Unzuständigerklärung gab sie dagegen statt und verneinte ihre Zuständigkeit in Bezug auf AB mit der Begründung, dass zwischen der Klage gegen Heineken und der Klage gegen AB keine „so enge Beziehung“ im Sinne von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestehe, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erschienen sei, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.
14 Der mit der Berufung befasste Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) hob die Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) auf, wies den inzidenten Antrag von AB und Heineken zurück und verwies die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung in der Sache an das genannte Gericht zurück. Das Berufungsgericht war im Wesentlichen der Ansicht, dass sich diese Gesellschaften in derselben tatsächlichen Lage befänden und dass nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass sie ein und dasselbe Unternehmen bildeten.
15 AB und Heineken legten Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), dem vorlegenden Gericht, ein.
16 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich die bei ihm anhängige Rechtssache von derjenigen unterscheide, die Gegenstand des Urteils vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide (C‑352/13, EU:C:2015:335), gewesen sei, in dem der Gerichtshof u. a. entschieden habe, dass zwischen Klagen gegen Unternehmen, die sich örtlich und zeitlich unterschiedlich an einem in einem Beschluss der Kommission festgestellten einheitlichen und fortgesetzten Verstoß gegen das unionsrechtliche Kartellverbot beteiligt hätten, eine „so enge Beziehung“ gegeben sei, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheine. Im vorliegenden Fall sei die Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln aber nicht durch einen Beschluss der Kommission, sondern durch die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, nämlich der Wettbewerbskommission, festgestellt worden. Darüber hinaus stehe fest, dass Heineken selbst keine operationellen Tätigkeiten auf dem griechischen Markt für Bier ausgeübt habe und die gegen Heineken erhobene Klage von MTB ausschließlich auf den bestimmenden Einfluss gestützt gewesen sei, den Heineken auf das Verhalten von AB ausgeübt haben solle. Bestreite der Beklagte wie im vorliegenden Fall substantiiert, dass er einen bestimmenden Einfluss ausgeübt habe, stelle sich die Frage, ob es gemäß dem vom Gerichtshof in den Urteilen vom 28. Januar 2015, Kolassa (C‑375/13, EU:C:2015:37), und vom 16. Juni 2016, Universal Music International Holding (C‑12/15, EU:C:2016:449), festgelegten Maßstab möglich sei, sich auf die Vermutung des bestimmenden Einflusses und der Haftung der Muttergesellschaft zu berufen, so dass das angerufene Gericht seine Zuständigkeit für die Entscheidung der Rechtssache bejahen müsse, es sei denn, die betroffene Muttergesellschaft widerlege die Vermutung ohne umfassendes Beweisverfahren.
17 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Muss das Gericht am Niederlassungsort der Muttergesellschaft in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bei der Prüfung seiner Zuständigkeit gemäß Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 hinsichtlich der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft im Rahmen des in dieser Bestimmung vorgesehenen Erfordernisses einer engen Beziehung die im materiellen Wettbewerbsrecht anerkannte Vermutung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Tochtergesellschaft, die Gegenstand des Rechtsstreits ist, zugrunde legen?
2. Bei Bejahung der ersten Frage: Wie ist dann in diesem Zusammenhang der in den Urteilen vom 28. Januar 2015, Kolassa (C‑375/13, EU:C:2015:37), und vom 16. Juni 2016, Universal Music International Holding (C‑12/15, EU:C:2016:449), formulierte Maßstab zu konkretisieren? Reicht es in diesem Fall bei Bestreiten eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Tochtergesellschaft für die Annahme der Zuständigkeit nach Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 hinsichtlich dieser Tochtergesellschaft aus, dass nicht im Voraus als ausgeschlossen angesehen werden kann, dass ein solcher bestimmender Einfluss vorlag?
Zu den Vorlagefragen
18 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er nicht dem entgegensteht, dass im Fall von Klagen auf Verurteilung einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft als Gesamtschuldner zum Ersatz des Schadens, der durch eine von der Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln entstanden ist, das mit diesen Klagen befasste Gericht am Niederlassungsort der Muttergesellschaft sich für die Feststellung seiner internationalen Zuständigkeit ausschließlich auf die Vermutung stützt, dass eine Muttergesellschaft, die unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital einer Tochtergesellschaft hält, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln begangen hat, einen bestimmenden Einfluss auf diese Tochtergesellschaft ausübt.
19 Nach Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, auch vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine „so enge Beziehung“ gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.
20 Der Zweck der Zuständigkeitsvorschrift von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 entspricht gemäß deren Erwägungsgründen 16 und 21 dem Anliegen, eine geordnete Rechtspflege zu fördern, Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden und zu vermeiden, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten widersprechende Entscheidungen ergehen (Urteil vom 7. September 2023, Beverage City Polska, C‑832/21, EU:C:2023:635, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Diese besondere Zuständigkeitsvorschrift ist, da mit ihr von der Grundregel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten in Art. 4 der Verordnung Nr. 1215/2012 abgewichen wird, eng und nicht über die in dieser Verordnung ausdrücklich vorgesehenen Fälle hinaus auszulegen (Urteil vom 7. September 2023, Beverage City Polska, C‑832/21, EU:C:2023:635, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Daraus folgt, dass für die Anwendung von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 zu prüfen ist, ob zwischen den verschiedenen Klagen desselben Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang besteht, der eine gemeinsame Entscheidung geboten erscheinen lässt, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten. Dabei können Entscheidungen nicht schon deswegen als einander widersprechend betrachtet werden, weil es zu einer abweichenden Entscheidung des Rechtsstreits kommt, sondern diese Abweichung muss außerdem bei derselben Sach- und Rechtslage auftreten (Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide, C‑352/13, EU:C:2015:335, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass die in Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 aufgestellte Regel nicht so ausgelegt werden kann, dass danach ein Kläger eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck erheben könnte, einen von ihnen der Gerichtsbarkeit seines Wohnsitzstaats zu entziehen, und er damit die in dieser Bestimmung enthaltene Zuständigkeitsvorschrift zweckentfremden könnte, indem er die Voraussetzungen für ihre Anwendung künstlich herbeiführt oder aufrechterhält (Urteil vom 7. September 2023, Beverage City Polska, C‑832/21, EU:C:2023:635, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass es ausgeschlossen ist, dass ein Kläger eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck erhoben hätte, einen von ihnen der Gerichtsbarkeit seines Wohnsitzstaats zu entziehen, wenn zwischen den Klageansprüchen gegen die einzelnen Beklagten bei ihrer Erhebung eine enge Verbindung besteht, d. h., wenn eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (vgl. entsprechend Urteile vom 11. Oktober 2007, Freeport, C‑98/06, EU:C:2007:595, Rn. 54; vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide, C‑352/13, EU:C:2015:335, Rn. 28, sowie vom 7. September 2023, Beverage City Polska, C‑832/21, EU:C:2023:635, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Er hat daraus geschlossen, dass das Gericht, das mit Klagen befasst wird, die bei ihrer Erhebung im Sinne von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), der Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 entspricht, im Zusammenhang stehen, eine etwaige Zweckentfremdung der darin vorgesehenen Zuständigkeitsregel nur dann feststellen kann, wenn beweiskräftige Indizien vorliegen, die den Schluss zulassen, dass der Kläger die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung künstlich herbeigeführt oder aufrechterhalten hat (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide, C‑352/13, EU:C:2015:335, Rn. 29).
25 Daher ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller erheblichen Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache zu beurteilen, ob hinsichtlich der Klageansprüche gegen die verschiedenen Beklagten dieselbe Rechts- und Sachlage vorliegt, und sich zu vergewissern, dass die Klageansprüche, die gegen den einzigen der Mitbeklagten gerichtet sind, dessen Wohnsitz die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts begründet, nicht bezwecken, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 künstlich zu erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2023, Beverage City Polska, C‑832/21, EU:C:2023:635, Rn. 42 und 45). Der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht jedoch Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die für diese Beurteilung von Nutzen sind.
26 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die Voraussetzung, dass es sich um dieselbe Sach- und Rechtslage handeln muss, als erfüllt zu betrachten ist, wenn gegen mehrere Unternehmen, die sich an einer in einem Beschluss der Kommission festgestellten einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln beteiligt haben, als Beklagte Klagen erhoben werden, die auf ihre Beteiligung an dieser Zuwiderhandlung gestützt werden, obwohl die Beklagten des Ausgangsverfahrens sowohl räumlich als auch zeitlich unterschiedlich an der Umsetzung des in Rede stehenden Kartells beteiligt waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide, C‑352/13, EU:C:2015:335, Rn. 21).
27 Wie die Generalanwältin in Nr. 40 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, gilt die gleiche Feststellung auch für Klagen, die auf die Beteiligung einer Gesellschaft an einer Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln gestützt werden, die gegen diese Gesellschaft sowie gegen ihre Muttergesellschaft gerichtet sind und in deren Rahmen vorgebracht wird, dass diese Gesellschaften zusammen ein und dasselbe Unternehmen bildeten.
28 Das Wettbewerbsrecht der Union betrifft nämlich nach ständiger Rechtsprechung die Tätigkeit von Unternehmen, so dass es mit Blick auf den persönlichen Charakter der Haftung für Schäden, die sich aus Zuwiderhandlungen gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln ergeben, dem Unternehmen, das gegen diese Regeln verstößt, obliegt, für den Schaden zu haften, der durch die Zuwiderhandlung verursacht wurde (Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 30 und 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Wenn erwiesen ist, dass eine Gesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein einziges Unternehmen im Sinne der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln bilden, ist es somit das Bestehen dieser wirtschaftlichen Einheit, die die Zuwiderhandlung begangen hat, das für die Haftung der einen oder der anderen Gesellschaft, aus der das Unternehmen besteht, für das wettbewerbswidrige Verhalten des Unternehmens ausschlaggebend ist. Insoweit führen der Begriff „Unternehmen“ und damit der Begriff „wirtschaftliche Einheit“ von Rechts wegen zu einer gesamtschuldnerischen Haftung der Einheiten, die zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung die wirtschaftliche Einheit bilden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 43 und 44).
30 Insoweit steht der Umstand, dass – wie im vorliegenden Fall – die gesamtschuldnerische Haftung der Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft für die Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln nicht in einem bestandskräftigen Beschluss der Kommission festgestellt wurde, der Anwendung von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 auf solche Klagen nicht entgegen.
31 Vielmehr besteht, wie die Generalanwältin in Nr. 56 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, gerade in einem solchen Fall die Gefahr, dass im Rahmen derselben Sach- und Rechtslage widersprüchliche Entscheidungen ergehen. Wie sich aus dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt, soll mit Art. 8 Nr. 1 dieser Verordnung eine solche Gefahr aber gerade vermieden werden.
32 Bestandskräftige Entscheidungen der Kommission über eine Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln sind nämlich nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 für jedes Gericht eines Mitgliedstaats verbindlich, das über dieselbe Zuwiderhandlung entscheidet. Dagegen haben die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 zwar zu gewährleisten, dass ihre nationalen Gerichte allein an bestandskräftige Entscheidungen ihrer eigenen Wettbewerbsbehörden über eine solche Zuwiderhandlung gebunden sind, doch sieht Art. 9 Abs. 2 in Bezug auf entsprechende Entscheidungen einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats lediglich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, zu gewährleisten, dass solche Entscheidungen vor ihren nationalen Gerichten als Anscheinsbeweis für die Zuwiderhandlung vorgelegt werden können.
33 Die Auslegung von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 in dem Sinne, dass diese Bestimmung auch auf Klagen anwendbar ist, die sowohl gegen eine Muttergesellschaft als auch gegen deren Tochtergesellschaft, mit der die Muttergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bildet, erhoben werden und die auf die Beteiligung der Tochtergesellschaft an einer Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln gestützt werden, steht im Einklang mit den in den Erwägungsgründen 15 und 16 dieser Verordnung genannten Zielen der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften und dem darin genannten Grundsatz der Rechtssicherheit.
34 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit u. a., dass die besonderen Zuständigkeitsregeln so ausgelegt werden, dass ein informierter, verständiger Beklagter vorhersehen kann, vor welchem Gericht er außerhalb seines Wohnsitzstaats verklagt werden könnte (Urteil vom 13. Juli 2006, Reisch Montage, C‑103/05, EU:C:2006:471, Rn. 25).
35 Dies ist bei einer Muttergesellschaft und ihrer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft der Fall. In Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils kann nämlich jede dieser beiden Gesellschaften vernünftigerweise damit rechnen, dass sie wegen der von einer von ihnen begangenen Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln vor den Gerichten des Mitgliedstaats des Niederlassungsorts der anderen Gesellschaft verklagt werden kann.
36 Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, welche Auswirkungen es auf die etwaige Anwendung von Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 hat, dass sich zum einen ein Kläger zur Stützung seiner Klageansprüche gegen eine an einer Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln beteiligte Gesellschaft sowie gegen die Gesellschaft, die das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital der erstgenannten Gesellschaft hält, auf die Vermutung des bestimmenden Einflusses und der Haftung der Muttergesellschaft beruft und dass zum anderen die zweitgenannte Gesellschaft bestreitet, einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausgeübt und mit dieser eine wirtschaftliche Einheit gebildet zu haben.
37 In diesem Zusammenhang ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung in dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen hat, eine widerlegbare Vermutung besteht, nämlich die Vermutung des bestimmenden Einflusses und der Haftung der Muttergesellschaft, wonach die genannte Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt (Urteil vom 26. Oktober 2017, Global Steel Wire u. a./Kommission, C‑457/16 P und C‑459/16 P bis C‑461/16 P, EU:C:2017:819, Rn. 84 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Diese Vermutung wurde im Rahmen der Anfechtung derjenigen Beschlüsse der Kommission durch die betroffenen Unternehmen entwickelt, mit denen deren Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln festgestellt und ihnen Geldbußen nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 auferlegt wurden. In diesem Kontext hat der Gerichtshof klargestellt, dass es genügt, dass die Kommission nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, so dass vermutet werden kann, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieser Tochtergesellschaft ausübt. Die Kommission kann in der Folge die Muttergesellschaft als Gesamtschuldnerin auf Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße in Anspruch nehmen, sofern die Muttergesellschaft, der es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, keine ausreichenden Beweise dafür erbringt, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt (Urteil vom 26. Oktober 2017, Global Steel Wire u. a./Kommission, C‑457/16 P und C‑459/16 P bis C‑461/16 P, EU:C:2017:819, Rn. 84 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Obwohl die Vermutung des bestimmenden Einflusses und der Haftung der Muttergesellschaft im Rahmen der Anfechtung von Beschlüssen der Kommission nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 entwickelt wurde, kann sie auch im Fall einer Klage einer natürlichen oder juristischen Person, die behauptet, aufgrund der Beteiligung einer Gesellschaft an einer Zuwiderhandlung gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln einen Schaden erlitten zu haben, gelten, die gegen eine andere Gesellschaft gerichtet ist, die das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital der erstgenannten Gesellschaft hält.
40 Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Begriff „Unternehmen“ im Sinne der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln, der einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt, im Zusammenhang mit der Verhängung von Geldbußen durch die Kommission nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 keine andere Bedeutung als bei Schadensersatzansprüchen wegen Verstoßes gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln haben kann (Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 38).
41 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass das angerufene Gericht im Stadium der Prüfung der internationalen Zuständigkeit weder die Zulässigkeit noch die Begründetheit der Klage prüft, sondern nur die Anknüpfungspunkte zum Staat des Gerichtsstands herausstellt, die seine Zuständigkeit nach Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 begründen.
42 Trotzdem und auch wenn die Verordnung Nr. 1215/2012 nicht ausdrücklich den Umfang der Kontrollpflichten der nationalen Gerichte bei der Prüfung ihrer internationalen Zuständigkeit regelt, da es sich dabei um einen Aspekt des innerstaatlichen Verfahrensrechts handelt, den diese Verordnung nicht vereinheitlichen soll, hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass die Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Verfahrensrechts die praktische Wirksamkeit der Verordnung nicht beeinträchtigen darf. Auch wenn das Ziel der Rechtssicherheit erfordert, dass das angerufene nationale Gericht in der Lage ist, ohne Schwierigkeiten über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden, ohne in eine Sachprüfung eintreten zu müssen, bärge die Verpflichtung, bereits in diesem Verfahrensstadium ein umfassendes Beweisverfahren zu den sowohl für die Zuständigkeit als auch für die Entscheidung in der Sache relevanten Tatsachen durchzuführen, die Gefahr, der Begründetheitsprüfung vorzugreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2015, Kolassa, C‑375/13, EU:C:2015:37, Rn. 61 bis 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Darüber hinaus hat der Gerichtshof klargestellt, dass sowohl das Ziel einer geordneten Rechtspflege als auch die gebotene Achtung der Autonomie des Richters bei Ausübung seines Amtes erfordern, dass das angerufene Gericht seine internationale Zuständigkeit im Licht aller ihm vorliegenden Informationen prüfen kann, wozu gegebenenfalls auch die vom Beklagten zur Verfügung gestellten Informationen gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Januar 2015, Kolassa, C‑375/13, EU:C:2015:37, Rn. 64, und vom 16. Juni 2016, Universal Music International Holding, C‑12/15, EU:C:2016:449, Rn. 45).
44 Was insoweit das Bestehen eines Zusammenhangs betrifft, werden die Informationen relevant sein, mit denen nachgewiesen werden soll, dass die Klage tatsächlich dieselbe Sach- und gegebenenfalls Rechtslage zum Gegenstand hat. Daher kann das angerufene Gericht für die Annahme eines Zusammenhangs die einschlägigen Behauptungen des Klägers zu den Voraussetzungen der Haftung aus unerlaubter Handlung oder aus einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, als erwiesen ansehen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juni 2016, Universal Music International Holding, C‑12/15, EU:C:2016:449, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Folglich kann sich das angerufene Gericht in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens auf die Prüfung beschränken, ob nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass ein bestimmender Einfluss der Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft bestand, damit es sich für zuständig erklären kann, soweit das nationale Recht dies zulässt.
46 Dies ist der Fall, wenn sich der Kläger auf die Vermutung des bestimmenden Einflusses und der Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft beruft. Die Prüfung, ob die Klage gegen die Muttergesellschaft, deren Niederlassungsort die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts begründet, keinen künstlichen Charakter hat, setzt jedoch voraus, dass sich die Beklagten auf beweiskräftige Indizien berufen können, die darauf hindeuten, dass entweder die Muttergesellschaft nicht unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hielt oder diese Vermutung gleichwohl nicht gelten kann.
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 8 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er nicht dem entgegensteht, dass im Fall von Klagen auf Verurteilung einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft als Gesamtschuldner zum Ersatz des Schadens, der durch eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln durch die Tochtergesellschaft entstanden ist, das mit diesen Klagen befasste Gericht am Niederlassungsort der Muttergesellschaft sich für die Feststellung seiner internationalen Zuständigkeit auf die Vermutung stützt, dass eine Muttergesellschaft, die unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital einer Tochtergesellschaft hält, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln begangen hat, einen bestimmenden Einfluss auf diese Tochtergesellschaft ausübt, sofern den Beklagten nicht die Möglichkeit genommen wird, sich auf beweiskräftige Indizien zu berufen, die darauf hindeuten, dass entweder die Muttergesellschaft nicht unmittelbar oder mittelbar das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hielt oder diese Vermutung gleichwohl nicht gelten kann.