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Wirtschaftsrecht
01.09.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Selbständiger Handelsvertreter – Zu Provisionen nach Beendigung des Handelvertretervertrags

EuGH, Urteil vom 23.3.2023 – C‑574/21, QT gegen O2 Czech Republic a.s.

ECLI:EU:C:2023:233

Volltext: BB-ONLINE BBL2023-1998-1

Tenor

1. Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des in diesem Art. 17 Abs. 2 vorgesehenen Ausgleichs jene Provisionen zu berücksichtigen sind, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für Geschäfte erhalten hätte, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer vor dieser Beendigung geworben hat, oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen vor dieser Beendigung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen worden wären.

2. Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 ist dahin auszulegen, dass die Zahlung von Einmalprovisionen nicht dazu führt, dass von der Berechnung des Ausgleichs nach Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 die Provisionen ausgeschlossen werden, die dem Handelsvertreter aus Geschäften entgehen, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die der Handelsvertreter vor dieser Beendigung für den Unternehmer geworben hat, oder mit Kunden, mit denen der Handelsvertreter vor dieser Beendigung die Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hat, abschließt, wenn diese Provisionen pauschalen Vergütungen für jeden neuen Vertrag entsprechen, der auf Vermittlung des Handelsvertreters mit diesen neuen Kunden oder mit vorhandenen Kunden des Unternehmers abgeschlossen wird.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17).

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen QT, einem Handelsvertreter, und der O2 Czech Republic a.s. wegen eines Antrags auf Entschädigung aufgrund der Beendigung des Handelsvertretervertrags zwischen QT und dieser Gesellschaft.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Die Erwägungsgründe 2 und 3 der Richtlinie 86/653 lauten:

„Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der Gemeinschaft spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmen sowie die Sicherheit im Handelsverkehr. Diese Unterschiede erschweren im Übrigen auch erheblich den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmer und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.

Der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten muss unter Bedingungen erfolgen, die denen eines Binnenmarktes entsprechen, weswegen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in dem zum guten Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang angeglichen werden müssen. Selbst vereinheitlichte Kollisionsnormen auf dem Gebiet der Handelsvertretung können die erwähnten Nachteile nicht beseitigen und lassen daher einen Verzicht auf die vorgeschlagene Harmonisierung nicht zu.“

4          Art. 1 der Richtlinie 86/653 bestimmt:

„(1) Die durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen gelten für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln.

(2) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.

…“

5          Art. 6 der Richtlinie 86/653 lautet:

„(1) Bei Fehlen einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen den Parteien und unbeschadet der Anwendung der verbindlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Höhe der Vergütungen hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine Vergütung, die an dem Ort, an dem er seine Tätigkeit ausübt, für die Vertretung von Waren, die den Gegenstand des Handelsvertretervertrags bilden, üblich ist. Mangels einer solchen Üblichkeit hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine angemessene Vergütung, bei der alle mit dem Geschäft zusammenhängenden Faktoren berücksichtigt sind.

(2) Jeder Teil der Vergütung, der je nach Zahl oder Wert der Geschäfte schwankt, gilt als Provision im Sinne dieser Richtlinie.

(3) Die Artikel 7 bis 12 gelten nicht, soweit der Handelsvertreter nicht ganz oder teilweise in Form einer Provision vergütet wird.“

6          In Art. 7 der Richtlinie 86/653 heißt es:

„(1) Für ein während des Vertragsverhältnisses abgeschlossenes Geschäft hat der Handelsvertreter Anspruch auf die Provision,

a) wenn der Geschäftsabschluss auf seine Tätigkeit zurückzuführen ist

oder

b) wenn das Geschäft mit einem Dritten abgeschlossen wurde, den er bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte.

(2) Für ein während der Vertragsverhältnisse abgeschlossenes Geschäft hat der Handelsvertreter ebenfalls Anspruch auf die Provision,

- wenn ihm ein bestimmter Bezirk oder Kundenkreis zugewiesen ist oder

- wenn er die Alleinvertretung für einen bestimmten Bezirk oder Kundenkreis hat

und sofern das Geschäft mit einem Kunden abgeschlossen worden ist, der diesem Bezirk oder dieser Gruppe angehört.

Die Mitgliedstaaten müssen in ihr Recht die eine oder die andere der unter den beiden obigen Gedankenstrichen enthaltenen Alternativen aufnehmen.“

7          Art. 8 der Richtlinie 86/653 bestimmt:

„Für ein erst nach Beendigung des Vertragsverhältnisses geschlossenes Geschäft hat der Handelsvertreter Anspruch auf Provision:

a) wenn der Geschäftsabschluss überwiegend auf die Tätigkeit zurückzuführen ist, die er während des Vertragsverhältnisses ausgeübt hat, und innerhalb einer angemessenen Frist nach dessen Beendigung erfolgt

oder

b) wenn die Bestellung des Dritten gemäß Artikel 7 vor Beendigung des Handelsvertreterverhältnisses beim Unternehmer oder beim Handelsvertreter eingegangen ist.“

8          Art. 17 der Richtlinie 86/653 sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 hat.

(2) a) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit

- er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht

und

- die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass zu diesen Umständen auch die Anwendung oder Nichtanwendung einer Wettbewerbsabrede im Sinne des Artikels 20 gehört.

b) Der Ausgleich darf einen Betrag nicht überschreiten, der einem jährlichen Ausgleich entspricht, der aus dem Jahresdurchschnittsbetrag der Vergütungen, die der Handelsvertreter während der letzten fünf Jahre erhalten hat, errechnet wird; ist der Vertrag vor weniger als fünf Jahren geschlossen worden, wird der Ausgleich nach dem Durchschnittsbetrag des entsprechenden Zeitraums ermittelt.

c) Die Gewährung dieses Ausgleichs schließt nicht das Recht des Handelsvertreters aus, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

(3) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer entstandenen Schadens.

Dieser Schaden umfasst insbesondere

- den Verlust von Ansprüchen auf Provision, die dem Handelsvertreter bei normaler Fortsetzung des Vertrages zugestanden hätten und deren Nichtzahlung dem Unternehmer einen wesentlichen Vorteil aus der Tätigkeit des Handelsvertreters verschaffen würde, und/oder

- Nachteile, die sich aus der nicht erfolgten Amortisation von Kosten und Aufwendungen ergeben, die der Handelsvertreter in Ausführung des Vertrages auf Empfehlung des Unternehmers gemacht hatte.

(4) Der Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 entsteht auch dann, wenn das Vertragsverhältnis durch Tod des Handelsvertreters endet.

(5) Der Handelsvertreter verliert den Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3, wenn er dem Unternehmer nicht innerhalb eines Jahres nach Beendigung des Vertragsverhältnisses mitgeteilt hat, dass er seine Rechte geltend macht.

(6) Die [Europäische] Kommission legt dem Rat [der Europäischen Union] innerhalb von acht Jahren nach Bekanntgabe dieser Richtlinie einen Bericht über die Durchführung dieses Artikels vor und unterbreitet ihm gegebenenfalls Änderungsvorschläge.“

9          Art. 18 der Richtlinie 86/653 lautet:

„Der Anspruch auf Ausgleich oder Schadensersatz nach Artikel 17 besteht nicht,

a) wenn der Unternehmer den Vertrag wegen eines schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters beendet hat, das aufgrund der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine fristlose Beendigung des Vertrages rechtfertigt;

b) wenn der Handelsvertreter das Vertragsverhältnis beendet hat, es sei denn, diese Beendigung ist aus Umständen, die dem Unternehmer zuzurechnen sind, oder durch Alter, Gebrechen oder Krankheit des Handelsvertreters, derentwegen ihm eine Fortsetzung seiner Tätigkeit billigerweise nicht zugemutet werden kann, gerechtfertigt;

c) wenn der Handelsvertreter gemäß einer Vereinbarung mit dem Unternehmer die Rechte und Pflichten, die er nach dem Vertrag besitzt, an einen Dritten abtritt.“

10        Art. 19 der Richtlinie 86/653 bestimmt:

„Die Parteien können vor Ablauf des Vertrages keine Vereinbarungen treffen, die von Artikel 17 und 18 zum Nachteil des Handelsvertreters abweichen.“

Tschechisches Recht

11        § 652 Abs. 1 des Zákon č. 513/1991 Sb., obchodní zákoník (Gesetz Nr. 513/1991 über das Handelsgesetzbuch) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Handelsgesetzbuch) sah im Wesentlichen vor, dass der Handelsvertreter nach einem Handelsvertretervertrag verpflichtet ist, im Namen und für Rechnung des Unternehmers mit Kunden Geschäfte auszuhandeln und abzuschließen sowie damit zusammenhängende Vorgänge zu erledigen.

12        § 669 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs, mit dem Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 in tschechisches Recht umgesetzt wurde, bestimmte:

„Der Handelsvertreter hat nach Beendigung des Vertrags einen Ausgleichsanspruch, wenn

a) er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindung mit bestehenden Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und

b) die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13        Am 1. Januar 1998 schloss der Kläger des Ausgangsverfahrens mit der Rechtsvorgängerin der O2 Czech Republic (im Folgenden ebenfalls: O2 Czech Republic) einen Handelsvertretervertrag. Dieses Vertragsverhältnis endete am 31. März 2010. Dieser Vertrag betraf das Angebot und den Verkauf von durch O2 Czech Republic erbrachten Telekommunikationsdiensten, die Lieferung und den Verkauf von Mobiltelefonen, entsprechendem Zubehör und gegebenenfalls weiteren Produkten sowie die Kundenbetreuung.

14        Nach dem Handelsvertretervertrag erhielt der Kläger des Ausgangsverfahrens für jeden der Verträge, die er für O2 Czech Republic geschlossen hatte, eine einmalige Provision.

15        In den Jahren 2006 und 2007 warb der Kläger des Ausgangsverfahrens für O2 Czech Republic neue Kunden und schloss weitere Verträge mit vorhandenen Kunden. Aufgrund der maximalen Dauer der Tarifbindung gingen diese Verträge nicht über den 31. März 2010, dem Ende des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handelsvertretervertrags, hinaus.

16        In Bezug auf die Jahre 2008 und 2009 gingen dagegen insgesamt 431 Verträge – davon 155 neue Verträge und 276 Änderungen bestehender Verträge – über den 31. März 2010 hinaus, weshalb der Kläger des Ausgangsverfahrens hierfür von O2 Czech Republic die entsprechenden Provisionen erhielt.

17        Da der Kläger des Ausgangsverfahrens jedoch die Ansicht vertrat, dass O2 Czech Republic ihm den nach Art. 669 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs, durch den Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 umgesetzt worden sei, geschuldeten Ausgleich nicht gezahlt habe, erhob er beim Obvodní soud pro Prahu 4 (Stadtbezirksgericht Prag 4, Tschechische Republik) Klage gegen O2 Czech Republic auf Zahlung von 2 023 799 Tschechischen Kronen (CZK) (ungefähr 82 000 Euro).

18        Dieses Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, der Kläger des Ausgangsverfahrens habe nicht nachgewiesen, dass O2 Czech Republic nach dem Ende des fraglichen Handelsvertretervertrags weiterhin erhebliche Vorteile aus den Geschäften mit den von ihm geworbenen Kunden gezogen habe.

19        Diese Entscheidung wurde im Berufungsverfahren vom Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik) bestätigt. In seinem Urteil vom 27. November 2019 stellte dieses Gericht fest, dass die von den Vertragsparteien vereinbarten Einmalprovisionen ordnungsgemäß an den Kläger des Ausgangsverfahrens gezahlt worden seien. Das Argument des Klägers, er habe Anspruch auf Provisionen, die hypothetisch erlangt werden könnten, rechtfertige keinen Anspruch seinerseits auf Ausgleich. Der Kläger des Ausgangsverfahrens habe zwar neue Kunden geworben und die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden erweitert, woraus O2 Czech Republic nach Beendigung des Handelsvertretervertrags möglicherweise noch Vorteile ziehe. Diese Gesellschaft habe ihm jedoch hierfür gemäß dem Handelsvertretervertrag Provisionen gezahlt. Dieses Gericht schloss daraus, dass die Zahlung eines Ausgleichs nicht der Billigkeit im Sinne von Art. 669 Abs. 1 Buchst. b des Handelsgesetzbuchs entspräche und die Klage bereits aus diesem Grund abzuweisen sei.

20        Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel zum Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) ein, dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache.

21        Mit seinem Rechtsmittel beanstandet der Kläger des Ausgangsverfahrens die ständige Rechtsprechung dieses Gerichts zu Art. 669 Abs. 1 Buchst. b des Handelsgesetzbuchs, wonach unter „dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ solche zu verstehen seien, die dieser für bereits abgeschlossene Geschäfte erhalten hätte, d. h. Geschäftsverbindungen, die er selbst geschlossen oder wesentlich erweitert habe. Er vertritt vielmehr die Auffassung, dieser Begriff müsse die Provisionen umfassen, die der Handelsvertreter hypothetisch für Geschäfte erhalten hätte, die der Unternehmer mit denjenigen Kunden, die der Handelsvertreter während der Vertragsausführung geworben oder mit denen er während der Vertragsausführung die Geschäftsverbindung wesentlich erweitert habe, nach Beendigung des Handelsvertretervertrags abgeschlossen habe.

22        Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich seine Rechtsprechung von der deutschen Rechtsprechung unterscheide. Nach der deutschen Rechtsprechung handle es sich bei „dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ um Provisionen für Geschäfte, die der Handelsvertreter für Rechnung des Unternehmers abgeschlossen hätte, wenn der Handelsvertretervertrag hypothetisch weiter bestanden hätte. Im Übrigen habe nach der deutschen Rechtsprechung der Handelsvertreter, wenn ihm im Fall von Einmalprovisionen keine Provision entgehe, immer noch Anspruch auf Ausgleich. Daher bestünden ernste Zweifel an der Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653.

23        Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší soud (Oberstes Gericht) beschlossen, das Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist der Begriff „[die] dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass diese Provisionen auch jene Provisionen für den Abschluss von Verträgen umfassen, die der Handelsvertreter mit den Kunden, die er für den Unternehmer geworben oder mit denen er die Geschäftsverbindung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen hätte, wenn der Handelsvertretervertrag fortbestanden hätte?

2. Falls diese Frage zu bejahen ist, unter welchen Voraussetzungen gilt diese Schlussfolgerung auch im Hinblick auf die sogenannten Einmalprovisionen für den Vertragsabschluss?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

24        Was als Erstes die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der Vorlagefragen betrifft, ist zum einen festzustellen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Handelsvertretervertrag am 1. Januar 1998 geschlossen wurde, d. h. vor dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union am 1. Mai 2004. Die Parteien des Ausgangsverfahrens waren bis zur Kündigung durch O2 Czech Republic am 31. März 2010 an den Vertrag gebunden. Da Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits die nach dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union eingetretenen Rechtsfolgen dieser Kündigung sind, ist die Richtlinie 86/653 auf diesen Rechtsstreit zeitlich anwendbar.

25        Was zum anderen den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie betrifft, so ergibt sich aus ihrem Art. 1 Abs. 2, dass sie nur auf den Verkauf oder den Ankauf von Waren und nicht auf die Erbringung von Dienstleistungen anwendbar ist. Gegenstand des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handelsvertretervertrags ist sowohl der Verkauf von Waren als auch die Erbringung von Dienstleistungen. Er würde daher nur teilweise in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.

26        Es ist jedoch erkennbar, dass der tschechische Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 86/653 in tschechisches Recht durch Art. 652 des Handelsgesetzbuchs alle Geschäfte einbezogen hat, die ein Handelsvertreter vornehmen kann, und damit diese Richtlinie sowohl auf An- und Verkäufe als auch auf die Erbringung von Dienstleistungen anwenden wollte.

27        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht jedoch dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, um u. a. zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, oder um sicherzustellen, dass in vergleichbaren Fällen ein einheitliches Verfahren angewandt wird, ein klares Interesse daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Urteil vom 3. Dezember 2015, Quenon K., C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28        Daraus folgt, dass der Umstand, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag sowohl Waren als auch Dienstleistungen betrifft, den Gerichtshof nicht daran hindert, die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts zu beantworten.

29        Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung dieser Fragen zuständig ist.

30        Als Zweites macht O2 Czech Republic geltend, dass die Vorlagefragen unzulässig seien, da sie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant seien.

31        Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 14. Juli 2022, Volkswagen, C‑134/20, EU:C:2022:571, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32        Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zur Auslegung des Unionsrechts. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 14. Juli 2022, Volkswagen, C‑134/20, EU:C:2022:571, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33        Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen nicht nur die Gründe, aus denen es den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie 86/653 bittet, hinreichend dargelegt, sondern auch die Gründe, aus denen es diese Auslegung für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich hält.

34        Die Vorlagefragen sind somit zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

35        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 17 der Richtlinie 86/653, um dessen Auslegung im Rahmen der ersten Frage ersucht wird, mit Blick auf das Ziel dieser Richtlinie und das damit eingeführte System auszulegen ist. Dieses Ziel besteht in der Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien eines Handelsvertretervertrags (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Dezember 2015, Quenon K., C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 21 und 22 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

36        Wie sich aus den Erwägungsgründen 2 und 3 der Richtlinie 86/653 ergibt, soll diese die Interessen der Handelsvertreter gegenüber den Unternehmern schützen, die Sicherheit des Handelsverkehrs fördern und den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, indem die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Handelsvertretungen angeglichen werden. Zu diesem Zweck enthält diese Richtlinie u. a. – in den Art. 13 bis 20 – Bestimmungen über Abschluss und Beendigung des Handelsvertretervertrags (Urteil vom 3. Dezember 2015, Quenon K., C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37        Was insbesondere die Beendigung des Handelsvertretervertrags betrifft, verpflichtet Art. 17 der Richtlinie 86/653 die Mitgliedstaaten, eine Regelung für die Entschädigung des Handelsvertreters einzuführen, wobei er ihnen die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten lässt, nämlich entweder einem nach den Kriterien des Art. 17 Abs. 2 bestimmten Ausgleich – d. h. einem System des Ausgleichs für Kunden – oder Schadensersatz nach den in Art. 17 Abs. 3 festgelegten Kriterien – d. h. einem Schadensersatzsystem (Urteil vom 3. Dezember 2015, Quenon K., C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38        Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge hat sich die Tschechische Republik für das in Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 vorgesehene System des Ausgleichs für Kunden entschieden.

39        Dieses System des Ausgleichs für Kunden sieht drei Stufen vor. Auf der ersten Stufe geht es zunächst um die Quantifizierung der Vorteile des Unternehmers aus den Geschäften mit den vom Handelsvertreter geworbenen Kunden gemäß den Kriterien nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie. Auf der zweiten Stufe wird dann nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich geprüft, ob der auf der Grundlage dieser Kriterien berechnete Betrag unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der dem Handelsvertreter entgangenen Provisionen, der Billigkeit entspricht. Schließlich wird auf der dritten Stufe dieser Betrag an der in Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie festgelegten Höchstgrenze gemessen, die nur dann relevant ist, wenn der genannte Betrag sie übersteigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Dezember 2015, Quenon K., C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40        Im vorliegenden Fall bezieht sich die erste Frage speziell auf die Bedeutung des Begriffs „[die] dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653, der formal der zweiten Stufe dieses Systems des Ausgleichs für Kunden entspricht. Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass das vom vorlegenden Gericht geschilderte Problem allgemeiner ist und nicht nur diese zweite Stufe betrifft. Es betrifft nämlich auch die Gesichtspunkte, die bei der zur ersten Stufe des genannten Systems gehörenden Beurteilung der Vorteile zu berücksichtigen sind, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags behält, und nicht nur die Berechnung des entsprechenden Ausgleichs nach dem Grundsatz der Billigkeit.

41        Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung des in diesem Art. 17 Abs. 2 vorgesehenen Ausgleichs jene Provisionen zu berücksichtigen sind, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für Geschäfte erhalten hätte, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer vor dieser Beendigung geworben hat, oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen vor dieser Beendigung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen worden wären.

42        Als Erstes sind in Art. 17 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 dieser Richtlinie die Voraussetzungen, unter denen ein Handelsvertreter nach Beendigung des Handelsvertretervertrags Anspruch auf Ausgleich hat, und nähere Angaben zu den Modalitäten der Berechnung dieses Ausgleichs enthalten. Der in diesen Bestimmungen geregelte Anspruch des Handelsvertreters auf Ausgleich hängt somit von der Beendigung seines Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer ab (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2018, CMR, C‑645/16, EU:C:2018:262, Rn. 23).

43        Entsprechend den Ausführungen der Generalanwältin in Nr. 53 ihrer Schlussanträge hat der Handelsvertreter nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 Anspruch auf Ausgleich, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen muss der Handelsvertreter neue Kunden für den Unternehmer geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert haben. Zum anderen muss der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile ziehen.

44        Sowohl die Verwendung der Adverbien „encore“, „noch“, „fortsat“, „nadále“, „todavía“, „ancora“, „nadal“, „ainda“, „nog“ und „naďalej“ in der französischen, der deutschen, der dänischen, der tschechischen, der spanischen, der italienischen, der polnischen, der portugiesischen, der niederländischen und der slowakischen Sprachfassung dieser Bestimmung als auch die Verwendung der Verbformen „продължава“, „jätkuvalt“, „διατηρεί“, „to derive from“, „továbbra is … tesz szert“, „continuă“, „jatkuvasti“ und „fortsätter“ in der bulgarischen, der estnischen, der griechischen, der englischen, der ungarischen, der rumänischen, der finnischen und der schwedischen Sprachfassung dieser Bestimmung weisen klar darauf hin, dass es sich bei diesen Vorteilen um solche handelt, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags fortbestehen und sich daher auf die Geschäfte beziehen, die mit den genannten Kunden nach dieser Beendigung abgeschlossen werden. Mit anderen Worten entsprechen diese Vorteile denen, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags noch aus Geschäftsbeziehungen zieht, die der Handelsvertreter während der Ausführung dieses Vertrags begründet oder erweitert hat.

45        Im Hinblick darauf heißt es in Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 im Wesentlichen, dass bei der Berechnung des Ausgleichs, auf den der Handelsvertreter nach Beendigung des Handelsvertretervertrags Anspruch hat, im Interesse der Billigkeit alle Umstände des Handelsvertretervertrags zu berücksichtigen sind, insbesondere die dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen. Diese Provisionen entsprechen nämlich den in diesem Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich genannten Vorteilen, da sie sich ebenso wie diese Vorteile aus den Geschäften ergeben, die mit den in dieser Bestimmung genannten Kunden nach Vertragsbeendigung abgeschlossen wurden.

46        Somit handelt es sich bei den „dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 um solche, die der Handelsvertreter hätte erhalten müssen, wenn der Handelsvertretervertrag fortbestanden hätte, und die den Vorteilen entsprechen, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags fortbestehen und sich aus den Geschäftsbeziehungen ergeben, die der Handelsvertreter vor der Beendigung des Handelsvertretervertrags begründet oder wesentlich erweitert hat.

47        Daher ergibt sich aus Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653, dass bei der Bestimmung des in diesem Art. 17 Abs. 2 vorgesehenen Ausgleichs jene Provisionen zu berücksichtigen sind, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für Geschäfte erhalten hätte, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer vor dieser Beendigung geworben hat, oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen vor dieser Beendigung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen worden wären.

48        Als Zweites wird diese Auslegung durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 einfügt.

49        Erstens lässt Art. 17 dieser Richtlinie – wie oben in Rn. 37 ausgeführt worden ist – den Mitgliedstaaten zur Sicherstellung der Entschädigung des Handelsvertreters im Fall der Beendigung des Handelsvertretervertrags die Wahl zwischen zwei Systemen, die in Abs. 2 bzw. Abs. 3 dieses Artikels vorgesehen sind. Da diese Systeme jeweils auf die Sicherstellung einer solchen Entschädigung abzielen, sind sie so zu verstehen, dass sie dasselbe erfassen, nämlich die Verluste, die der Zeit nach Beendigung des Handelsvertretervertrags entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2018, CMR, C‑645/16, EU:C:2018:262, Rn. 28).

50        Der Gerichtshof hat zu Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 86/653 bereits entschieden, dass der Handelsvertreter Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Beendigung seines Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer entstandenen Schadens, der insbesondere den Verlust von Ansprüchen auf Provision, die dem Handelsvertreter bei Fortsetzung des Vertrags zugestanden hätten und deren Nichtzahlung dem Unternehmer einen wesentlichen Vorteil aus der Tätigkeit des Handelsvertreters verschaffen würde, und/oder Nachteile umfasst, die sich aus der nicht erfolgten Amortisation von Kosten und Aufwendungen ergeben, die der Handelsvertreter in Ausführung des Vertrags auf Empfehlung des Unternehmers gemacht hatte (Urteil vom 19. April 2018, CMR, C‑645/16, EU:C:2018:262, Rn. 27). Dieser Art. 17 Abs. 3 erfasst somit sehr wohl den Fall künftiger Provisionen, die der Handelsvertreter erhalten hätte, wenn der Handelsvertretervertrag nicht beendet worden wäre.

51        Daraus folgt, dass auch Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 diesen Fall erfassen muss und dass der darin vorgesehene Ausgleich unter bestimmten, darin festgelegten Voraussetzungen die Provisionen zu berücksichtigen hat, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags erhalten hätte.

52        Zweitens wird diese Auslegung auch durch eine Betrachtung dieser Bestimmung im Licht der Art. 7 und 8 dieser Richtlinie bestätigt. Art. 7 dieser Richtlinie sieht nämlich vor, dass der Handelsvertreter für ein während des Vertragsverhältnisses abgeschlossenes Geschäft unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Provision hat. Art. 8 dieser Richtlinie ergänzt, dass der Handelsvertreter auch für ein erst nach Beendigung des Vertragsverhältnisses geschlossenes Geschäft Anspruch auf Provision hat, sofern das Geschäft zum Zeitpunkt dieser Beendigung im Wesentlichen kurz vor dem Abschluss stand.

53        In diesem Zusammenhang ist Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653, um seine praktische Wirksamkeit zu gewährleisten, dahin auszulegen, dass er einen anderen Fall erfasst als die bereits von den Art. 7 und 8 dieser Richtlinie erfassten Fälle. Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie kann daher nicht die Fälle erfassen, in denen der Handelsvertreter nicht alle ihm zu zahlenden Provisionen erhalten hat, denn diese Fälle fallen unter Art. 7 der Richtlinie. Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie kann auch nicht dahin ausgelegt werden, dass er auf Geschäfte anwendbar ist, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Vertragsverhältnisses kurz vor dem Abschluss standen und nach der Beendigung geschlossen wurden, denn diese Geschäfte fallen unter Art. 8 der Richtlinie. Die Provisionen im Sinne der Art. 7 und 8 der Richtlinie 86/653 sind nämlich ihrem Wesen nach wohlerworbene Rechte und unterliegen nicht den in den Art. 17 und 18 dieser Richtlinie vorgesehenen Beschränkungen und besonderen Anforderungen.

54        Somit verweist der in Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 vorgesehene Ausgleich notwendigerweise auf die Provisionen, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für die Geschäfte erhalten hätte, die mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer geworben hat, oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hat, abgeschlossen werden.

55        Drittens ist auf den Bericht über die Anwendung von Art. 17 der Richtlinie zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (KOM[96] 364 endg.) Bezug zu nehmen, der von der Kommission gemäß Art. 17 Abs. 6 der Richtlinie 86/653 am 23. Juli 1996 vorgelegt wurde, der detaillierte Angaben über die tatsächliche Berechnung des in Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausgleichs enthält und eine einheitlichere Auslegung dieser Vorschrift erleichtern soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2009, Semen, C‑348/07, EU:C:2009:195, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diesem Bericht zufolge entspricht dieser Ausgleich fortwährenden Vorteilen, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags aus der Arbeit des Handelsvertreters zieht. Es wird klargestellt, dass es um die Entschädigung für den dem Unternehmer erwachsenen Goodwill geht. Aus diesen Erläuterungen ergibt sich, dass der Ausgleich auch Provisionen umfassen muss, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für die Geschäfte erhalten hätte, die mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer geworben hat, oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen im Zuge der Vertragsausführung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen werden.

56        Als Drittes sprechen auch die mit der Richtlinie 86/653 verfolgten Ziele für diese Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie. Wie oben in Rn. 36 erwähnt worden ist, soll diese Richtlinie nämlich die Interessen der Handelsvertreter gegenüber ihren Unternehmern schützen, die Sicherheit des Handelsverkehrs fördern und den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, indem die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Handelsvertretungen angeglichen werden.

57        In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass die Art. 17 bis 19 der Richtlinie 86/653 den Schutz des Handelsvertreters nach Beendigung des Handelsvertretervertrags bezwecken und dass die zu diesem Zweck mit dieser Richtlinie eingeführte Regelung zwingendes Recht ist. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass jede Auslegung von Art. 17 dieser Richtlinie, die sich für den Handelsvertreter als nachteilig erweisen könnte, ausgeschlossen ist (Urteil vom 19. April 2018, CMR, C‑645/16, EU:C:2018:262, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Er hat ferner im Detail entschieden, dass Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie in einem Sinne auszulegen ist, der zu diesem Schutz des Handelsvertreters beiträgt und seine Verdienste beim Zustandekommen der ihm anvertrauten Geschäfte vollständig berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2016, Marchon Germany, C‑315/14, EU:C:2016:211, Rn. 33).

58        Beschränkte man die Tragweite des Begriffs „[die] dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ auf bereits vor Beendigung des Handelsvertretervertrags abgeschlossene Geschäfte, würde jedoch dem Handelsvertreter – wie die Generalanwältin in Nr. 73 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – ein erheblicher Anteil an dem Gewinn vorenthalten, den der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags dank der vom Handelsvertreter geleisteten Arbeit erzielt.

59        Eine Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 dahin, dass bei der Bestimmung des Ausgleichs jene Provisionen unberücksichtigt bleiben, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für Geschäfte erhalten hätte, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer vor dieser Beendigung geworben hat, abgeschlossen worden wären, oder für Geschäfte, die nach dieser Beendigung mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen vor dieser Beendigung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen worden wären, liefe somit den Zielen dieser Richtlinie zuwider.

60        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung des in diesem Art. 17 Abs. 2 vorgesehenen Ausgleichs jene Provisionen zu berücksichtigen sind, die der Handelsvertreter im Fall eines hypothetischen Fortbestands des Handelsvertretervertrags für Geschäfte erhalten hätte, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die er für den Unternehmer vor dieser Beendigung geworben hat, oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen vor dieser Beendigung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen worden wären.

Zur zweiten Frage

61        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass die Zahlung von Einmalprovisionen dazu führt, dass von der Berechnung des Ausgleichs nach Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 die Provisionen ausgeschlossen werden, die dem Handelsvertreter aus Geschäften entgehen, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die der Handelsvertreter vor dieser Beendigung für den Unternehmer geworben hat, oder mit Kunden, mit denen der Handelsvertreter vor dieser Beendigung die Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hat, abschließt.

62        Wie oben in Rn. 39 ausgeführt worden ist, verlangt insoweit Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie im Wesentlichen, dass der Ausgleichsbetrag unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der dem Handelsvertreter entgangenen Provisionen, der Billigkeit entsprechend berechnet wird.

63        Daraus folgt, dass die „dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ im Sinne dieser Bestimmung nur einen von mehreren Faktoren darstellen, die bei der Beurteilung der Billigkeit des Ausgleichs zu berücksichtigen sind. Die Wahl einer bestimmten Art von Provision, wie z. B. der Einmalprovisionen, kann daher den in dieser Bestimmung vorgesehenen Anspruch auf Ausgleich nicht in Frage stellen. Andernfalls bestünde die Gefahr einer Umgehung dieses in Art. 19 der Richtlinie zwingend vorgesehenen Anspruchs auf Ausgleich.

64        Im vorliegenden Fall enthält die dem Gerichtshof vorliegende Akte nur wenige Angaben dazu, was die Einmalprovisionen umfassten, die der Kläger des Ausgangsverfahrens im Rahmen des zwischen ihm und O2 Czech Republic geschlossenen Handelsvertretervertrags erhielt. In der mündlichen Verhandlung hat O2 Czech Republic jedoch darauf hingewiesen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einmalprovisionen pauschalen Vergütungen für jeden neuen Vertrag entsprächen, der auf Vermittlung des Klägers des Ausgangsverfahrens mit neuen oder vorhandenen Kunden abgeschlossen worden sei.

65        Falls dem so ist – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist –, könnte durch den vom Kläger des Ausgangsverfahrens gewonnenen oder erweiterten Kundenstock ein Mehrwert in Form von neuen Geschäften entstanden sein, die einen Provisionsanspruch begründet hätten, wenn der Handelsvertretervertrag nicht beendet worden wäre. Unter diesen Umständen werden durch solche Einmalprovisionen – wie die Generalanwältin in Nr. 89 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – nicht die Provisionen abgedeckt, die dem Handelsvertreter aus Geschäften entgehen, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit diesen Kunden abschließt.

66        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass die Zahlung von Einmalprovisionen nicht dazu führt, dass von der Berechnung des Ausgleichs nach Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 die Provisionen ausgeschlossen werden, die dem Handelsvertreter aus Geschäften entgehen, die der Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit neuen Kunden, die der Handelsvertreter vor dieser Beendigung für den Unternehmer geworben hat, oder mit Kunden, mit denen der Handelsvertreter vor dieser Beendigung die Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hat, abschließt, wenn diese Provisionen pauschalen Vergütungen für jeden neuen Vertrag entsprechen, der auf Vermittlung des Handelsvertreters mit diesen neuen Kunden oder mit vorhandenen Kunden des Unternehmers abgeschlossen wird.

 

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