EuGH: Schadensersatzklage bei plötzlichem Abbruch langjähriger Geschäftsbeziehungen – Anwendungsbereich der unerlaubten Handlung nach der Brüssel-I-VO
EuGH, Urteil vom 14.7.2016 – C-196/15, Granarolo SpA gegen Ambrosi Emmi France SA
ECLI:EU:C:2016:559
Volltext: BB-ONLINE BBL2016-1729-1
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Tenor
1. Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Schadensersatzklage wegen plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen wie die Klage im Ausgangsverfahren nicht „eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne dieser Verordnung betrifft, wenn zwischen den Parteien eine stillschweigende vertragliche Beziehung bestand, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der Nachweis des Vorliegens einer solchen stillschweigenden vertraglichen Beziehung muss auf einem Bündel übereinstimmender Indizien beruhen, zu denen u. a. das Bestehen langjähriger Geschäftsbeziehungen, Treu und Glauben zwischen den Parteien, die Regelmäßigkeit der Transaktionen und deren in Menge und Wert ausgedrückte langfristige Entwicklung, etwaige Absprachen zu den in Rechnung gestellten Preisen und/oder zu den gewährten Rabatten sowie die ausgetauschte Korrespondenz gehören können.
2. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass langjährige Geschäftsbeziehungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen“ einzustufen sind, wenn die charakteristische Verpflichtung des fraglichen Vertrags die Lieferung eines Gegenstands ist, und als „Vertrag über eine Erbringung von Dienstleistungen“, wenn diese Verpflichtung die Bereitstellung von Dienstleistungen ist, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Aus den Gründen
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Nrn. 1 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1, im Folgenden: Brüssel-I‑Verordnung).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft italienischen Rechts Granarolo SpA und der Gesellschaft französischen Rechts Ambrosi Emmi France SA (im Folgenden: Ambrosi) wegen einer Schadensersatzklage aufgrund plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 Abs. 1 der Brüssel-I‑Verordnung bestimmt:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“
4 Art. 5 Nrn. 1 und 3 dieser Verordnung lauten:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;
b) im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung
– für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen;
– für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;
c) ist Buchstabe b) nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a);
…
3. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht;
…“
Französisches Recht
5 Art. L. 442-6 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) bestimmt:
„I. Jeder Erzeuger, Händler, Fabrikant oder jede in die Handwerksrolle eingetragene Person macht sich haftbar und schadensersatzpflichtig, wenn er/sie
…
5. plötzlich eine bestehende Geschäftsbeziehung, auch teilweise, ohne schriftliche Vorankündigung unter Berücksichtigung der Dauer der Geschäftsbeziehung und Beachtung einer Mindestkündigungsfrist abbricht, die unter Verweisung auf die Handelsbräuche durch die interprofessionellen Vereinbarungen bestimmt wird. Betrifft die Geschäftsbeziehung die Lieferung von Erzeugnissen unter der Marke des Vertriebshändlers, so ist die Mindestkündigungsfrist doppelt so lang wie die, die anwendbar wäre, wenn das Erzeugnis nicht unter der Marke des Vertriebshändlers geliefert würde. Mangels solcher Vereinbarungen können Erlasse des Ministers für Wirtschaft für jede Kategorie von Erzeugnissen unter Berücksichtigung der Handelsbräuche eine Mindestfrist für die Vorankündigung festlegen und einen Rahmen für die Bedingungen für den Abbruch der Geschäftsbeziehungen insbesondere im Hinblick auf deren Dauer schaffen. Die vorstehenden Bestimmungen stehen nicht der Möglichkeit entgegen, die Geschäftsbeziehung ohne Vorankündigung zu beenden, wenn die andere Partei ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen ist oder ein Fall höherer Gewalt vorliegt. Wenn sich der Abbruch der Geschäftsbeziehung aus einer Fernversteigerung ergibt, ist die Mindestfrist für die Vorankündigung doppelt so lang wie die sich aus der Anwendung der Bestimmungen dieses Absatzes ergebende, falls die Frist der ersten Vorankündigung kürzer als sechs Monate ist, und mindestens ein Jahr in den anderen Fällen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
6 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die in Nizza (Frankreich) niedergelassene Ambrosi für die in Bologna (Italien) niedergelassene Granarolo seit ungefähr 25 Jahren ohne Rahmenvertrag oder Ausschließlichkeitsklausel Lebensmittel in Frankreich vermarktet hatte.
7 Mit Einschreiben vom 10. Dezember 2012 teilte Granarolo Ambrosi mit, dass ihre Waren in Frankreich und Belgien ab 1. Januar 2013 durch eine andere Gesellschaft französischen Rechts vertrieben würden.
8 Da Ambrosi der Ansicht war, dass dieses Schreiben einen plötzlichen Abbruch bestehender Geschäftsbeziehungen im Sinne von Art. L. 442-6 des Code de commerce darstelle, der nicht die Mindestkündigungsfrist unter Berücksichtigung der Dauer ihrer Geschäftsbeziehungen beachte, erhob sie auf Grundlage dieser Bestimmung beim Tribunal de commerce de Marseille (Handelsgericht Marseille, Frankreich) Schadensersatzklage gegen Granarolo.
9 Mit Urteil vom 29. Juli 2014 erklärte sich dieses Gericht für zuständig, da die Klage eine unerlaubte Handlung betreffe und der Ort, an dem das schädigende Ereignis im Sinne von Art. 5 Nr. 3 der Brüssel-I‑Verordnung eingetreten sei, am Sitz von Ambrosi in Nizza sei.
10 Mit am 12. August 2014 eingegangenem Schriftsatz legte Granarolo bei der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) ein Rechtsmittel ein, mit dem sie die örtliche Unzuständigkeit des Tribunal de commerce de Marseille (Handelsgericht Marseille) geltend machte, da die betreffende Klage im Sinne der Brüssel-I‑Verordnung eine Klage aus einem Vertrag sei und Art. 5 Nr. 1 dieser Verordnung als Anknüpfungsmerkmal den Ort vorsehe, an dem die beweglichen Sachen nach den für jede Lieferung geschlossenen Folgeverträgen geliefert worden seien oder hätten geliefert werden müssen. Dieser Ort sei – entsprechend der Angabe „Ex-Works“ (ab Werk) auf den Rechnungen von Granarolo und nach einer der von der Internationalen Handelskammer standardisierten Klauseln (Incoterms) zur Klarstellung der Rechte und Pflichten der Parteien im Bereich des internationalen Handels – das Werk Bologna.
11 Ambrosi macht in erster Linie geltend, dass die französischen Gerichte zuständig seien, da der Rechtsstreit eine unerlaubte Handlung betreffe und der Ort des schädigenden Ereignisses in Frankreich liege, wo die Lebensmittel von Granarolo verkauft würden. Hilfsweise trägt sie vor, dass nicht nachgewiesen worden sei, dass alle Folgeverträge nach der Incoterm-Klausel „Ex-Works“ abgeschlossen worden seien.
12 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es sich bei einer Klage wie der im Ausgangsverfahren, die sich auf Art. L. 442-6 des Code de commerce stützt, in der französischen Rechtsordnung um eine Klage aufgrund unerlaubter Handlung handelt, und führt dazu mehrere unlängst ergangene Urteile der Cour de cassation (Kassationsgericht, Frankreich) an.
13 Da jedoch die Begriffe „unerlaubte Handlung“ und „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne der Brüssel-I‑Verordnung autonome Begriffe des Unionsrechts sind, hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, den Gerichtshof hierzu zu befragen.
14 Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 5 Nr. 3 der Brüssel-I‑Verordnung in dem Sinne zu verstehen, dass eine Schadensersatzklage wegen Abbruchs bestehender Geschäftsbeziehungen bei Lieferung beweglicher Sachen über mehrere Jahre an einen Vertriebshändler ohne Rahmenvertrag oder Ausschließlichkeitsklausel in den Anwendungsbereich der unerlaubten Handlung fällt?
2. Bei Verneinung der ersten Frage: Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. b dieser Verordnung für die Bestimmung des Erfüllungsorts der Verpflichtung in dem oben in Frage 1 genannten Fall anwendbar?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
15 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Nr. 3 der Brüssel-I‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine Schadensersatzklage wegen plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen wie die Klage im Ausgangsverfahren „eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne dieser Bestimmung betrifft.
16 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Brüssel-I‑Verordnung bezweckt, die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen durch Zuständigkeitsvorschriften zu vereinheitlichen, die in hohem Maße vorhersehbar sind, und auf diese Weise einen Zweck der Rechtssicherheit verfolgt, der darin besteht, den Rechtsschutz der in der Europäischen Union ansässigen Personen in der Weise zu verbessern, dass ein Kläger ohne Schwierigkeiten festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann, und ein Beklagter vorhersehen kann, vor welchem Gericht er verklagt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und Rabitsch, C‑533/07, EU:C:2009:257, Rn. 21 und 22).
17 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt der gemeinsamen Zuständigkeitsordnung in Kapitel II der Brüssel-I‑Verordnung die in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung aufgestellte allgemeine Regel zugrunde, dass Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der Parteien vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen sind. Nur als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzstaats des Beklagten sieht Kapitel II Abschnitt 2 der Brüssel-I‑Verordnung eine Reihe besonderer Zuständigkeitsregeln vor, zu denen Art. 5 Nr. 3 dieser Verordnung gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Zuid-Chemie, C‑189/08, EU:C:2009:475, Rn. 20 und 21, sowie vom 18. Juli 2013, ÖFAB, C‑147/12, EU:C:2013:490, Rn. 30).
18 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass diese besonderen Zuständigkeitsregeln eng auszulegen sind und keine Auslegung erlauben, die über die in der Verordnung ausdrücklich geregelten Fälle hinausgeht (Urteil vom 18. Juli 2013, ÖFAB, C‑147/12, EU:C:2013:490, Rn. 31).
19 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ und „eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a und Nr. 3 der Brüssel-I‑Verordnung autonom und hauptsächlich unter Berücksichtigung der Systematik und der Zielsetzungen dieser Verordnung auszulegen sind, um deren einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu sichern. Sie lassen sich deshalb nicht als Verweisung darauf verstehen, wie das dem nationalen Gericht unterbreitete Rechtsverhältnis nach dem anwendbaren nationalen Recht zu qualifizieren ist (Urteil vom 13. März 2014, Brogsitter, C‑548/12, EU:C:2014:148, Rn. 18).
20 Die Wendung „unerlaubte Handlung oder Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne von Art. 5 Nr. 3 der Brüssel-I‑Verordnung bezieht sich auf jede Klage, mit der eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a dieser Verordnung anknüpft (vgl. Urteil vom 28. Januar 2015, Kolassa, C‑375/13, EU:C:2015:37, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Umstand, dass eine Vertragspartei eine Klage wegen zivilrechtlicher Haftung gegen die andere Vertragspartei erhebt, aber noch nicht bedeutet, dass diese Klage einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 der Brüssel-I‑Verordnung betrifft. Dies ist nur dann so, wenn das vorgeworfene Verhalten als Verstoß gegen die vertraglichen Verpflichtungen angesehen werden kann, wie sie sich anhand des Vertragsgegenstands ermitteln lassen (Urteil vom 13. März 2014, Brogsitter, C‑548/12, EU:C:2014:148, Rn. 23 und 24).
22 Folglich muss in einer Rechtssache wie derjenigen des Ausgangsverfahrens das nationale Gericht, um die Natur der bei ihm erhobenen Klage wegen zivilrechtlicher Haftung festzustellen, zunächst prüfen, ob diese Klage – unabhängig von ihrer Einstufung im nationalen Recht – vertraglicher Natur ist.
23 In zahlreichen Mitgliedstaaten können langjährige Geschäftsbeziehungen, die ohne schriftlichen Vertrag geknüpft wurden, grundsätzlich als Bestandteil einer stillschweigenden vertraglichen Beziehung angesehen werden, deren Verletzung zu einer vertraglichen Haftung führen kann.
24 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Nr. 1 der Brüssel-I‑Verordnung nicht den Abschluss eines schriftlichen Vertrags verlangt, für die Anwendung dieser Bestimmung jedoch die Feststellung einer vertraglichen Verpflichtung unerlässlich ist. Diese Verpflichtung kann stillschweigend entstanden sein, insbesondere dann, wenn dies aus eindeutigen Handlungen folgt, die den Willen der Parteien zum Ausdruck bringen.
25 Im vorliegenden Fall muss das nationale Gericht zunächst prüfen, ob unter den konkreten Umständen der bei ihm anhängigen Rechtssache die langjährige Geschäftsbeziehung, die zwischen den Parteien bestand, durch zwischen ihnen stillschweigend vereinbarte Verpflichtungen gekennzeichnet ist, so dass ihre Beziehung als vertragliche Beziehung eingestuft werden kann.
26 Für das Bestehen einer solchen stillschweigenden Beziehung spricht jedoch keine Vermutung, so dass sie nachgewiesen werden muss. Dieser Nachweis muss auf einem Bündel übereinstimmender Indizien beruhen, zu denen u. a. das Bestehen langjähriger Geschäftsbeziehungen, Treu und Glauben zwischen den Parteien, die Regelmäßigkeit der Transaktionen und deren in Menge und Wert ausgedrückte langfristige Entwicklung, etwaige Absprachen zu den in Rechnung gestellten Preisen und/oder zu den gewährten Rabatten sowie die ausgetauschte Korrespondenz gehören können.
27 Im Hinblick auf eine solche umfassende Würdigung muss das nationale Gericht das Vorliegen eines solchen Bündels übereinstimmender Indizien prüfen, um zu entscheiden, ob auch ohne schriftlichen Vertrag eine stillschweigende vertragliche Beziehung zwischen den Parteien besteht.
28 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Nr. 3 der Brüssel-I‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine Schadensersatzklage wegen plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen wie die Klage im Ausgangsverfahren nicht „eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne dieser Verordnung betrifft, wenn zwischen den Parteien eine stillschweigende vertragliche Beziehung bestand, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der Nachweis des Vorliegens einer solchen stillschweigenden vertraglichen Beziehung muss auf einem Bündel übereinstimmender Indizien beruhen, zu denen u. a. das Bestehen langjähriger Geschäftsbeziehungen, Treu und Glauben zwischen den Parteien, die Regelmäßigkeit der Transaktionen und deren in Menge und Wert ausgedrückte langfristige Entwicklung, etwaige Absprachen zu den in Rechnung gestellten Preisen und/oder zu den gewährten Rabatten sowie die ausgetauschte Korrespondenz gehören können.
Zur zweiten Frage
29 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Brüssel-I‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass langjährige Geschäftsbeziehungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen“ einzustufen sind, oder dahin, dass sie als „Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen sind.
30 Zunächst ist klarzustellen, dass die in Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Brüssel-I‑Verordnung vorgesehenen Anknüpfungskriterien für die Feststellung des zuständigen Gerichts nur dann anwendbar sind, wenn das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit zwischen den Parteien mit langjährigen Geschäftsbeziehungen befasst ist, zu dem Schluss gelangen sollte, dass diese Beziehungen auf einem „Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen“ oder einem „Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne dieser Bestimmung beruhen.
31 Diese Einstufung würde die Anwendung der Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Brüssel-I‑Verordnung im Ausgangsverfahren ausschließen. Denn aufgrund der in Art. 5 Nr. 1 Buchst. c aufgestellten Rangordnung zwischen den Buchst. a und b greift die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 1 Buchst. a nur alternativ und nur dann, wenn die Zuständigkeitsregeln des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung nicht einschlägig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 42).
32 Der Gerichtshof hat zum Erfüllungsort der Verpflichtungen sowohl aus Verträgen über den Verkauf beweglicher Sachen als auch aus Verträgen über die Erbringung von Dienstleistungen ausgeführt, dass die Brüssel-I‑Verordnung dieses Anknüpfungskriterium in ihrem Art. 5 Nr. 1 Buchst. b autonom definiert, um die Ziele der Vereinheitlichung der Gerichtsstandsregeln und der Vorhersehbarkeit zu stärken (Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 32).
33 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Brüssel-I‑Verordnung bei Verträgen über den Verkauf beweglicher Sachen und solchen über die Erbringung von Dienstleistungen die für diese Verträge charakteristische Verpflichtung als Anknüpfungskriterium für das zuständige Gericht zugrunde legt (Urteil vom 25. Februar 2010, Car Trim, C‑381/08, EU:C:2010:90, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Folglich ist ein Vertrag, dessen charakteristische Verpflichtung die Lieferung eines Gegenstands ist, als „Verkauf beweglicher Sachen“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich der Brüssel-I‑Verordnung einzustufen (Urteil vom 25. Februar 2010, Car Trim, C‑381/08, EU:C:2010:90, Rn. 32).
35 So eingestuft werden kann eine langjährige Geschäftsbeziehung zwischen zwei Wirtschaftsteilnehmern, wenn sich die Beziehung auf aufeinanderfolgende Verträge beschränkt, die jeweils die Lieferung und die Abholung beweglicher Sachen zum Gegenstand haben. Diese Einstufung entspricht jedoch nicht der Systematik eines typischen Vertriebsvertrags, der aus einem von zwei Wirtschaftsteilnehmern für die Zukunft geschlossenen Rahmenvertrag besteht, der Liefer- und Bezugsverpflichtungen zum Gegenstand hat (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 36).
36 Würde im vorliegenden Fall ein etwaiger mündlich oder stillschweigend geschlossener Vertrag als „Verkauf beweglicher Sachen“ eingestuft, müsste das vorlegende Gericht anschließend prüfen, ob die Angabe „Ex-Works“, von der in Rn. 10 des vorliegenden Urteils die Rede ist, systematisch in den Folgeverträgen zwischen den Parteien enthalten ist. Ist dies der Fall, muss davon ausgegangen werden, dass die beweglichen Sachen im Werk von Granarolo in Italien und nicht in Frankreich am Sitz von Ambrosi geliefert wurden.
37 Zur Frage, ob ein Vertrag als ein „Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Brüssel-I‑Verordnung eingestuft werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Begriff „Dienstleistungen“ im Sinne dieser Vorschrift zumindest bedeutet, dass die Partei, die sie erbringt, eine bestimmte Tätigkeit gegen Entgelt durchführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Das erste Kriterium dieser Definition, nämlich das Vorliegen einer Tätigkeit, erfordert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Vornahme positiver Handlungen und schließt bloße Unterlassungen aus. Wie der Gerichtshof bereits zu einem Sachverhalt, der dem des Ausgangsverfahrens recht nahekommt, entschieden hat, entspricht dieses Kriterium bei einem Vertrag, der den Vertrieb von Waren der einen Partei durch die andere Partei zum Gegenstand hat, der charakteristischen Leistung, die die Partei erbringt, die durch die Gewährleistung dieses Vertriebs an der Förderung der Verbreitung der betroffenen Waren mitwirkt.
39 Dank der ihm nach einem solchen Vertrag zustehenden Beschaffungsgarantie und gegebenenfalls dank seiner Beteiligung an der Geschäftsstrategie des Lieferanten, insbesondere an Aktionen zur Absatzförderung – Umstände, deren Feststellung in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt –, kann der Vertriebshändler in der Lage sein, den Kunden Dienstleistungen und Vorteile zu bieten, die ein einfacher Wiederverkäufer nicht bieten kann, und somit für die Erzeugnisse des Lieferanten einen größeren Anteil am lokalen Markt zu erobern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Zum zweiten Kriterium, nämlich dem für eine Tätigkeit gewährten Entgelt, ist zu betonen, dass dieses Entgelt nicht im engen Sinne als Zahlung eines Geldbetrags zu verstehen ist. Eine solche Einschränkung ist nämlich weder durch den sehr allgemeinen Wortlaut des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Brüssel-I‑Verordnung geboten, noch steht sie im Einklang mit den von dieser Vorschrift verfolgten Zielen der räumlichen Nähe und der Vereinheitlichung (Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 39).
41 Hierbei ist der Umstand zu berücksichtigen, dass ein Vertriebsvertrag im Allgemeinen auf einer Auswahl von Vertriebshändlern durch den Lieferanten beruht. Diese Auswahl kann den Vertriebshändlern einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, weil sie als Einzige das Recht haben werden, die Erzeugnisse des Lieferanten in einem bestimmten Gebiet zu verkaufen, oder zumindest, weil dieses Recht nur einer beschränkten Zahl von Vertriebshändlern zustehen wird. Außerdem sieht ein Vertriebsvertrag oft vor, dass den Vertriebshändlern Hilfe in Form von Zugang zu Werbematerial, Vermittlung von Know-how durch Fortbildungsmaßnahmen oder auch Zahlungserleichterungen gewährt wird. Die Summe dieser Vorteile, deren Vorliegen das mit der Tatsachenfeststellung befasste Gericht zu überprüfen hat, stellt für die Vertriebshändler einen wirtschaftlichen Wert dar, der als Entgelt angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 40).
42 Daher kann ein etwaiger Vertriebsvertrag, der diese typischen Elemente umfasst, für die Zwecke der Anwendung der Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Brüssel-I‑Verordnung als „Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen“ eingestuft werden (Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 41).
43 Im vorliegenden Fall obliegt es dem nationalen Gericht, sämtliche Umstände und Elemente zu prüfen, die die Tätigkeit von Ambrosi in Frankreich zum Zweck des Absatzes der Waren von Granarolo im französischen Markt kennzeichnen.
44 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Brüssel-I‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass langjährige Geschäftsbeziehungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen“ einzustufen sind, wenn die charakteristische Verpflichtung des fraglichen Vertrags die Lieferung eines Gegenstands ist, und als „Vertrag über eine Erbringung von Dienstleistungen“, wenn diese Verpflichtung die Bereitstellung von Dienstleistungen ist, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist.