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Wirtschaftsrecht
20.10.2011
Wirtschaftsrecht
LG Offenburg: Schadensersatz bei KfZ-Unfall

LG Offenburg, Urteil vom 04.10.2011 - 1 S 4/11

Leitsatz

Für die Schätzung der nach § 249 Abs. 1 Satz 2 BGB erstattungsfähigen Mietwagenkosten wird in Anwendung des § 287 Abs. 1 ZPO künftig auf das arithmetische Mittel der nach der Schwacke- und der Fraunhofer-Liste ermittelten Werte abgestellt.

sachverhalt

I. Der Kläger begehrt nach einem Verkehrsunfall, für den die beklagte Versicherung dem Grunde nach voll haftet, Erstattung restlicher Mietwagenkosten. Das Amtsgericht hat der Klage unter Zugrundelegung der Schwacke-Liste überwiegend stattgegeben. Gegen dieses Urteil, auf dessen tatsächliche Feststellungen Bezug genommen wird, richtet sich die Berufung der Beklagten, die im Wesentlichen Einwendungen gegen diese Schätzgrundlage vorträgt. Der Kläger begehrt mit seiner Anschlussberufung die Verurteilung der Beklagten zum Ersatz weiterer vorgerichtlicher Anwaltskosten und die Auferlegung der Kosten bezüglich eines übereinstimmend für erledigt erklärten Teils. Im Übrigen wird von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen gem. §§ 540 Abs. 2, 313 Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

aus den gründen

II. 1. Die Kammer sieht sich veranlasst, ihre ständige Rechtsprechung zur Schätzung der Mietwagenkosten, die nach einem Unfall zu erstatten sind, zu modifizieren.

a) Ausgangspunkt ist dabei zunächst die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der in zwei Urteilen vom 22.02.2011 - VI ZR 353/09, NJW-RR 2011, 823 Tn. 8 und vom 17.05.2011 - VI ZR 142/10, NJW-RR 2011, 1109 Tn. 9 beanstandet hat, dass sich die Instanzgerichte jeweils nicht hinreichend mit Einwendungen beschäftigt hatten, die die beklagten Versicherungen gegen die Tauglichkeit des Modus der Schwacke-Liste als Schätzungsgrundlage für die Höhe der zu erstattenden Mietwagenkosten erhoben hatten.

Hinzu kommt, dass es bei der Schwacke-Liste 2010 gegenüber den Werten der Schwacke-Liste 2009 zu ganz erheblichen Veränderungen zwischen Werten für identische Anmietsituationen gekommen ist, die nicht erklärbar sind. So weist das Amtsgericht Offenburg im Urteil vom 27.07.2011 - 4 C 59/11 - darauf hin, dass im Postleitzahlengebiet 776 der Modus-Wert der Tagespauschale in der Klasse 1 um über 60 % und in der Klasse 2 um über 70 % angestiegen ist, während die Preise in den Postleitzahlengebieten 766 oder 795 identisch geblieben sind. Im Fall 1 S 61/11 wurde vorgetragen, dass der maßgebliche Wochenwert für die Gruppe 3 im Postleitzahlengebiet 777 von 880,60 € auf 535,50 € gefallen ist. Demgegenüber ist er im Postleitzahlengebiet 776 von 673,00 € auf 880,60 €, mithin um 31 % gestiegen.

b) Der Bundesgerichtshof hat in den beiden genannten Entscheidungen nicht näher ausgeführt, welche Anforderungen im Hinblick auf die prozessuale Behandlung solcher Einwendungen bestehen.

Es dürfte den Vorgaben des Bundesgerichtshofs einerseits entsprechen, wenn man diese Einwendungen argumentativ entkräftet, wie dies z.B. das Oberlandesgericht Köln in der Entscheidung vom 18.08.2010 - 5 U 44/10, NZV 2010, 614, 615 getan hat.

Es kommt auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Höhe der am Markt praktizierten Mietwagenkosten infrage. Die Kammer entscheidet sich indessen bewusst gegen diesen Lösungsweg. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss Einwänden gegen eine Schätzgrundlage nicht durch Beweiserhebung nachgegangen werden, wenn eine andere geeignete Schätzgrundlage zur Verfügung steht (U.v. 14.10.2008 - VI ZR 308/07, NJW 2009, 58). Aus dem Parteivortrag zu vergleichbaren Fällen wird für die Kammer deutlich, dass solche Gutachten durch eine Fülle anderer Instanzgerichte bereits eingeholt wurden, ohne dass dies zu einer eindeutigen Beantwortung der hier streitigen Fragen nach der Höhe der auf dem Markt praktizierten Mietwagenkosten geführt hätte. Insbesondere im Fall 1 S 61/11, in dem für die beklagte Versicherung ein Unternehmensberater konkret auf den zu entscheidenden Fall bezogen Mietpreise zeitnah zum Unfall abgefragt hatte, ergibt sich deutlich, dass es auch nach der Einholung eines Sachverständigengutachtens immer wieder zu Diskussionen hinsichtlich der Vergleichbarkeit des Anmietszenarios kommt und der Einwand erhoben wird, im Zeitpunkt der Gutachtenerstellung würden andere Preise praktiziert als zum Unfallzeitpunkt. Auch wird ein Gutachter nie eine solch breite Datengrundlage zur Verfügung haben, wie die beiden infrage kommenden Schätzgrundlagen, nämlich die Schwacke-Liste und der Marktpreisspiegel des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO (im Folgenden Fraunhofer-Liste). Schließlich hält es die Kammer weder für sachgerecht noch für handhabbar, das Schätzungsermessen, das ihr nach § 287 Abs. 1 ZPO hinsichtlich der Höhe der zu erstattenden Mietwagen eingeräumt ist, dahin auszuüben, dass in jedem Fall zur Höhe der erstattungsfähigen Mietwagenkosten ein Sachverständigengutachten eingeholt werden muss, das erfahrungsgemäß in vielen Fällen teurer sein wird als die geltend gemachten Mietwagenkosten.

c) Die Kammer entscheidet sich daher dafür, in Zukunft den Einwendungen, die gegen beide Schätzungsgrundlagen vorgebracht werden, dadurch Rechnung zu tragen, dass nicht mehr alleine die Werte aus der Schwacke-Liste für die Schadensschätzung zu Grunde gelegt werden, sondern das arithmetische Mittel aus diesem Wert und dem Wert gebildet wird, der in der Fraunhofer-Liste enthalten ist. Dabei berücksichtigt die Kammer, dass der Bundesgerichtshof diese Mittelwertbildung im zitierten Urteil vom 22.02.2011 ausdrücklich angesprochen und ausgeführt hat, dass auch dieses Vorgehen nicht grundsätzlich rechtsfehlerhaft wäre (BGH, a.a.O. Tn. 7; U.v. 18.05.2010 - VI ZR 293/08). Dieser Weg findet in der Rechtsprechung auch zunehmend Zuspruch (OLG Karlsruhe, U.v. vom 11.08.2011 - 1 U 27/11; OLG Saarbrücken, U.v.22.12.2009 - 4 U 294/09, NZV 2010, 242, OLG Köln U. v. 11.8.2010 - 11 U 106/09, SchPrax 2010, 396; OLG Hamm, U.v. 20.07.2011 - I-13 U 108/10; LG Karlsruhe, U.v. 23.11.2010 - 1 S 105/10; LG Detmold U.v. 29.06.2011 - 10 S 16/11). Nach den Erfahrungen der Kammer führt dies zu sachgerechten Ergebnissen und zu einer geeigneten Schätzungsgrundlage. Dabei berücksichtigt die Kammer zusätzlich, dass ein Großteil von Verkehrsunfällen außergerichtlich reguliert wird und aus Gründen der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit auch hierfür eine klare Orientierung gegeben werden muss. Mit dieser Mittelwertbildung wird den beiden Berechnungsmethoden anhaftenden Stärken und Schwächen am ehesten Rechnung getragen, in gleichem Maße aber auch dem Aspekt der Handhabbarkeit in der gerichtlichen Praxis - Unfallregulierung ist Massengeschäft - in der gebotenen Weise Beachtung geschenkt.

Dieser Weg ist auch gegenüber dem von zwei Amtsgerichten im hiesigen Bezirk sowie dem LG Ansbach gewählten Vorgehen vorzugswürdig, statt der Schwacke-Liste allein die Fraunhofer-Liste zugrunde zu legen und dort einen Aufschlag von 20 % vorzunehmen. Aus Sicht der Kammer wird gerade aus der Vornahme dieses Aufschlags deutlich, dass auch diese Gerichte eine Vielzahl von Bedenken gegen diese Erhebung haben, denen sie mit einem Aufschlag in nicht genauer begründeter Höhe Rechnung tragen wollen (AG Offenburg, a.a.O.; U.v. 23.08.2011 - 1 C 48/11; U.v. 29.08.2011 - 1 C 47/11; AG Kehl, U.v. 09.09.2011 - 4 C 59/11 - Juris; AG Kehl, U.v. 09.09.2011 - 4 C 59/11 - Juris; U.v. 23.09.2011 - 5 C 199/10; LG Ansbach, U. v. 11.11.2010 - 1 S 1324/09, NZV 2011, 132).

d) Auf dieser Grundlage bleibt die Kammer bei ihrer ständigen Rechtsprechung, dass bei der Berechnung des Wertes nach der Schwacke-Liste die Modus-Werte aus der jeweils veröffentlichten Liste, hier also der Liste 2009, zu Grunde zu legen sind. Dabei sind die Werte aus dem dreistelligen Postleitzahlengebiet anzusetzen, in dem der Anmietungsbedarf entsteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof ist grundsätzlich das Preisniveau an dem Ort maßgebend, an dem das Fahrzeug angemietet und übernommen wird (BGH, U.v. 02.02.2010 - VI ZR 7/09, VersR 2010, 683). Das war hier unstreitig der Unfallort im Postleitzahlenbereich 777. Auf den Sitz des Autovermieters kommt es nicht an (Kammer, U.v. 26.01.2010 - 1 S 143/09).

Wie bisher sind auch die Nebenkosten, z.B. für Zufuhr und Abholung, Vollkaskoversicherung, Zweitfahrer oder Winterreifen, hinzuzurechnen.

e) Bei der Ermittlung des Tarifs nach der Fraunhofer-Liste legt die Kammer wie der auf Verkehrsunfallsachen spezialisierte 1. Senat des Oberlandesgerichts Karlsruhe in der zitierten Entscheidung zukünftig die Werte aus der Tabelle nach Schwacke-Klassifikation für den zweistelligen Postleitzahlenbereich, nämlich das Ergebnis der Internet-Erhebung zu Grunde. In der Liste für das Jahr 2009 ist dies die Tabelle 5, die auf den Seiten 35 ff. abgedruckt ist.

Abweichend von der genannten Entscheidung des OLG Karlsruhe rechnet die Kammer zu diesen Tarifen der Fraunhofer-Liste keine weiteren Aufschläge für Nebenkosten. Zur Begründung ist zunächst auszuführen, dass es nicht sachgerecht ist, diese Zuschläge für die Fraunhofer-Liste durch die Entnahme von Werten aus der Schwacke-Liste zu bilden. Daneben ist zu sehen, dass diese Zuschläge teilweise - z.B. für die Haftungsreduzierung ausweislich Seite 16 ff. der Fraunhofer-Liste 2009 - in der Tabelle bereits enthalten sind. Es kommt dazu, dass sich gegen die Höhe der in der Schwacke-Liste ausgewiesene Nebenkostenpauschalen ebenfalls Bedenken ergeben. Aus dem Parallelfall 1 S 97/10 ist gerichtsbekannt, dass beispielsweise die Preise, die für die Vollkaskoversicherung eines Mietwagens gezahlt werden, bei weitem unter dem liegen, was vom Mietwagenunternehmer bei einer Berechnung von Tages- und Wochenpauschalen nach Schwacke von 26,00 € bzw. 182,00 € an Preisen an seine Endkunden berechnet wird. So wurde im Verfahren 1 S 97/10 ein Kfz-Versicherungsschein für das dortige Mietfahrzeug vorgelegt, nach dem die Vollkaskoversicherung bei einer Selbstbeteiligung von 500 € in der Schadensfreiheitsklasse 3 und der Tarifgruppe N lediglich 246,77 € für ein Jahr kostet. Ein Mehrfahrerzuschlag ist dort nicht ausgewiesen. Es liegt auch auf der Hand, dass die Abrechnung der Pauschale nach der Schwacke-Liste von 10 € pro Tag für die Ausstattung mit Winterreifen dazu führt, dass die Mietwagenunternehmen Einnahmen erzielen, die um ein Mehrfaches über den von ihnen aufgewendeten Kosten liegen.

Die Mittelwertbildung führt auch dazu, dass den Bedenken gegen beide Schätzungsgrundlagen hinsichtlich des der Schätzung zugrunde zu legenden Postleitzahlenbereichs angemessen Rechnung getragen wird. Während die Schwacke-Liste durch die Aufgliederung in dreistellige Postleitzahlenbereiche zu einer schmalen Erhebungsgrundlage und starken regionalen Unterschieden führt (AG Kehl, Urt. v. 09.09.2011 - 4 C 59/11 - Juris), werden diese Unterschiede durch die Konzentration der Fraunhofer-Liste auf zweistellige Postleitzahlenbereiche tendenziell zu stark ausgeblendet.

Für die Praxis bedeutet dies, dass die schon derzeit komplexen Berechnungen lediglich um wenige Rechenschritte ausgeweitet werden müssen.

2. Für den vorliegenden Fall führt dies zu folgender Berechnung:

Berechnung nach der Schwacke-Liste 2009, Gruppe 3, PLZ 777

Position

 Betrag

1 x Wochentarif

 880,60 €

1 x 3-Tagespauschale

 386,75 €

2 Tagspauschalen

 273,70 €

abzgl. 3 % Eigenersparnis

 -46,23 €

1 Woche Haftungsfreistellung

 147,00 €

3 Tage Haftungsfreistellung

 54,00 €

2 Tage Haftungsfreistellung

 42,00 €

Zustellung und Abholung

 46,00 €

Summe

 1.783,82 €

        

Berechnung nach der Fraunhofer-Liste 2009, Gruppe 3, PLZ 77

Position

 Betrag

1 x Wochentarif

 244,58 €

1 x 3-Tagespauschale

 168,50 €

2 Tagespauschalen

 147,34 €

abzgl. 3 % Eigenersparnis

 -16,81 €

Summe

 543,61 €

                 

Arithmetisches Mittel aus Schwacke und Fraunhofer IAO

 1.163,71 €

abzgl. bereits gezahlter

 -629,00 €

Zuzusprechender Endbetrag

 534,71 €

Mit der Berufung wird ein Aufschlag für einen Unfallersatztarif nicht mehr geltend gemacht. Aus Seite XIII der Schwacke-Liste 2009 ergibt sich, dass für die Vollkaskoversicherung neben dem Normaltarif die in der Nebenkostentabelle enthaltenen Beträge zusätzlich anfallen. Entgegen dem Vortrag der Beklagten sind diese damit nicht bereits in den Werten der Haupttabelle enthalten. Dass hier eine Zustellung und Abholung des Mietfahrzeugs erfolgte, ist durch die vorgelegte Mietwagenrechnung bewiesen.

3. Vorgerichtliche Anwaltskosten sind unter Berücksichtigung der zu erstattenden Mietwagenkosten aus einem Wert von 10.502,38 € zu erstatten. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer ist unter Anlegung des Maßstabs des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB für die Abwicklung durchschnittlicher Verkehrsunfälle lediglich eine 1,3 Geschäftsgebühr gerechtfertigt (BGH U. v. 31.10.2006 - VI ZR 261/05; Kammer, U. v. 25.10.2010 - 1 S 69/09). Der vorliegende Unfall fällt unter diese Kategorie, nachdem die Haftung dem Grunde nach und weitgehend auch zur Höhe unstreitig ist und sich Auseinandersetzungen lediglich hinsichtlich zweier Standardfragen der Unfallregulierung ergaben, nämlich die Höhe der Mietwagenkosten und der zu erstattenden Rechtsanwaltskosten. Dementsprechend bestehen die klägerischen Schriftsätze auch, wie gerichtsbekannt ist, zu einem erheblichen Anteil aus Textbausteinen. Das führt zu folgenden erstattungsfähigen, vorgerichtlichen Anwaltskosten:

Erstattungsfähige Rechtsanwaltskosten

Geschäftsgebühr 1,3

 683,80 €

Pauschale Nr. 7002 VV RVG

 20,00 €

Mehrwertsteuer

 133,72 €

abzgl. gezahlter

 -777,64 €

Summe

 59,88 €

4. Im Übrigen waren die Klage abzuweisen und die weitergehende Berufung sowie die Anschlussberufung zurückzuweisen.

5. Die Entscheidungen des Amtsgerichts zum Zinsbeginn wurden mit der Berufung nicht angegriffen. Die Kostenentscheidung beruht unter Berücksichtigung der nicht wesentlich ins Gewicht fallenden Teilerledigungserklärungen in erster Instanz auf den §§ 92 Abs. 1 S. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Ziffer 10, 711, 713 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) sind nicht gegeben. Die Kammer weicht nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ab, sondern legt diese ihrer Entscheidung zu Grunde.

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