EuGH: Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren i. S. d. RL (EU) 2019/1023
EuGH, Urteil vom 11.4.2024 – C-687/22, Julieta, Rogelio gegen Agencia Estatal de la Administración Tributaria
ECLI:EU:C:2024:287
Volltext: BB-Online BBL2024-1025-1
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Tenor
1. Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung ist nicht auf eine Situation anwendbar, in der sich der Sachverhalt nach Inkrafttreten der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), aber vor Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie und vor ihrer Umsetzung in nationales Recht ereignet hat.
2. Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene Liste bestimmter Schuldenkategorien nicht abschließend ist und dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, andere als die in dieser Bestimmung aufgezählten Schuldenkategorien von der Entschuldung auszuschließen, sofern ein solcher Ausschluss nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt ist.
3. Eine von den nationalen Gerichten vorgenommene Auslegung einer nationalen Regelung, die auf einen Sachverhalt anwendbar ist, der sich nach Inkrafttreten der Richtlinie 2019/1023, aber vor Ablauf der Frist für deren Umsetzung ereignet hat, und nach der der Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung in dieser Regelung nicht ausreichend gerechtfertigt ist, kann die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Frist nicht ernstlich gefährden.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. 2019, L 172, S. 18, im Folgenden: Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei zahlungsunfähig gewordenen natürlichen Personen (im Folgenden: Schuldner) und der Agencia Estatal de la Administración Tributaria (Steuerverwaltung, Spanien) (im Folgenden: AEAT) wegen eines von den Schuldnern in ihrem Insolvenzverfahren gestellten Antrags auf Entschuldung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 1, 78 und 81 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz heißt es:
„(1) Ziel dieser Richtlinie ist es, zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen und Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten, etwa des freien Kapitalverkehrs oder der Niederlassungsfreiheit, zu beseitigen, die auf Unterschiede zwischen den nationalen Vorschriften und Verfahren für die präventive Restrukturierung, die Insolvenz, die Entschuldung und Tätigkeitsverbote zurückzuführen sind. Ohne dass die Grundrechte und Grundfreiheiten der Arbeitnehmer beeinträchtigt werden, zielt diese Richtlinie darauf ab, solche Hindernisse zu beseitigen, indem sichergestellt wird, dass bestandsfähige Unternehmen und Unternehmer, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, Zugang zu wirksamen nationalen präventiven Restrukturierungsrahmen haben, die es ihnen ermöglichen, ihren Betrieb fortzusetzen, dass redliche insolvente oder überschuldete Unternehmer nach einer angemessenen Frist in den Genuss einer vollen Entschuldung kommen und dadurch eine zweite Chance erhalten können, und dass die Wirksamkeit von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren, insbesondere durch Verkürzung ihrer Dauer, erhöht wird.
…
(78) Eine volle Entschuldung oder ein Ende der Tätigkeitsverbote nach einer Frist von höchstens drei Jahren ist nicht in jedem Fall angemessen; daher könnten Ausnahmen von dieser Regel festgelegt werden müssen, die mit im nationalen Recht festgelegten Gründen ausreichend gerechtfertigt sind. …
…
(81) Wenn im nationalen Recht ein ausreichend begründeter Grund vorliegt, könnte es angemessen sein, die Möglichkeit der Entschuldung für bestimmte Schuldenkategorien einzuschränken. Es sollte für die Mitgliedstaaten möglich sein, besicherte Schulden nur bis zu dem im nationalen Recht bestimmten Wert der Sicherheit von der Möglichkeit der Entschuldung auszunehmen, wohingegen die übrigen Schulden als unbesicherte Schulden behandelt werden sollten. Die Mitgliedstaaten sollten in ausreichend begründeten Fällen weitere Schuldenkategorien ausschließen können.“
4 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie enthält Vorschriften über
a) präventive Restrukturierungsrahmen, die Schuldnern in finanziellen Schwierigkeiten bei einer wahrscheinlichen Insolvenz zur Verfügung stehen, um die Insolvenz abzuwenden und die Bestandsfähigkeit des Schuldners sicherzustellen,
b) Verfahren, die zur Entschuldung insolventer Unternehmer führen, und
c) Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren.“
5 In Art. 20 („Zugang zur Entschuldung“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass insolvente Unternehmer Zugang zu mindestens einem Verfahren haben, das zu einer vollen Entschuldung gemäß dieser Richtlinie führen kann.
Die Mitgliedstaaten können zur Bedingung machen, dass die gewerbliche, geschäftliche, handwerkliche oder freiberufliche Tätigkeit, mit der die Schulden eines insolventen Unternehmers im Zusammenhang stehen, eingestellt wird.
(2) Die Mitgliedstaaten, in denen die volle Entschuldung von einer teilweisen Tilgung der Schulden durch den Unternehmer abhängig ist, stellen sicher, dass die diesbezügliche Tilgungspflicht der Situation des einzelnen Unternehmers entspricht und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum pfändbaren oder verfügbaren Einkommen und zu den pfändbaren oder verfügbaren Vermögenswerten des Unternehmers während der Entschuldungsfrist steht sowie dem berechtigten Gläubigerinteresse Rechnung trägt.
…“
6 Art. 23 („Ausnahmeregelungen“) Abs. 4 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung ausschließen, den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen, wenn solche Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa im Falle von
a) besicherten Schulden,
b) aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden,
c) aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden,
d) Schulden bezüglich Unterhaltspflichten, die auf einem Familien‑, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen,
e) Schulden, die nach dem Antrag auf ein zu einer Entschuldung führendes Verfahren oder nach dessen Eröffnung entstanden sind, und
f) Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens zu begleichen, entstanden sind.“
7 Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis zum 17. Juli 2021 die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie nachzukommen, mit Ausnahme der erforderlichen Vorschriften, um Artikel 28 Buchstaben a, b und c nachzukommen, die bis zum 17. Juli 2024 erlassen und veröffentlicht werden, und der erforderlichen Vorschriften, um Artikel 28 Buchstabe d nachzukommen, die bis zum 17. Juli 2026 erlassen und veröffentlicht werden. Sie teilen der [Europäischen] Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Vorschriften mit.
Sie wenden die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie nachzukommen, ab dem 17. Juli 2021 an, mit Ausnahme der erforderlichen Vorschriften, um Artikel 28 Buchstabe a, b und c nachzukommen, die ab dem 17. Juli 2024 gelten[,] und der erforderlichen Vorschriften, um Artikel 28 Buchstabe d nachzukommen, die ab dem 17. Juli 2026 gelten.“
8 Gemäß Art. 35 der Richtlinie, der vorsieht, dass diese am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft tritt, ist die Richtlinie am 16. Juli 2019 in Kraft getreten.
Spanisches Recht
9 Mit dem Real Decreto-ley 1/2015 de mecanismo de segunda oportunidad, reducción de carga financiera y otras medidas de orden social (Real Decreto-ley 1/2015 über den Mechanismus der zweiten Chance, die Verringerung der finanziellen Belastung und andere Maßnahmen sozialer Art) vom 27. Februar 2015 (BOE Nr. 51 vom 28. Februar 2015, S. 19058), das unverändert in das Gesetz 25/2015 vom 28. Juli 2015 umgewandelt wurde, wurde die Ley 22/2003 Concursal (Konkursgesetz 22/2003) vom 9. Juli 2003 (BOE Nr. 164 vom 10. Juli 2003, S. 26905) dahin geändert, dass ein neuer Art. 178bis eingeführt wurde, um den Zugang zur Entschuldung zu regeln. Mit diesem Art. 178bis wurde ein System eingeführt, bei dem der betroffene Schuldner zwischen einer sofortigen Entschuldung (Art. 178bis Abs. 3 Nr. 4) und einer späteren Entschuldung mit Zahlungsplan (Art. 178bis Abs. 3 Nr. 5) wählen kann. In Bezug auf Letztere sah Art. 178bis Abs. 5 Nr. 1 vor:
„Der den in Abs. 3 Nr. 5 genannten Schuldnern gewährte Zugang zur Entschuldung erstreckt sich auf den nicht befriedigten Teil der folgenden Forderungen:
1. Gewöhnliche und nachrangige Forderungen, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens offen sind, auch wenn sie nicht angemeldet wurden, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.
…“
10 Mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley Concursal (Real Decreto Legislativo 1/2020 über die Annahme der Neufassung des Konkursgesetzes) vom 5. Mai 2020 (BOE Nr. 127 vom 7. Mai 2020, S. 31518, im Folgenden für das neugefasste Konkursgesetz: TRLC) wurde das Konkursgesetz 22/2003 erneut geändert, indem Art. 178bis durch ein neues Kapitel ersetzt und ausgeschlossen wurde, dass öffentlich-rechtliche Forderungen Gegenstand einer sofortigen oder späteren Entschuldung sein können.
11 Art. 491 Abs. 1 TRLC sah vor:
„Sind die Masseverbindlichkeiten sowie die bevorrechtigten Insolvenzforderungen vollständig befriedigt worden und hat der Schuldner, der die Voraussetzungen hierfür erfüllt, zuvor eine außergerichtliche Zahlungsvereinbarung getroffen, so erstreckt sich der Zugang zur Entschuldung auf alle unbefriedigten Forderungen, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“
12 In Art. 497 Abs. 1 TRLC hieß es:
„Der Zugang zur Entschuldung, der Schuldnern gewährt wird, die sich einem Zahlungsplan unterworfen haben, erstreckt sich auf den Teil der folgenden Forderungen, der nach dem Zahlungsplan unbefriedigt bleibt:
1. Gewöhnliche und nachrangige Forderungen, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens offen sind, auch wenn sie nicht angemeldet wurden, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.
…“
13 Mit der Ley 16/2022 de reforma del texto refundido de la Ley Concursal, aprobado por el Real Decreto Legislativo 1/2020, para la transposición de la Directiva (UE) 2019/1023 (Gesetz 16/2022 zur Änderung der Neufassung des Konkursgesetzes, angenommen durch das Real Decreto Legislativo 1/2020 zur Umsetzung der Richtlinie [EU] 2019/1023) vom 5. September 2022 (BOE Nr. 214 vom 6. September 2022, S. 123682, im Folgenden: Gesetz 16/2022) wurde der Ansatz des TRLC bestätigt, indem mit diesem Gesetz ebenfalls ausgeschlossen wurde, dass öffentlich-rechtliche Forderungen Gegenstand einer sofortigen oder späteren Entschuldung sein können.
14 Die Präambel des Gesetzes 16/2022 sieht in Abschnitt IV vor:
„…
Die Richtlinie [über Restrukturierung und Insolvenz] verpflichtet alle Mitgliedstaaten, einen Mechanismus der zweiten Chance einzurichten, um zu verhindern, dass Schuldner versucht sind, in andere Länder abzuwandern, die diese Mechanismen bereits vorsehen, was Kosten sowohl für den Schuldner als auch für seine Gläubiger mit sich bringen würde. Gleichzeitig wird die Homogenisierung in diesem Punkt als wesentlich für das Funktionieren des europäischen Binnenmarkts angesehen.
…
Es werden zwei Modalitäten der Entschuldung eingeführt: die Entschuldung mit Liquidation der aktiven Masse und die Entschuldung mit Zahlungsplan. …
…
Die Entschuldung erstreckt sich auf alle Forderungen im Rahmen des Kollektivverfahrens und auf alle Masseforderungen. Die Ausnahmen gründen sich in bestimmten Fällen auf die besondere Bedeutung ihrer Befriedigung für eine gerechte und solidarische sowie auf Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft (z. B. Unterhaltsschulden, Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen, Schulden aus Straftaten oder auch Schulden aus deliktischer Haftung). So unterliegt die Entschuldung im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Schulden bestimmten Beschränkungen und ist nur bei der erstmaligen Entschuldung und nicht in weiterer Folge möglich. …
…“
15 Art. 489 TRLC in der Fassung aufgrund des Gesetzes 16/2022 sieht vor:
„(1) Die Entschuldung erstreckt sich auf alle nicht beglichenen Schulden mit Ausnahme der folgenden:
…
5. Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen. Ist jedoch für die Beitreibung der Schulden die [AEAT] zuständig, so ist eine Entschuldung bis zu einem Höchstbetrag von 10 000 Euro pro Schuldner möglich; für die ersten 5 000 Euro der Schulden umfasst die Entschuldung den gesamten Betrag und ab diesem Betrag umfasst die Entschuldung 50 % der Schulden bis zu dem genannten Höchstbetrag. Ebenso ist eine Entschuldung in Bezug auf Schulden bei der Sozialversicherung in gleicher Höhe und unter den gleichen Bedingungen möglich. Die Entschuldung erfolgt bis zur oben genannten Obergrenze in umgekehrter Reihenfolge der in diesem Gesetz festgelegten Rangfolge und in jeder Klasse nach Maßgabe der Fälligkeit.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16 Im Rahmen des in Bezug auf die Schuldner eröffneten Insolvenzverfahrens stellten diese am 3. März 2021 einen Antrag auf volle Entschuldung. Die AEAT widersprach diesem Antrag in Bezug auf die Einbeziehung eines Anspruchs in Höhe von 192 366,21 Euro in die Entschuldung dessen Inhaberin sie sei und der eine bevorrechtigte öffentliche Forderung darstelle.
17 Mit Beschluss vom 30. Juli 2021 beendete der Juzgado de Primera Instancia n°1 de Dénia (Gericht erster Instanz Nr. 1 von Dénia, Spanien) das Insolvenzverfahren und gewährte den Schuldnern eine Entschuldung, von der er öffentlich-rechtliche Forderungen und Unterhaltsforderungen ausschloss.
18 Die Schuldner legten gegen diesen Beschluss Berufung beim vorlegenden Gericht ein, um die Einbeziehung der öffentlichen Forderung der AEAT in diese Entschuldung zu erreichen.
19 In Anbetracht des Zeitpunkts des Entschuldungsantrags der Schuldner ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass die anwendbare Fassung des Konkursgesetzes 22/2003 nicht diejenige aufgrund des Gesetzes 16/2022 sei, mit dem die Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz umgesetzt worden sei, sondern die Fassung aufgrund des TRLC, das mit dem nach Inkrafttreten dieser Richtlinie und vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist veröffentlichten Real Decreto Legislativo 1/2020 angenommen worden sei. Es führt jedoch aus, dass beide innerstaatlichen Regelungen den Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung vorsähen.
20 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es einander widersprechende Entscheidungen nationaler Gerichte zur Gültigkeit der innerstaatlichen Bestimmungen gebe, die diesen Ausschluss vorsähen, und äußert Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz.
21 Zum einen fragt es, ob dieser Ausschluss ausreichend gerechtfertigt ist. Nach Art. 23 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz sei es möglich, von der allgemeinen Regel von Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie abzuweichen, die eine volle Entschuldung vorsehe. Insbesondere räume Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung unter der Voraussetzung auszuschließen, dass der Ausschluss „ausreichend gerechtfertigt“ sei.
22 Im Gegensatz zum Gesetz 16/2022, in dessen Präambel der nationale Gesetzgeber eine gewisse Rechtfertigung geliefert habe, nämlich, dass sich die Ausnahmen von der Entschuldung „in bestimmten Fällen auf die besondere Bedeutung [der] Befriedigung [der betreffenden Forderungen] für eine gerechte und solidarische sowie auf Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft“ gründeten, liefere das TRLC, das mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 angenommen worden sei, jedoch keine Rechtfertigung für den Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung.
23 Zum anderen fragt das vorlegende Gericht, ob die in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz enthaltene Liste bestimmter Schuldenkategorien, die von der Entschuldung ausgeschlossen werden können, eine abschließende Liste darstellt, da in diesem Fall das Konkursgesetz 22/2003 in der Fassung des TRLC, das mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 angenommen worden sei, gegen diese Vorschrift verstoßen würde. Wenn diese Liste hingegen nur beispielhaft wäre, stünde dieses Gesetz im Einklang mit der Vorschrift.
24 Insbesondere hegt das vorlegende Gericht auch nach Veröffentlichung der Berichtigung in Bezug auf die spanische Sprachfassung von Art. 23 Abs. 4 (ABl. 2022, L 43, S. 94), mit der im Spanischen klargestellt wird, dass von der in dieser Vorschrift vorgesehenen Möglichkeit „etwa“ im Fall der dort aufgezählten Schuldenkategorien Gebrauch gemacht werden kann, weiterhin Zweifel daran, dass diese Liste nicht abschließend ist. Das vorlegende Gericht wirft nämlich die Frage auf, welche Bedeutung eine solche Liste hat, wenn der nationale Gesetzgeber die Schuldenkategorien, die er von der Entschuldung ausschließen möchte, völlig frei festlegen könnte, sofern ein solcher Ausschluss ausreichend gerechtfertigt wäre. Darüber hinaus stellt das vorlegende Gericht fest, die in dieser Vorschrift aufgezählten Schuldenkategorien wiesen eine gewisse Kohärenz auf, die durchbrochen würde, wenn der nationale Gesetzgeber über eine derartige Freiheit verfügte. Der Umstand, dass öffentliche Forderungen, die von außerordentlicher Bedeutung seien, nicht in der Liste der Schuldenkategorien in dieser Vorschrift erwähnt seien, könne ein Hinweis darauf sein, dass diese Liste abschließend sei. Schließlich könne eine solche Freiheit das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen.
25 Unter diesen Umständen hat die Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung auf Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz angewendet werden, wenn sich der Sachverhalt (wie im vorliegenden Fall im Hinblick auf das Datum des Antrags auf Entschuldung) in der Zeit zwischen dem Inkrafttreten dieser Richtlinie und dem Ende der Umsetzungsfrist abgespielt hat und die anwendbare nationale Regelung (d. h. das TRLC, das mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 angenommen wurde) nicht diejenige ist, mit der die Richtlinie umgesetzt wird (d. h. das Gesetz 16/2022)?
2. Ist eine nationale Regelung wie die spanische Regelung im TRLC, das mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 angenommen wurde, die keine Rechtfertigung für den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der Entschuldung liefert, mit Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz und den dieser zugrunde liegenden Grundsätzen über die Entschuldung vereinbar? Gefährdet oder beeinträchtigt diese Regelung, soweit sie öffentlich-rechtliche Forderungen ohne ausreichende Rechtfertigung von der Entschuldung ausschließt, die Verwirklichung der in der Richtlinie bestimmten Ziele?
3. Enthält Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz eine abschließende und erschöpfende Aufzählung der Schuldenkategorien, die von der Entschuldung ausgeschlossen werden können, oder ist diese Aufzählung vielmehr nur beispielhaft und steht es dem nationalen Gesetzgeber vollkommen frei, die Kategorien ausschließbarer Schulden festzulegen, die er für sinnvoll hält, sofern sie nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt sind?
Verfahren vor dem Gerichtshof
26 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Zur Stützung des Antrags weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit potenziell eine große Zahl von Personen betreffe, da die im Königreich Spanien aufgetretene Wirtschaftskrise zu einer großen Zahl noch anhängiger Insolvenzverfahren geführt habe, die natürliche Personen beträfen und in deren Rahmen die nach dem TRLC gestellten Anträge auf Entschuldung sehr zahlreich seien. Eine schnelle Bearbeitung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens würde es demnach ermöglichen, sehr viele Rechtsstreite mit gleichem Gegenstand sachgerecht und schnell zu entscheiden.
27 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen der Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
28 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts mit Beschluss vom 28. Dezember 2022 den Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Rechtssache einem solchen beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, mit der Begründung zurückgewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung die beträchtliche Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen, die möglicherweise von der Entscheidung betroffen sind, die ein vorlegendes Gericht zu treffen hat, nachdem es den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen kann, der die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens rechtfertigen könnte (vgl. u. a. Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. September 2006, KÖGÁZ u. a., C‑283/06 und C‑312/06, nicht veröffentlicht, EU:C:2006:602, Rn. 9, sowie Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 6 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Darüber hinaus lässt keins der vom vorlegenden Gericht zur Stützung des Antrags vorgebrachten Argumente die Feststellung zu, dass die Art der Rechtssache wegen einer Dringlichkeit, die es rechtfertigt, sie einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, ihre rasche Erledigung erfordert.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
30 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung auf eine Situation anwendbar ist, in der sich der Sachverhalt nach Inkrafttreten der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, aber vor Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie ereignet hat.
31 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung, auf das sich das vorlegende Gericht bezieht, das gesamte nationale Recht betrifft, unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, um die es geht (Urteil vom 23. April 2009, Angelidaki u. a., C‑378/07 bis C‑380/07, EU:C:2009:250, Rn. 197 und die dort angeführte Rechtsprechung), und dass es, wenn es sich um eine Regelung des nationalen Rechts handelt, die nach Inkrafttreten dieser Richtlinie erlassen wurde, nicht darauf ankommt, ob diese Regelung die Umsetzung dieser Richtlinie bezweckt oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Aus ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs geht zudem hervor, dass die allgemeine Verpflichtung der nationalen Gerichte, das innerstaatliche Recht richtlinienkonform auszulegen, erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 115, und vom 23. April 2009, Angelidaki u. a., C‑378/07 bis C‑380/07, EU:C:2009:250, Rn. 201).
33 Daraus folgt, wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der sich der Sachverhalt vor dem Ablauf der Frist für die Umsetzung der betreffenden Richtlinie ereignet hat, der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung für ein nationales Gericht, das über diesen Sachverhalt zu entscheiden hat, noch nicht gilt.
34 Das für die Mitgliedstaaten geltende Verbot, während der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich zu gefährden (Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist im Rahmen der Beantwortung der zweiten Frage zu prüfen.
35 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der sich der Sachverhalt nach Inkrafttreten der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, aber vor Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie und vor ihrer Umsetzung in nationales Recht ereignet hat.
Zur dritten Frage
36 Mit seiner dritten Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Liste bestimmter Schuldenkategorien abschließend ist, und ob, falls dies nicht der Fall ist, die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, andere als die in dieser Bestimmung aufgezählten Schuldenkategorien von der Entschuldung auszuschließen, sofern ein solcher Ausschluss nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt ist.
37 Was als Erstes die Frage betrifft, ob diese Liste abschließend ist oder nicht, ist festzustellen, dass die Liste mit den Worten „etwa im Falle von“ eingeleitet wird und dass Begriffe mit der gleichen Bedeutung in den anderen Sprachfassungen von Art. 23 Abs. 4 verwendet werden, einschließlich der spanischen Sprachfassung dieser Bestimmung nach Veröffentlichung der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Berichtigung. Folglich ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass die Aufzählung der dort genannten Schuldenkategorien nicht abschließend ist.
38 Die wörtliche Auslegung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, wonach die in dieser Bestimmung enthaltene Liste nicht abschließend ist, sondern nur beispielhaften Charakter hat, wird, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, durch den 81. Erwägungsgrund der Richtlinie bestätigt, aus dem hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber der Ansicht war, die Mitgliedstaaten „sollten in ausreichend begründeten Fällen weitere Schuldenkategorien ausschließen können“.
39 Daraus folgt, dass Art. 23 Abs. 4 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Liste bestimmter Schuldenkategorien nicht abschließend ist und dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, in ausreichend gerechtfertigten Fällen andere als die in dieser Bestimmung aufgezählten Schuldenkategorien von der Entschuldung auszuschließen.
40 Was als Zweites den Ermessensspielraum betrifft, über den die Mitgliedstaaten verfügen, wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, ist festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in den Nrn. 39 bis 43 seiner Schlussanträge dargelegt hat, weder die Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz noch die Vorarbeiten zu deren Annahme Anhaltspunkte enthalten, die die u. a. vom vorlegenden Gericht vertretene Auffassung stützen könnten, nach der der Unionsgesetzgeber im Hinblick auf die innere Kohärenz der ausdrücklich in Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie genannten Schuldenkategorien den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Ausschluss anderer als der in dieser Vorschrift aufgezählten Schuldenkategorien, wie etwa öffentlicher Forderungen, von der Entschuldung beschränken wollte. Im Gegenteil geht aus diesen Vorarbeiten insbesondere hervor, dass der Unionsgesetzgeber den ausdrücklichen Willen hatte, den Mitgliedstaaten einen gewissen Ermessensspielraum zu lassen, damit sie bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht der wirtschaftlichen Lage und den innerstaatlichen Rechtsstrukturen Rechnung tragen können.
41 Als Zwischenergebnis ist daher festzustellen, dass Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass er den Ermessensspielraum nicht einschränkt, über den die Mitgliedstaaten bei der Auswahl anderer als der in dieser Bestimmung aufgezählten Schuldenkategorien verfügen, die sie von der Entschuldung ausschließen wollen.
42 Allerdings hat der Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgeschrieben, dass die Mitgliedstaaten von der auf diese Weise in Art. 23 Abs. 4 eingeräumten Möglichkeit nur Gebrauch machen dürfen, wenn solche Ausschlüsse „ausreichend gerechtfertigt“ sind. Daraus folgt, dass sich, wenn der nationale Gesetzgeber solche Ausnahmeregelungen erlässt, die Gründe für diese Ausnahmeregelungen aus dem nationalen Recht oder dem Verfahren, das zu diesen Ausnahmeregelungen geführt hat, ergeben müssen und dass mit diesen Gründen ein berechtigtes öffentliches Interesse verfolgt werden muss.
43 Insoweit lassen sowohl der 78. Erwägungsgrund der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, der auf Ausnahmen Bezug nimmt sind, „die mit im nationalen Recht festgelegten Gründen ausreichend gerechtfertigt sind“, als auch der 81. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, in dem von einem „im nationalen Recht … ausreichend begründete[n]“ Grund die Rede ist, den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber es für ausreichend hielt, dass die dafür in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen vorgesehenen Modalitäten eingehalten werden.
44 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Liste bestimmter Schuldenkategorien nicht abschließend ist und dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, andere als die in dieser Bestimmung aufgezählten Schuldenkategorien von der Entschuldung auszuschließen, sofern ein solcher Ausschluss nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt ist.
Zur zweiten Frage
45 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine von den nationalen Gerichten vorgenommene Auslegung einer nationalen Regelung, die auf einen Sachverhalt anwendbar ist, der sich nach Inkrafttreten der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, aber vor Ablauf der Frist für deren Umsetzung ereignet hat, und nach der der Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung in dieser Regelung nicht ausreichend gerechtfertigt ist, die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Frist ernstlich gefährden könnte.
46 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wie sich aus der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels nach Ablauf der Frist für ihre Umsetzung ernstlich zu gefährden.
47 Da alle Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts zu gewährleisten, gilt das in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannte Verbot auch für die nationalen Gerichte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 121 und 122 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie so weit wie möglich unterlassen müssen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde (Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 123).
49 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz nach ihrem Art. 1 Vorschriften enthält, die erstens präventive Restrukturierungsrahmen betreffen, die Schuldnern in finanziellen Schwierigkeiten bei einer wahrscheinlichen Insolvenz zur Verfügung stehen, zweitens Verfahren, die zur Entschuldung insolventer Unternehmer führen, und drittens Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren. Was speziell das Verfahren der Entschuldung betrifft, besteht das Ziel dieser Richtlinie, wie sich aus ihrem Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem ersten Erwägungsgrund ergibt, darin, dass redliche insolvente oder überschuldete Unternehmer Zugang zu mindestens einem Verfahren haben, das zu einer vollen Entschuldung gemäß dieser Richtlinie führen kann, und dadurch eine zweite Chance erhalten können.
50 Allerdings erlaubt Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie es den Mitgliedstaaten, wie in den Rn. 37 bis 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung auszuschließen, sofern ein solcher Ausschluss ausreichend gerechtfertigt ist. Ferner müssen die Gerichte der Mitgliedstaaten es, wie aus der in den Rn. 46 bis 48 angeführten Rechtsprechung hervorgeht, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie so weit wie möglich unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.
51 Der Umstand, dass ein nationaler Gesetzgeber den Ausschluss einer Schuldenkategorie wie öffentlicher Forderungen von der Entschuldung vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz nicht ausreichend gerechtfertigt hat, ist jedoch als solcher nicht geeignet, die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels ernstlich zu gefährden. Diese Richtlinie erlaubt es den Mitgliedstaaten nämlich, Schuldenkategorien wie öffentliche Forderungen von der Entschuldung auszuschließen, und zwar ungeachtet ihres Ziels, redlichen insolventen oder überschuldeten Unternehmern eine zweite Chance einzuräumen, indem ihnen Zugang zu einem Verfahren gewährt wird, das zu einem vollständigen Schuldenerlass führen kann. Außerdem berührt eine solche fehlende Rechtfertigung des nationalen Gesetzgebers für den Ausschluss öffentlicher Forderungen von den Entschuldungsverfahren nicht dessen Möglichkeit, eine angemessene Rechtfertigung für diesen Ausschluss zu liefern, wenn er ihn nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie beibehält.
52 Zwar ist es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände im Ausgangsverfahren zu beurteilen, ob das TRLC, das mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 angenommen wurde, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels ernsthaft gefährden könnte, doch kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht auf der Grundlage der Angaben in den ihm vorliegenden Akten sachdienliche Hinweise für diese Beurteilung geben.
53 Hierzu ist festzustellen, dass zum einen der spanische Gesetzgeber, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, die Rechtfertigung für den Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung nach nationalem Recht in der Präambel des Gesetzes 16/2022 zur Umsetzung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz begründet hat. Somit ist der spanische Gesetzgeber offenbar nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie der in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtung nachgekommen, den Ausschluss zu rechtfertigen.
54 Zum anderen sind, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, im Einklang mit der Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) die Präambel und die Begründungen der spanischen Rechtsvorschriften integraler Bestandteil dieser Rechtsvorschriften und für deren Auslegung relevant, da das Organ, von dem sie stammen, darin die Daseinsberechtigung der Rechtsvorschriften (ratio legis) erläutert. Soweit der spanische Gesetzgeber den Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung in der Präambel des Gesetzes 16/2022 gerechtfertigt hat, scheint es, dass er grundsätzlich eine Rechtfertigung nach nationalem Recht geliefert hat und dass insbesondere das Fehlen einer Rechtfertigung in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung des TRLC nicht dazu führen kann, dass die Verwirklichung des mit der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz verfolgten Ziels nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie ernstlich gefährdet wird.
55 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass eine von den nationalen Gerichten vorgenommene Auslegung einer nationalen Regelung, die auf einen Sachverhalt anwendbar ist, der sich nach Inkrafttreten der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, aber vor Ablauf der Frist für deren Umsetzung ereignet hat, und nach der der Ausschluss öffentlicher Forderungen von der Entschuldung in dieser Regelung nicht ausreichend gerechtfertigt ist, die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Frist nicht ernstlich gefährden kann.