R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Wirtschaftsrecht
11.04.2024
Wirtschaftsrecht
BGH: Prozesskostensicherheit bei Verfahrenseinleitung vor Ablauf der Übergangsfrist des Brexit-Abkommens

BGH, Urteil vom 21.12.2023 – IX ZR 143/22

ECLI:DE:BGH:2023:211223UIXZR143.22.0

Volltext: BB-Online BBL2024-834-2

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Ein Kläger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland hat auf Verlangen des Beklagten keine Prozesskostensicherheit zu leisten, wenn das gerichtliche Verfahren vor dem Ablauf der Übergangsfrist des Brexit-Abkommens eingeleitet worden ist.

Brexit-Abkommen Art. 67 Abs. 2 Buchst. a; Brüssel I-VO Art. 38 Abs. 2; ZPO

§ 110 Abs. 2 Nr. 2

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Verpflichtung des Klägers zur Leistung einer Prozesskostensicherheit nach §§ 110 ff ZPO.

Der Kläger nimmt den Beklagten mit seiner im Jahr 2014 vor dem Landgericht erhobenen Klage wegen Ansprüchen nach dem Anfechtungsgesetz auf Zahlung von 835.000 € in Anspruch. Der Kläger ist kanadischer Staatsangehöriger und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in London. Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 15. September 2021, dem Kläger die Stellung einer Prozesskostensicherheit aufzugeben, weil der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (im Folgenden Vereinigtes Königreich) habe, welches seit dem 1. Januar 2021 nicht mehr Mitglied der Europäischen Union sei.

Das Landgericht hat den Antrag durch Zwischenurteil zurückgewiesen. Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag weiter.

Aus den Gründen

4          Die Revision hat keinen Erfolg.

 

I.

5          Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Gemäß § 111 ZPO könne der Beklagte grundsätzlich auch dann wegen der Prozesskosten Sicherheit verlangen, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung erst im Lauf des Rechtsstreits eintreten. Der im Vereinigten Königreich wohnhafte Kläger habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, weil der Übergangszeitraum, während dessen das Vereinigte Königreich weiterhin als Mitgliedstaat der Europäischen Union gegolten habe, am 31. Dezember 2020 abgelaufen sei. Der Kläger habe aber keine Prozesskostensicherheit nach § 110 Abs. 1 ZPO zu leisten, weil der Beklagte im Fall seines Obsiegens hinsichtlich seines Kostenerstattungsanspruchs durch einen völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinreichend geschützt sei. Zugunsten des Klägers greife nicht bereits der Ausnahmetatbestand des § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ein, wonach aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags keine Sicherheit verlangt werden könne. Art. 9 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (BGBl. II 1959 S. 998; im Folgenden Europäisches Niederlassungsabkommen) komme nicht zur Anwendung, weil der Kläger nicht die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitze, sondern kanadischer Staatsangehöriger sei. Der Kläger habe aber nach § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO keine Prozesskostensicherheit zu leisten, weil die Entscheidung über die Erstattung der Prozesskosten an den Beklagten aufgrund völkerrechtlicher Verträge, hier der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EU 2012 L 351 S. 1; im Folgenden Brüssel Ia-Verordnung), vollstreckt werden könne. Art. 39 Brüssel Ia-VO erfasse auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse eines Gerichtsbediensteten. Nach Art. 67 Abs. 2 Buchst. a des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. EU 2020 L 29 S. 7; im Folgenden Brexit-Abkommen) sei die Brüssel Ia-Verordnung weiterhin auf die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen anwendbar, die in vor dem Ablauf des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen seien, wenn der Fall einen Bezug zum Vereinigten Königreich aufweise. Auch wenn Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen die Anwendung der Brüssel Ia-Verordnung nur für öffentliche Urkunden, gerichtliche Vergleiche und Urteile anordne, würden auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse eines Gerichtsbediensteten erfasst. Jedes andere Verständnis laufe dem Sinn und Zweck des Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen zuwider.

 

II.

6          Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung im Ergebnis stand. Das Berufungsgericht hat den Antrag des Beklagten auf Leistung einer Prozesskostensicherheit mit Recht zurückgewiesen, weil der Kläger gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht zur Sicherheitsleistung verpflichtet ist.

 

7          1. Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit nicht schon gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Nr. 1 Europäisches Niederlassungsabkommens ausgeschlossen ist. Art. 9 Nr. 1 Europäisches Niederlassungsabkommens sieht zwar eine Befreiung der Staatsangehörigen eines Vertragsstaats, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Vertragsstaat haben, von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit vor. Obwohl das Vereinigte Königreich Vertragsstaat des Europäischen Niederlassungsabkommens ist, findet die Vorschrift im Streitfall jedoch keine Anwendung. Gemäß Art. 30 Nr. 1 Europäisches Niederlassungsabkommen gilt das Abkommen für alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitzen (BGH, Beschluss vom 27. September 2022 - VI ZR 68/21, ZIP 2022, 2463 Rn. 11). Daran fehlt es hier. Der Kläger besitzt ausschließlich die kanadische Staatsbürgerschaft; Kanada ist nicht Vertragsstaat des Europäischen Niederlassungsabkommens. Der Umstand, dass der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit vielen Jahren im Vereinigten Königreich hat, führt zu keinem anderen Ergebnis.

 

8          2. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Pflicht zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen, Art. 39 Brüssel Ia-VO ausgeschlossen ist. Es hat dabei übersehen, dass die Brüssel Ia-Verordnung nach Art. 66 Abs. 1 Brüssel Ia-VO nur auf Verfahren anwendbar ist, die am 10. Januar 2015 oder danach eingeleitet worden sind. Dieser Stichtag gilt auch für Kostenfestsetzungsbeschlüsse, die nach dem deutschen Zivilprozessrecht in einem gesonderten Kostenfestsetzungsverfahren ergehen. Auch wenn das deutsche Zivilprozessrecht zwischen der Auferlegung der Kostenlast in einer Entscheidung nach §§ 91 ff ZPO und der gesonderten Kostenfestsetzung in einem eigenen Titulierungsverfahren nach §§ 103, 104 ZPO unterscheidet, gelten Kostenfestsetzungsbeschlüsse unionsrechtlich als Annexentscheidungen zum ursprünglich eingeleiteten Klageverfahren (vgl. Stein/Jonas/Koller, ZPO, 23. Aufl., Art. 45 EuGVVO Rn. 59; MünchKomm-ZPO/Gottwald, 6. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 25; Peiffer/Peiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, 2023, Art. 45 EuGVVO Rn. 58). Für die Anerkennung oder Vollstreckung von Kostenfestsetzungsbeschlüssen findet die Brüssel Ia-Verordnung demnach nur Anwendung, wenn das der Kostenfestsetzung zugrundeliegende Klageverfahren vor dem Stichtag eingeleitet worden ist.

 

9          Im Streitfall hat der Kläger die Klage bereits im Jahr 2014 erhoben. Der Anwendungsbereich der Brüssel Ia-Verordnung war demnach - unabhängig von dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU - zu keinem Zeitpunkt eröffnet.

 

10        3. Die Pflicht zur Leistung einer Prozesskostensicherheit ist jedoch gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen, Art. 66 Abs. 2 Brüssel Ia-VO, Art. 38 ff Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2001 L 12 S. 1; im Folgenden Brüssel I-VO) ausgeschlossen.

 

11        a) Die Regelungen zur Vollstreckung von in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat in Art. 38 ff Brüssel I-VO sind auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gemäß Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen weiter anwendbar.

 

12        Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen regelt zwar ausdrücklich nur die Weitergeltung der Brüssel Ia-Verordnung auf die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen, die in vor dem Ablauf des Übergangszeitraums eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen sind. Die Verweisung auf die Brüssel Ia-Verordnung erfasst allerdings auch die Regelung in Art. 66 Abs. 2 Brüssel Ia-VO, die für vor dem 10. Januar 2015 eingeleitete gerichtliche Verfahren die Fortgeltung der Normen der Brüssel I-Verordnung anordnet (so auch die Auffassung der Europäischen Kommission in Notice to stakeholders: Withdrawal of the United Kingdom and EU rules in the field of civil justice and private international law vom 27. August 2020, S. 7 f abrufbar unter https://commission.europa.eu/system/files/2020-10/civil§justice§en§0.pdf; Wagner, IPRax 2021, 2, 7). Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen schließt damit die Anwendung der Brüssel I-Verordnung und ihrer Regelungen zur Vollstreckung von in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat in Art. 38 ff Brüssel I-VO nicht dadurch aus, dass dort lediglich die Anwendung der Brüssel Ia-Verordnung angeordnet wird.

 

13        Ein in Deutschland ergangener Kostenfestsetzungsbeschluss kann nach Art. 38 Abs. 2 Brüssel I-VO auch im Vereinigten Königreich vollstreckt werden. Art. 38 Abs. 2 Brüssel I-VO sieht die Vollstreckung einer in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung vor, wenn die Entscheidung auf Antrag eines Berechtigten zur Vollstreckung in dem betreffenden Teil des Vereinigten Königreichs registriert worden ist. Der Begriff der "Entscheidung" ist autonom auszulegen. Vollstreckbare Entscheidungen im Sinne des Art. 38 Abs. 2 Brüssel I-VO sind gemäß Art. 32 Brüssel I-VO auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse eines Gerichtsbediensteten, soweit die Hauptsacheentscheidung in den Anwendungsbereich der Brüssel I-Verordnung fällt (Rauscher/Leible, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 2011, Art. 32 Brüssel I-VO Rn. 9).

 

14        b) Der Vollstreckbarkeit eines in Deutschland zugunsten des Beklagten ergangenen Kostenfestsetzungsbeschlusses steht nicht entgegen, dass Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen in seiner deutschen Sprachfassung für die Anwendung der Regelungen der Brüssel Ia-Verordnung und der Brüssel I-Verordnung auf die Anerkennung und Vollstreckung lediglich von Urteilen und öffentlichen Urkunden spricht. Die Regelung in Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen gilt auch für Kostenfestsetzungsbeschlüsse eines Gerichtsbediensteten.

 

15        aa) Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen nennt in seinem Einleitungssatz und in den nachfolgenden Untergliederungen in Buchst. a - d in unterschiedlichen Zusammenhängen Urteile, Entscheidungen, öffentlichen Urkunden, gerichtliche Vergleiche und Gerichtsstandsvereinbarungen. Die Anwendung der Brüssel Ia-Verordnung und (über Art. 66 Abs. 2 Brüssel Ia-VO) der Brüssel I-Verordnung ist in Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen vorgesehen für die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen, die in vor dem Ablauf des Übergangszeitraums eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen sind, sowie von öffentlichen Urkunden, die vor dem Ablauf des Übergangszeitraums förmlich errichtet oder eingetragen beziehungsweise gebilligt oder geschlossen worden sind. Beschlüsse oder sonstige Entscheidungen werden in der Regelung nicht genannt. In gleicher Weise stellen Art. 67 Abs. 2 Buchst. b und d Brexit-Abkommen für die Verordnung (EU) Nr. 2201/2003 und die Verordnung (EG) Nr. 805/2004 auf den Begriff des Urteils ab, ohne Beschlüsse oder sonstige Entscheidungen zu erwähnen, während Art. 67 Abs. 2 Buchst. c die Anwendung der Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 4/2009 auf die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anordnet.

 

16        Der Wortlaut und die Systematik des Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen in der deutschen Fassung sprechen danach dafür, dass die Brüssel Ia-Verordnung und die Brüssel I-Verordnung in den genannten Übergangsfällen lediglich auf die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen und öffentlichen Urkunden Anwendung finden können. So definieren Art. 2 Buchst. a Brüssel Ia-VO, Art. 32 Brüssel I-VO, Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 VO (EU) Nr. 4/2009, Art. 4 Nr. 1 VO (EG) Nr. 805/2004 den Begriff der Entscheidung dahin, dass auch in einem gesonderten Kostenfestsetzungsverfahren in Deutschland ergangene Kostenfestsetzungsbeschlüsse erfasst werden. In sämtlichen der genannten Vorschriften wird der Begriff der Entscheidung dahingehend definiert, dass Entscheidung jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung ist ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder Vollstreckungsbescheid, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten. Hieraus folgt, dass der Oberbegriff der Entscheidung sowohl Urteile als auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse erfasst, der Begriff des Urteils hingegen nicht auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse meint.

 

17        bb) Aus einem Vergleich mit weiteren Sprachfassungen des Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen, die gemäß Art. 182 Brexit-Abkommen alle gleichermaßen verbindlich sind, ergibt sich jedoch, dass mit der Verwendung der Begriffe Urteil und Entscheidungen in der deutschen Sprachfassung keine inhaltliche Differenzierung einhergeht.

 

18        (1) Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen stellt in der englischen Sprachfassung für die Anwendung der Brüssel Ia-Verordnung (Buchst. a), der Verordnung (EU) Nr. 2201/2003 (Buchst. b) und der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 (Buchst. d) - vergleichbar mit der deutschen Sprachfassung der Regelung - auf "judgments" ab, während bei der Verordnung (EU) Nr. 4/2009 (Buchst. c) - ebenfalls vergleichbar mit der deutschen Sprachfassung - an den Begriff "decisions" angeknüpft wird. Diese Wortwahl entspricht allerdings auch der englischen Bezeichnung für den Begriff Entscheidung in der englischen Sprachfassung der jeweiligen Verordnungen. In ihrer jeweiligen englischen Sprachfassung wird in Art. 2 Buchst. a Brüssel Ia-VO, in Art. 2 Nr. 4 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Official Journal EU 2003 L 338 S. 1) und in Art. 4 Nr. 1 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 (Official Journal EU 2004 L 143 S. 15) bei der Legaldefinition des Begriffs Entscheidung der Begriff "judgment" verwendet, der unabhängig von deren Bezeichnung sämtliche Entscheidungen des Gerichts wie "decree, order or decision or writ of execution" aber auch eine "decision on the determination of costs or expenses by an officer of the court" erfasst. In der englischen Sprachfassung des Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 Verordnung (EG) Nr. 4/2009 (Official Journal EU 2009 L 7 S. 1) wird die gerichtliche Entscheidung hingegen als "decision" bezeichnet, die ebenfalls alle gerichtlichen Entscheidungen von ihrer Bezeichnung erfasst, namentlich "decree, order, judgment or writ of execution" und eine "decision by an officer of the court determining the cost or expenses". Die Begriffe "judgment" und "decision" werden jeweils als Oberbegriff für alle Arten von gerichtlichen Entscheidungen, auch für Kostenfestsetzungsbeschlüsse eines Gerichtsbediensteten, verwendet.

 

19        Die unterschiedliche Bezeichnung einer Entscheidung als "judgment" oder "decision" findet sich in der englischen Sprachfassung von Art. 67 Abs. 2 Buchst. a - d Brexit-Abkommen wieder. Das Brexit-Abkommen knüpft in seiner englischen Sprachfassung an den in der jeweiligen Verordnung verwendeten Oberbegriff an (Wagner, EuZW 2022, 550, 552). Eine inhaltliche Differenzierung zwischen Urteilen und Beschlüssen ist danach offensichtlich nicht beabsichtigt. Aus der englischen Sprachfassung von Art. 2 Buchst. a Brüssel Ia-VO ergibt sich zudem, dass mit dem Begriff "judgment" auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse erfasst werden.

 

20        (2) Auch weitere Sprachfassungen des Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen, wie etwa die französische, italienische, niederländische oder spanische Sprachfassung, sprechen gegen eine inhaltliche Differenzierung zwischen Urteil und Entscheidung (LG Hamburg, Urteil vom 29. März 2022 - 310 O 113/14, juris Rn. 26 ff).

 

21        In der niederländischen und der spanischen Sprachfassung von Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen findet insgesamt keine Differenzierung zwischen den Begriffen Urteil und Beschluss statt. In der niederländischen Sprachfassung wird in der gesamten Norm nur der Begriff "beslissingen" verwendet, während sich in der spanischen Sprachfassung des Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen allein der Begriff "resoluciones" findet.

 

22        cc) Für eine möglichst umfassende Anwendung auf gerichtliche Entscheidungen spricht der Zweck des Überleitungsrechts. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden (EuGH, Urteil vom 12. Oktober 2023 - C-286/22, NJW 2023, 3636 Rn. 36 mwN - KBC Verzekeringen NV/P&V Verzekeringen CVBA). Das Regelungsziel des Art. 67 Brexit-Abkommen besteht darin, die Vollstreckbarkeit von Titeln aller Art umfassend zu regeln. Soweit sie in einem gerichtlichen Verfahren ergehen, soll sich das die Vollstreckbarkeit regelnde Recht einheitlich nach dem Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens richten. Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen stellt so sicher, dass sämtliche gerichtliche Entscheidungen in Verfahren, die vor dem 1. Januar 2021 eingeleitet wurden, auch weiterhin nach Maßgabe der dort genannten Verordnungen vollstreckt werden können. Es ist - wie dies die Sprachfassungen weit überwiegend zum Ausdruck bringen - allein zweckmäßig, das in einem Verfahren ergangene Urteil und den daran anschließenden Kostenfestsetzungsbeschluss demselben Anerkennungs- und Vollstreckungsregime zu unterwerfen.

 

23        c) Der zeitliche Anwendungsbereich von Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen ist eröffnet. Nachdem die Klage im Streitfall bereits im Jahr 2014 erhoben worden ist, würde ein Kostenfestsetzungsbeschluss zugunsten des Beklagten in einem im Sinne des Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen vor dem Ablauf des Übergangszeitraums eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergehen.

 

24        Der Übergangszeitraum ist gemäß Art. 126 Brexit-Abkommen am 31. Dezember 2020 abgelaufen. Für den maßgeblichen Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens ist auf den Zeitpunkt der Einleitung des Klageverfahrens und nicht auf die spätere Einleitung des Kostenfestsetzungsverfahrens abzustellen (Hau, MDR 2021, 521, 523; Wagner, EuZW 2022, 550, 552). Das Kostenfestsetzungsverfahren stellt als unselbständiges Annexverfahren zum eigentlichen Klageverfahren kein eigenständiges Verfahren im Sinne des Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen dar.

 

25        d) Die Vollstreckung eines zugunsten des Beklagten ergehenden Kostenfestsetzungsbeschlusses würde auch aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfolgen. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Brüssel I-Verordnung ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinne dieser Norm wäre. Die Vollstreckung des Kostenfestsetzungsbeschlusses würde vorliegend gemäß Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen erfolgen, wonach bestimmte Normen des europäischen Rechts weiterhin fortgelten sollen. Bei dem Brexit-Abkommen handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag.

 

26        e) Der Vollstreckbarkeit des Kostenfestsetzungsbeschlusses steht auch nicht entgegen, dass englische Gerichte Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen abweichend von der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Auffassung auslegen könnten. Dabei kann offenbleiben, ob das Risiko, dass die Gerichte im Vollstreckungsstaat einen völkerrechtlichen Vertrag anders auslegen als deutsche Gerichte, der Vollstreckbarkeit eines Kostenfestsetzungsbeschlusses im Sinne von § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO grundsätzlich entgegenstehen kann oder ob dieses Risiko jeder Vollstreckung im Ausland immanent und daher grundsätzlich hinzunehmen ist (vgl. zum wirtschaftlichen Risiko der Vollstreckung MünchKomm-ZPO/Schulz, 6. Aufl., § 110 Rn. 23; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 20. Aufl., § 110 Rn. 5; Stein/Jonas/Muthorst, ZPO, 23. Aufl., § 110 Rn. 40; Wieczorek/Schütze/Schütze, ZPO, 5. Aufl., § 110 Rn. 62). Aufgrund der klaren Systematik der englischen Sprachfassung des Art. 67 Abs. 2 Brexit-Abkommen kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass die britischen Gerichte zu einem anderen Auslegungsergebnis gelangen werden. Allein die abstrakte Gefahr einer abweichenden Auslegung, die bei jedem völkerrechtlichen Vertrag besteht, steht der Annahme einer Vollstreckungsmöglichkeit nicht entgegen.

 

27        f) Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV ist nicht geboten. Die richtige Auslegung des Art. 67 Abs. 2 Buchst. a Brexit-Abkommen ist angesichts des Wortlauts der übrigen Sprachfassungen der Norm derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte clair", vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs 283/81, DVBl 1983, 267, 268 - C.I.L.F.I.T.; vom 9. September 2015 - C-160/14, EuZW 2016, 111 Rn. 38 f; vom 6. Oktober 2021 - C-561/19, NJW 2021, 3303 Rn. 47 - Consorzio Italian Management ua/Rete Ferroviaria Italiana SpA).

stats