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Wirtschaftsrecht
16.03.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Papierfabriek Doetinchem – Zur Frage, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt i. S. v. Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 6/2002 sind

EuGH, Urteil vom 2.3.2023 – C-684/21, Papierfabriek Doetinchem BV gegen Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co.

ECLI:EU:C:2023:141

Volltext: BB-Online BBL2023-641-2

unter www.betriebs-berater.de

 

Tenor

1. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt im Sinne dieser Bestimmung sind, im Hinblick auf alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, insbesondere diejenigen, die die Wahl dieser Merkmale leiten, das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich diese technische Funktion erfüllen lässt, und den Umstand, dass der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters auch Inhaber einer Vielzahl alternativer Geschmacksmuster ist, zu beurteilen ist, doch ist der zuletzt genannte Umstand für die Anwendung dieser Bestimmung nicht entscheidend.

2. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ist dahin auszulegen, dass bei der Prüfung der Frage, ob die Erscheinungsform eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt ist, der Umstand, dass die Gestaltung dieses Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, nicht zu berücksichtigen ist, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 und von Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).

2            Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Papierfabriek Doetinchem BV und der Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co. (im Folgenden: Sprick); dieser Rechtsstreit betrifft eine Verletzungsklage wegen einer angeblichen Verletzung von Rechten aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster, dessen Inhaber Sprick ist.

 

Rechtlicher Rahmen

3          Der zehnte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 lautet:

„Technologische Innovationen dürfen nicht dadurch behindert werden, dass ausschließlich technisch bedingten Merkmalen Geschmacksmusterschutz gewährt wird. Das heißt nicht, dass ein Geschmacksmuster unbedingt einen ästhetischen Gehalt aufweisen muss. Ebenso wenig darf die Interoperabilität von Erzeugnissen unterschiedlichen Fabrikats dadurch behindert werden, dass sich der Schutz auf das Design mechanischer Verbindungselemente erstreckt. Dementsprechend dürfen Merkmale eines Geschmacksmusters, die aus diesen Gründen vom Schutz ausgenommen sind, bei der Beurteilung, ob andere Merkmale des Geschmacksmusters die Schutzvoraussetzungen erfüllen, nicht herangezogen werden.“

4          Art. 3 („Begriffe“) der Verordnung Nr. 6/2002 bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet:

a)         ‚Geschmacksmuster‘ die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt;

b)         ‚Erzeugnis‘ jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand, einschließlich – unter anderem – der Einzelteile, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern; ein Computerprogramm gilt jedoch nicht als ‚Erzeugnis‘;

…“

 

5          In Art. 6 („Eigenart“) der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es:

„(1)       Ein Geschmacksmuster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, …

…“

 

6          Art. 8 („Durch ihre technische Funktion bedingte Geschmacksmuster und Geschmacksmuster von Verbindungselementen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sieht vor:

„Ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster besteht nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind.“

7          Art. 10 („Schutzumfang“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 lautet:

„Der Umfang des Schutzes aus dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster erstreckt sich auf jedes Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt.“

8          In Art. 36 („Erfordernisse der Anmeldung“) der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es:

„(1)       Die Anmeldung des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters muss enthalten:

a)         einen Antrag auf Eintragung;

b)         Angaben, die auf die Identität des Anmelders schließen lassen;

c)         eine zur Reproduktion geeignete Wiedergabe des Geschmacksmusters. …

…“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

9          Sprick ist eine Gesellschaft, die einen Packpapierspender produziert. Sie ist Inhaberin des Gemeinschaftsgeschmacksmusters Nr. 001344022‑0006 betreffend ein „Packing Device“ (Verpackungsgerät), das am 19. September 2012 angemeldet, am 17. Oktober 2012 eingetragen sowie veröffentlicht wurde und im Folgenden abgebildet ist:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10        Papierfabriek Doetinchem produziert und vertreibt ein Konkurrenzerzeugnis des von Sprick produzierten Erzeugnisses.

11        Unter Geltendmachung einer Verletzung der Rechte aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschmacksmuster erhob Sprick beim Landgericht Düsseldorf (Deutschland) gegen Papierfabriek Doetinchem eine u. a. auf Unterlassung dieser Verletzung gerichtete Klage. Papierfabriek Doetinchem erhob Widerklage auf Nichtigerklärung dieses Geschmacksmusters mit der Begründung, dass alle seine Merkmale allein durch die technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses bedingt seien.

12        Mit Urteil vom 18. Mai 2017 gab das Landgericht Düsseldorf den Anträgen von Sprick statt und wies die Widerklage von Papierfabriek Doetinchem mit der Begründung ab, dass die Merkmale des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschmacksmusters angesichts des Bestehens „zahlreicher Gestaltungsalternativen“ dieses Erzeugnisses nicht ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt seien.

13        Papierfabriek Doetinchem legte gegen dieses Urteil beim Oberlandesgericht Düsseldorf (Deutschland) Berufung ein. Letzteres erklärte mit Urteil vom 27. Juni 2019 das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Geschmacksmuster mit der Begründung für nichtig, dass dessen sämtliche Merkmale durch die technische Funktion des genannten Erzeugnisses bedingt seien. Insoweit berücksichtigte das Oberlandesgericht Düsseldorf die von Sprick beanspruchte Patentoffenlegungsschrift EP 2 897 793, in der alle Merkmale dieses Erzeugnisses als technisch vorteilhaft erläutert worden seien, und stellte – gestützt auf das Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM (C‑395/16, EU:C:2018:172) – fest, dass das Bestehen „gangbarer Formalternativen“ unerheblich sei.

14        Auf einen von Sprick eingelegten Rechtsbehelf hin hob der Bundesgerichtshof (Deutschland) das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an dieses zurück. Der Bundesgerichtshof befand, dass das Oberlandesgericht Düsseldorf der Patentoffenlegungsschrift EP 2 897 793 von Sprick zu große Bedeutung beigemessen, die weiteren Umstände rechtsfehlerhaft gewürdigt und nicht sämtliche relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigt habe. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs hätte das Oberlandesgericht Düsseldorf erwägen müssen, ob nicht bei der Ausgestaltung des betreffenden Erzeugnisses aus zwei verbundenen Bauteilen auch visuelle Erwägungen eine Rolle gespielt hätten, weil eine solche Gestaltung die Realisierung eines zweifarbigen Erzeugnisses ermögliche, wie das real vertriebene Erzeugnis zeige. Außerdem habe das Oberlandesgericht Düsseldorf nicht außer Betracht lassen dürfen, dass Sprick über eine Reihe von Geschmacksmustern für alternative Formen verfüge, mit denen sich dieselbe technische Funktion verfolgen lasse wie mit dem nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschmacksmuster ausgeführten Erzeugnis.

15        Nach Zurückverweisung des Ausgangsverfahrens an das Oberlandesgericht Düsseldorf, das vorlegende Gericht, hat Letzteres die Ansicht vertreten, dass Rn. 30 des Urteils vom 8. März 2018, DOCERAM (C‑395/16, EU:C:2018:172), eine Auslegung stütze, wonach im Rahmen der in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgesehenen Gesamtwürdigung der objektiven Umstände des Einzelfalls dem Bestehen anderweitiger Geschmacksmuster nur eine geringe Bedeutung zukomme, wenn der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters auch für diese anderweitigen Geschmacksmuster Geschmacksmusterschutz in Anspruch nehme.

16        In Bezug auf die Beurteilung des Bundesgerichtshofs, wonach das vorlegende Gericht hätte prüfen müssen, ob der aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschmacksmuster ersichtlichen zweiteiligen Gestaltung des betreffenden Erzeugnisses nicht visuelle Erwägungen zugrunde gelegen hätten, da diese Gestaltung eine nicht durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingte Zweifarbigkeit ermögliche, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Zweifarbigkeit nicht aus der Eintragung dieses Geschmacksmusters ersichtlich sei.

 

17        Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.         Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Prüfung, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, im Blick auf das fragliche Geschmacksmuster, auf die objektiven Umstände, aus denen die Motive für die Wahl der Erscheinungsmerkmale des betreffenden Erzeugnisses deutlich werden, auf Informationen über dessen Verwendung oder auch auf das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt, vorzunehmen (Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172). Welche Bedeutung kommt im Hinblick auf den Gesichtspunkt des Bestehens anderer Geschmacksmuster dem Umstand zu, dass der Inhaber des Geschmacksmusters auch für eine Vielzahl alternativer Geschmacksmuster über Musterrechte verfügt?

2.         Ist bei der Prüfung, ob die Erscheinungsform ausschließlich durch die technische Funktion bedingt ist, zu berücksichtigen, dass die Gestaltung eine Mehrfarbigkeit ermöglicht, wenn die farbliche Gestaltung als solche nicht aus der Eintragung ersichtlich ist?

3.         Falls die zweite Frage zu bejahen ist: Hat dies Einfluss auf den Schutzumfang des Geschmacksmusters?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

18        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt im Sinne dieser Bestimmung sind, im Hinblick auf die objektiven Umstände, die die Wahl dieser Merkmale leiten, das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich diese technische Funktion erfüllen lässt, oder den Umstand, dass der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters Inhaber einer Vielzahl alternativer Geschmacksmuster ist, zu beurteilen ist.

19        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Geschmacksmuster in Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 6/2002 als die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon definiert wird, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt. Somit ist die Erscheinungsform im Rahmen der in der Verordnung vorgesehenen Systematik das entscheidende Merkmal eines Geschmacksmusters (Urteile vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Oktober 2021, Ferrari, C‑123/20, EU:C:2021:889, Rn. 30).

20        Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, der – wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Verordnung ergibt – verhindern soll, dass technologische Innovationen behindert werden, bestimmt, dass ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses besteht, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind. Diese Bestimmung schließt den durch diese Verordnung gewährten Schutz daher für den Fall aus, dass das Bedürfnis, eine technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses zu erfüllen, der einzige Faktor ist, der den Entwerfer dazu bewogen hat, sich für ein bestimmtes Erscheinungsmerkmal dieses Erzeugnisses zu entscheiden, während anderweitige Erwägungen – insbesondere solche, die mit der visuellen Erscheinung des Erzeugnisses zusammenhängen – bei der Entscheidung für dieses Merkmal keine Rolle gespielt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 26, 29 und 31).

21        Was insbesondere die Existenz alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe Funktion wie die des betreffenden Erzeugnisses erfüllen lässt, anbelangt, hat der Gerichtshof entschieden, dass, wenn bereits dieser Umstand genügte, um die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 auszuschließen, nicht auszuschließen wäre, dass ein Wirtschaftsteilnehmer mehrere denkbare Formen eines Erzeugnisses, das ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingte Erscheinungsmerkmale aufweist, als Gemeinschaftsgeschmacksmuster eintragen lässt. Dies würde ihm erlauben, hinsichtlich eines solchen Erzeugnisses von einem aus praktischer Sicht ausschließlichen Schutz, der einem Patentschutz gleichkäme, zu profitieren, ohne den für die Erlangung eines Patents geltenden Voraussetzungen zu unterliegen. Zudem könnte dies seine Konkurrenten daran hindern, ein Erzeugnis mit bestimmten funktionellen Merkmalen anzubieten, oder es würde die möglichen technischen Lösungen einschränken und damit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 die praktische Wirksamkeit nehmen. Daher ist das Bestehen alternativer Geschmacksmuster für die Anwendung dieser Bestimmung nicht ausschlaggebend (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 30 und 32). Das Gleiche gilt, wenn es sich um mehrere alternative Geschmacksmuster handelt, die der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters hat eintragen lassen.

22        Des Weiteren obliegt es dem nationalen Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob die betreffenden Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses unter Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 fallen, alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Eine solche Beurteilung ist insbesondere mit Blick auf das betreffende Geschmacksmuster, auf die objektiven Umstände, aus denen die Motive für die Wahl der Erscheinungsmerkmale dieses Erzeugnisses deutlich werden, auf Informationen über dessen Verwendung oder auch auf das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt, vorzunehmen, soweit für diese Umstände, Informationen oder Alternativen tragfähige Beweise vorliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 36 und 37).

23        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt im Sinne dieser Bestimmung sind, im Hinblick auf alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, insbesondere diejenigen, die die Wahl dieser Merkmale leiten, das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich diese technische Funktion erfüllen lässt, und den Umstand, dass der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters auch Inhaber einer Vielzahl alternativer Geschmacksmuster ist, zu beurteilen ist, doch ist der zuletzt genannte Umstand für die Anwendung dieser Bestimmung nicht entscheidend.

 

Zur zweiten Frage

24        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass bei der Prüfung der Frage, ob die Erscheinungsform eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt ist, zu berücksichtigen ist, dass die Gestaltung dieses Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, wenn die Mehrfarbigkeit als solche nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist.

25        Insoweit ist die in den Rn. 19 und 22 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung zu berücksichtigen, die die Erscheinungsform als wesentliches Element des Schutzes aus einem Geschmacksmuster und die Umstände betrifft, die bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sind, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sind.

26        Ferner ist darauf hinzuweisen, dass visuelle Erwägungen wie eine aus zwei Bestandteilen bestehende Gestaltung, die die Mehrfarbigkeit eines Erzeugnisses ermöglicht, grundsätzlich zu den Umständen gehören können, die bei dieser Beurteilung zu berücksichtigen sind, ohne jedoch an sich entscheidend zu sein.

27        Was insbesondere die Frage anbelangt, ob der Umstand, dass die Gestaltung eines Erzeugnisses dessen Mehrfarbigkeit ermöglicht, in dem Fall eines eingetragenen Geschmacksmusters berücksichtigt werden kann, wenn diese Mehrfarbigkeit in der betreffenden Eintragung nicht enthalten ist, ist darauf hinzuweisen, dass ein Geschmacksmuster durch seine Eintragung in ein öffentliches Register den zuständigen Behörden und den Verkehrskreisen, insbesondere den Wirtschaftsteilnehmern, zugänglich gemacht werden soll (Urteil vom 5. Juli 2018, Mast-Jägermeister/EUIPO, C‑217/17 P, EU:C:2018:534, Rn. 53).

28        Zum einen müssen die zuständigen Behörden die Natur der Bestandteile, die ein Geschmacksmuster ausmachen, klar und eindeutig erkennen können, damit sie in der Lage sind, ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Vorprüfung der Anmeldungen sowie auf die Veröffentlichung und Fortführung eines zweckdienlichen und genauen Geschmacksmusterregisters nachzukommen. Zum anderen müssen die Wirtschaftsteilnehmer klar und eindeutig in Erfahrung bringen können, welche Eintragungen oder Anmeldungen ihre gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerber veranlasst haben, und so einschlägige Informationen über die Rechte Dritter erlangen. Dieses Erfordernis soll somit Dritten Rechtssicherheit verschaffen (Urteil vom 5. Juli 2018, Mast-Jägermeister/EUIPO, C‑217/17 P, EU:C:2018:534, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Des Weiteren muss nach dem Wortlaut von Art. 36 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 6/2002 die Anmeldung des Geschmacksmusters eine „zur Reproduktion geeignete Wiedergabe des Geschmacksmusters“ enthalten.

30        Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass die Wiedergabe des angemeldeten Geschmacksmusters dieses Geschmacksmuster klar erkennen lassen muss (Urteil vom 28. Oktober 2021, Ferrari, C‑123/20, EU:C:2021:889, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Erfordernis der grafischen Wiedergabe dient dabei u. a. dazu, das Geschmacksmuster selbst festzulegen, um den genauen Gegenstand des Schutzes zu bestimmen, den das eingetragene Geschmacksmuster seinem Inhaber gewährt (Urteil vom 5. Juli 2018, Mast-Jägermeister/EUIPO, C‑217/17 P, EU:C:2018:534, Rn. 51 und 52), und um den in den Rn. 27 und 28 des vorliegenden Urteils genannten Zielen zu entsprechen.

31        Daher ist festzustellen, dass die bloße Möglichkeit einer Mehrfarbigkeit, die die zweigeteilte Gestaltung des betreffenden Erzeugnisses zulässt, einen subjektiven Charakter aufweist, wenn diese Mehrfarbigkeit in der Wiedergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschmacksmusters nicht enthalten ist, und dass sie als solche nicht ausreichen kann, um die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgesehenen Ausnahme auszuschließen. Die umgekehrte Auslegung könnte zu Ungenauigkeiten oder zu Ungewissheit in Bezug auf den genauen Schutzgegenstand dieses Geschmacksmusters führen und die Rechtssicherheit beeinträchtigen.

32        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass bei der Prüfung der Frage, ob die Erscheinungsform eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt ist, der Umstand, dass die Gestaltung dieses Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, nicht zu berücksichtigen ist, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist.

 

Zur dritten Frage

33        Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Fall der Bejahung der zweiten Frage die Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass die Gestaltung des betreffenden Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, obwohl die Mehrfarbigkeit als solche nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist, Einfluss auf den Schutzumfang dieses Geschmacksmusters hat.

34        Angesichts der Antwort auf die zweite Frage erübrigt sich jedoch die Beantwortung der dritten Frage.

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