BGH: Notarhaftung, Vermutung beratungsgerechten Verhaltens
BGH, Urteil vom 15.6.2023 – III ZR 44/22
ECLI:DE:BGH:2023:150623UIIIZR44.22.0
Volltext: BB-Online BBL2023-1858-3
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Amtliche Leitsätze
Schuldet ein Notar einen bestimmten Rat, Hinweis oder eine bestimmte Warnung, so spricht der erste Anschein dafür, dass die Beteiligten dem gefolgt wären. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass bei ordnungsgemäßem Verhalten nach der Lebenserfahrung lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte oder sämtliche vernünftigen Verhaltensmöglichkeiten identische Schadensbilder ergeben hätten. Besteht dagegen nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern kommen verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht und bergen sämtliche gewisse Risiken in sich, ist für einen Anscheinsbeweis kein Raum (Bestätigung von Senat, Urteil vom 10. Juli 2008 – III ZR 292/07, WM 2008, 1753 Rn. 14; Übernahme von BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 36 mwN für die Notarhaftung; Abgrenzung von BGH, Urteile vom 8. Mai 2012 – XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159 und vom 15. Juli 2016 – V ZR 168/15, BGHZ 211, 216).
BNotO § 19 Abs. 1 Satz 1; ZPO § 287
Sachverhalt
Die Klägerin begehrt die Feststellung der Schadensersatzpflicht des beklagten Notars wegen der Verletzung von Amtspflichten bei der Beurkundung eines Kaufvertrags über ein Erbbaurecht.
Die Klägerin beabsichtigte, ein Einfamilienhaus zu erwerben, um dieses mit ihrem Lebensgefährten, dem Zeugen Dr. J. (im Folgenden: Zeuge), und der gemeinsamen Tochter zu bewohnen. Im Jahr 2012 wurde sie auf ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Erbbaurechtsgrundstück aufmerksam, das Bestandteil eines Nachlasses war, für den eine Pflegschaft angeordnet war. Ein Verkehrswertgutachten hatte einen Wert des Erbbaurechts von 200.000 € und einen Renovierungsaufwand von 26.000 € ermittelt. Erste Verhandlungen mit dem Nachlasspfleger über den Kauf des Erbbaurechts blieben erfolglos.
Am 14. Februar 2013 wurde ein Kaufvertrag über das Erbbaurecht mit einem anderen Interessenten zu einem Kaufpreis von 140.000 € durch einen anderen Notar beurkundet. Nachdem der Zeuge hiervon erfahren hatte, bot die Klägerin nunmehr 160.000 €. Zugleich führte sie mit dem Grundstückseigentümer Gespräche über den Erwerb des Eigentums.
Am 29. Mai 2013 übersandte der beklagte Notar der Klägerin einen Vertragsentwurf, in dem es unter § 2 heißt, der Käufer übernehme sämtliche Rechte und Verpflichtungen aus dem Erbbaurechtsvertrag vom 19. Juni 1979, der ihm bekannt sei und von dem er eine Kopie erhalten habe. Der Erbbaurechtsvertrag enthält eine Instandhaltungsverpflichtung des Erbbauberechtigten und eine Heimfallklausel unter anderem für den Fall einer nicht ordnungsgemäßen Instandhaltung gegen eine Entschädigung in Höhe von 2/3 des gemeinen Werts der errichteten Gebäude.
Der Beklagte beurkundete am 7. Juni 2013 den Kaufvertrag (im Folgenden auch: Vertrag) zwischen der Klägerin und dem für die unbekannten Erben handelnden Nachlasspfleger. Der Beklagte hatte den Erbbaurechtsvertrag vor der Beurkundung nicht beigezogen und die Klägerin über den Inhalt und die rechtliche Tragweite des Erbbaurechtsvertrages nicht belehrt. Der Vertrag mit der Klägerin wurde vom Nachlassgericht genehmigt, nicht dagegen der frühere Kaufvertrag mit dem geringeren Kaufpreis.
Die Klägerin wurde ins Grundbuch eingetragen. Die Verhandlungen mit dem Eigentümer über den Erwerb des Eigentums scheiterten im Mai 2017 an auseinanderliegenden Kaufpreisvorstellungen. Inzwischen macht der Eigentümer unter dem Vorwurf, die Klägerin habe die Instandhaltungsverpflichtung verletzt, einen Heimfallanspruch geltend.
Die Klägerin hat - soweit für das Revisionsverfahren relevant - geltend gemacht, der Notar habe seine Amtspflichten zur Sachverhaltsaufklärung sowie zur Belehrung über die rechtliche Tragweite des Geschäfts aus § 17 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BeurkG verletzt, indem er es unterlassen habe, den Erbbaurechtsvertrag anzufordern und die Klägerin entsprechend zu belehren. Sie behauptet, entgegen § 2 des Vertrags habe ihr keine Kopie des Erbbaurechtsvertrags vorgelegen; hierauf habe der Zeuge den Beklagten ausdrücklich hingewiesen. Hätte sie von der Instandhaltungsverpflichtung und der Heimfallklausel gewusst, hätte sie das Erbbaurecht nicht erworben. Sie habe bisher bereits mehr als 50.000 € für die Trocknung des Gebäudes aufgewendet, und es sei zu erheblichen Verzögerungen beim Fortschritt der Arbeiten gekommen. Für den Fall eines Heimfalls entstehe ihr weiterer Schaden, da nicht damit zu rechnen sei, dass sie den Kaufpreis und ihre bisherigen Aufwendungen vollständig erstattet erhalte.
Das Landgericht hat die auf Feststellung der Pflicht des Beklagten zum Ersatz sämtlicher Schäden, die der Klägerin im Zusammenhang mit dem Abschluss des Kaufvertrags über das Erbbaurecht entstanden sind, gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Versäumnisurteil zurückgewiesen, das es durch das angefochtene Urteil aufrechterhalten hat. Mit der vom Senat zugelassenen Revision möchte die Klägerin ihr Begehren in vollem Umfang weiterverfolgen.
Aus den Gründen
9 Die zulässige Revision ist unbegründet. I.
10 Das Berufungsgericht hat ausgeführt, es könne dahinstehen, ob für die Feststellungsklage ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe, da diese jedenfalls unbegründet sei. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Schadensersatz aus § 19 Abs. 1 Satz 1 BNotO. Zwar habe der Beklagte die ihm obliegenden Sachverhaltsaufklärungs- und Belehrungspflichten aus § 17 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BeurkG verletzt, indem er es unterlassen habe, den Erbbaurechtsvertrag anzufordern, einzusehen und auf seine Relevanz hin zu überprüfen sowie die Klägerin über den bedeutsamen Inhalt in Kenntnis zu setzen und zu belehren. Das Gericht könne aber nicht mit der nach § 287 ZPO erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit feststellen, dass der Klägerin ein Schaden entstanden sei, der auf der Pflichtverletzung beruhe.
11 Nach dem Ergebnis ihrer Anhörung sowie der Vernehmung des Zeugen sei es zwar möglich, dass die Klägerin lediglich aufgrund einer aus ihrer Sicht unglücklichen Verkettung von Umständen - insbesondere einer defizitären Kommunikation zwischen ihr und dem Zeugen - irrig davon ausgegangen sei, der Erbbaurechtsvertrag habe diesem vorgelegen, und dass sie in Kenntnis des Vertragsinhalts den Kaufvertrag nicht unterschrieben hätte. Es sei indes ebenso möglich, dass der Inhalt des Erbbaurechtsvertrages für sie aufgrund des beabsichtigten und von ihr erwarteten Eigentumserwerbs für die Kaufentscheidung nicht entscheidend und damit eine fehlende Aufklärung und Belehrung über den Inhalt und die rechtlichen Auswirkungen nicht kausal gewesen seien. Die Klägerin könne sich nicht auf die Vermutung beratungsgerechten Verhaltens berufen. Dies setze voraus, dass im Falle einer sachgerechten Beratung nur ein Unterbleiben der Vertragsunterzeichnung als einzig sachgerechte Reaktion zu erwarten gewesen wäre. Bestehe indessen nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern kämen verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht, die unterschiedliche Vorteile und Risiken in sich bürgten, sei grundsätzlich kein Raum für einen Anscheinsbeweis. So liege es hier, da es ebenso denkbar sei, dass die Klägerin von der Unterzeichnung Abstand genommen hätte, wie, dass es ihr auf das Erbbaurecht im Hinblick auf den erwarteten Eigentumserwerb nicht angekommen wäre. II.
12 Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung stand.
13 1. Das Berufungsgericht hat eine Verletzung einer gegenüber der Klägerin bestehenden Amtspflicht des Beklagten darin gesehen, dass dieser es unterlassen hat, den Erbbaurechtsvertrag anzufordern, einzusehen und auf seine Relevanz hin zu überprüfen sowie die Klägerin über den bedeutsamen Inhalt in Kenntnis zu setzen und zu belehren. Dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen und wird auch von dem Beklagten nicht angegriffen.
14 2. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass zur Beantwortung der Frage, welchen Schaden eine Amtspflichtverletzung zur Folge hat, in den Blick zu nehmen ist, welchen Verlauf die Dinge bei pflichtgemäßem Verhalten genommen hätten und wie die Vermögenslage des Betroffenen sein würde, wenn der Notar die Pflichtverletzung nicht begangen hätte (vgl. zB Senat, Urteile vom 16. Februar 2023 - III ZR 210/21, VersR 2023, 612 Rn. 17 und vom 10. Juli 2008 - III ZR 292/07, WM 2008, 1753 Rn. 14, jew. mwN). Dabei hat grundsätzlich der Geschädigte den haftungsausfüllenden Ursachenzusammenhang zwischen dem Haftungsgrund und dem Eintritt des geltend gemachten Schadens darzulegen und nachzuweisen, wobei das Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO gilt (stRspr, vgl. Senat, Urteile vom 23. Oktober 2014 - III ZR 82/13, NJW-RR 2015, 158 Rn. 9 und vom 10. Juli 2008 aaO jew. mwN).
15 Diesen Beweis hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei nicht als geführt angesehen. Dabei kann es dahinstehen, ob dieser Beweis bereits dann geführt ist, wenn lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Ursachenzusammenhang festzustellen ist (so BGH, Urteil vom 29. Januar 2019 - VI ZR 113/17, BGHZ 221, 43 Rn. 12 mwN) oder eine "deutlich überwiegende, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit" zu verlangen ist (so BGH, Urteil vom 5. Februar 2009 - IX ZR 6/06, NJW 2009, 1591 Rn. 14), da das Berufungsgericht bereits eine überwiegende Wahrscheinlichkeit verneint hat.
16 Ohne Erfolg rügt die Revision insoweit, das Berufungsgericht habe es unter Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör für möglich erachtet, dass es dieser auf die nähere Ausgestaltung des Erbbaurechts nicht angekommen sei. Das Berufungsgericht hat sich eingehend mit dem Vortrag der Klägerin befasst und insbesondere die Aussage des Zeugen ausführlich gewürdigt, indem es auf den Widerspruch hingewiesen hat, dass diesem nach seiner Aussage einerseits der Erbbaurechtsvertrag wichtig gewesen sei, er aber andererseits nicht nach diesem nachgefragt habe und zudem bereit gewesen sein wolle, bis kurz vor dem Termin auf die Übersendung des Erbbaurechtsvertrags zu warten, so dass die angeblich beabsichtigte eingehende Prüfung nicht mehr möglich gewesen wäre.
17 3. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht schließlich angenommen, dass die Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung beratungsrichtigen Verhaltens nicht erfüllt sind. Nach der Rechtsprechung des Senats kann sich der Geschädigte auf diese nicht berufen, wenn es - wie hier - mehrere naheliegende Handlungsmöglichkeiten gibt (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juli 2008 aaO). Rechtsprechung und Literatur sind dem gefolgt (OLG Hamm, Urteil vom 17. April 2019 - 11 U 93/18, juris Rn. 22; OLG Dresden, Urteil vom 30. März 2015 - 17 U 1717/14, juris Rn. 11; OLG Schleswig, NJW-RR 2013, 1164, 1166; BeckOK BNotO/Schramm, Stand: 1. März 2023, § 19 Rn. 204 f; Mayer in Haug/Zimmermann, Die Amtshaftung des Notars, 4. Aufl., Rn. 997; Reinhart in Heinemann/Trautrims, Notarrecht, 1. Aufl., § 19 BNotO Rn. 48; Hogl in Beck’sches Notar-Handbuch, 7. Aufl., § 35 Rn. 62; Frenz in Miermeister/Frenz, BNotO, 5. Aufl., § 19 Rn. 65; Geigel/Brodöfel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 20 Rn. 294). Der Senat sieht auch nach nochmaliger Überprüfung keine Veranlassung, in Abweichung hiervon die hinsichtlich der Beweislast für den schadenstiftenden Kausalverlauf geänderte Rechtsprechung des XI. Zivilsenats für Fälle einer Kapitalanlageberatung durch Banken (BGH, Urteil vom 8. Mai 2012 - XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159) und des V. Zivilsenats für einen Beratungsfehler des Vermittlers eines Wohnungskaufs als Kapitalanlage (BGH, Urteil vom 15. Juli 2016 - V ZR 168/15, BGHZ 211, 216) auf den Bereich der Notarhaftung zu übertragen.
18 a) Schuldet der Notar - wie hier - einen bestimmten Rat, Hinweis oder eine bestimmte Warnung, so spricht der erste Anschein dafür, dass die Beteiligten dem gefolgt wären. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass bei ordnungsgemäßem Verhalten nach der Lebenserfahrung lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte oder sämtliche vernünftigen Verhaltensmöglichkeiten identische Schadensbilder ergeben hätten. Besteht dagegen nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern kommen verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht und bergen sämtliche gewisse Risiken in sich, ist für einen Anscheinsbeweis kein Raum (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juli 2008 aaO mwN). Dies folgt daraus, dass die Lebenserfahrung, auf der der Beweis des ersten Anscheins beruht, keinen Aufschluss darüber geben kann, wie sich der Betroffene entschieden hätte, wenn er unter mehreren gleichwertigen Möglichkeiten hätte wählen können und müssen (vgl. auch BGH, Urteil vom 16. September 2021 - IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 36).
19 aa) Allerdings hat zunächst der XI. Zivilsenat in einem Kapitalanlagefall hinsichtlich der Kausalität der Verletzung vorvertraglicher Aufklärungs- oder Beratungspflichten für die Anlageentscheidung eine Beweislastumkehr auch dann angenommen, wenn für den Vertragspartner ein Entscheidungskonflikt besteht (Urteil vom 8. Mai 2012 aaO). Er hat dies damit begründet, das Abstellen auf das Fehlen eines Entscheidungskonflikts sei mit dem Schutzzweck der Beweislastumkehr nicht zu vereinbaren (aaO Rn. 33). Der Rechtsprechung zur Kausalitätsvermutung bei Verletzung einer Aufklärungspflicht liege die Erwägung zu Grunde, dass der Zweck der Aufklärungs- und Beratungspflichten nur erreicht werde, wenn Unklarheiten, die durch eine Aufklärungspflichtverletzung bedingt seien, zu Lasten des Aufklärungspflichtigen gingen (aaO Rn. 35). Wenn sich für den Kapitalanleger mehrere Handlungsalternativen stellten, sei dessen Aufklärung und Beratung von besonderer Wichtigkeit, um seine Entscheidungsfreiheit zu wahren, zumal gerade die zurückgehaltene Information geeignet gewesen wäre, den Anleger vom empfohlenen Geschäft abzubringen (aaO Rn. 36).
20 Daraufhin hat der V. Zivilsenat, der bei einem Beratungsfehler des Verkäufers für den Entschluss des Käufers zum Erwerb einer als Kapitalanlage angebotenen Immobilie eine Vermutung für die Ursächlichkeit ursprünglich nicht angewendet hat, wenn sich der Käufer bei richtiger Information in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte, seine Rechtsprechung ebenfalls geändert und entschieden, es sei in diesem Fall Sache des Verkäufers darzutun, dass die dem Käufer erteilten Fehlinformationen für dessen Entscheidung zum Kauf irrelevant gewesen seien (Urteil vom 15. Juli 2016 aaO Rn. 20). Er hat dies damit begründet, dass die Beratung durch den Verkäufer über die Wirtschaftlichkeit des Geschäfts, insbesondere durch die Vorlage eines Berechnungsbeispiels, vom Verkäufer nicht geschuldet sei und vornehmlich dessen Interesse diene, die Vermittlung des Immobilienkaufs zu fördern. Sei der Vertragsschluss nach einer solchen Beratung des Verkäufers erfolgt, sei nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass diese - wie beabsichtigt - gewirkt habe und damit für den Vertragsentschluss des Käufers ursächlich gewesen sei. Daran ändere es nichts, wenn dem Käufer bei richtiger Beratung mehrere Handlungsalternativen zur Verfügung gestanden hätten (aaO Rn. 21).
21 Der in dieser Sache erkennende Senat hat allerdings demgegenüber auch im Zusammenhang mit der Eingehung von Kapitalanlagen daran festgehalten, dass zugunsten des Anlegers für den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzungen seines Gegners und dem geltend gemachten Schaden lediglich eine durch Lebenserfahrung begründete tatsächliche Vermutung streiten kann (zB Urteile vom 5. Juni 2022 - III ZR 131/20, BGHZ 233, 279 Rn. 36 ff [Prospektfehler] und vom 16. Mai 2019 - III ZR 176/18, WM 2019, 1203 Rn. 24 [Beratungsfehler] jew. mwN). Die vorliegende Fallgestaltung gibt jedoch keine Veranlassung, auf diesen Unterschied einzugehen, da eine Beweislastumkehr schon aus den nachfolgenden Gründen unabhängig hiervon ausscheidet.
22 bb) Auf die Fälle anwaltlicher Beratung hat der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Erwägungen des XI. und V. Zivilsenats hingegen nicht für übertragbar gehalten, sondern daran festgehalten, dass ein Anscheinsbeweis für den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden dann nicht eingreift, wenn mehrere Handlungsmöglichkeiten bestehen (vgl. BGH, Urteile vom 16. September 2021 aaO Rn. 36; vom 9. Januar 2020 - IX ZR 61/19, NJW 2020, 1139 Rn. 24 und vom 16. Juli 2015 - IX ZR 197/14, NJW 2015, 3447 Rn. 23, 25 f; Beschluss vom 15. Mai 2014 - IX ZR 267/12, NJW 2014, 2795 Rn. 2 ff). Er hat dies unter Hinweis auf die Heterogenität der in Betracht kommenden anwaltlichen Pflichten damit begründet, dass nur so eine angemessene Risikoverteilung sichergestellt sei (vgl. Urteil vom 16. Juli 2015 aaO Rn. 23 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 30. September 1993 - IX ZR 73/93, BGHZ 123, 311, 315 f). Denn der mit einem rechtlichen Berater geschlossene Vertrag sei häufig so sehr durch die besonderen Umstände des Einzelfalles geprägt, dass erst deren Einbeziehung erkennen lasse, ob Raum sei für eine Vermutung, die das tatsächliche Verhalten des Mandanten betreffe (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 1993 aaO). Zudem würde der rechtliche Berater unangemessen benachteiligt, weil er die zu seinen Lasten gehende Vermutung in der Regel nicht widerlegen könnte, da er Tatsachen beweisen müsste, die ganz oder überwiegend im Einfluss- und Kenntnisbereich des Mandanten lägen (vgl. BGH aaO S. 316).
23 b) Auf der Grundlage der überzeugenden Erwägungen des IX. Zivilsenats ist auch im Bereich der Notarhaftung daran festzuhalten, dass sich der Geschädigte nur dann auf die Vermutung beratungsrichtigen Verhaltens stützen kann, wenn für ihn bei einem pflichtgemäßen Verhalten des Notars nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte oder sich bei mehreren Kausalverläufen dasselbe Schadensbild bieten würde.
24 Die vielfältigen Pflichten des Notars gemäß § 17 Abs. 1 BeurkG zur Klärung des Sachverhalts, Erforschung des Willens der Beteiligten und ihrer Belehrung sollen in erster Linie die Errichtung einer rechtswirksamen Urkunde über den wahren Willen der Beteiligten gewährleisten. Diese Pflichten sind vergleichbar heterogen wie die Beratungspflichten eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters. Ebenso wie dem Rechtsberater würde dem Notar der Nachweis solcher Umstände aufgebürdet, die ganz oder überwiegend im Einfluss- und Kenntnisbereich des Beteiligten liegen. Anders als der Vermittler einer Immobilie als Kapitalanlage handelt der Notar bei der Erfüllung seiner Pflichten nicht im eigenen Interesse, und es kann ihm nicht unterstellt werden, durch eine fehlerhafte oder unvollständige Beratung die Absicht zu verfolgen, auf den Vertragsentschluss des Beteiligten zum eigenen Vorteil einzuwirken (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 15. Juli 2016 aaO Rn. 21). Anders auch als in den Fällen eines Aufklärungs- und Beratungsfehlers eines Anlageberaters kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass gerade die zurückgehaltene Information geeignet gewesen wäre, den Beteiligten von dem Geschäft abzubringen (vgl. BGH, Urteil vom 8. Mai 2012 Rn. 36). Die Anwendung eines Anscheinsbeweises oder gar einer Beweislastumkehr auch bei Vorliegen eines Entscheidungskonflikts würde daher ebenso wie in den Fällen fehlerhafter rechtlicher Beratung zu einer unangemessenen Risikoverteilung führen. So würde der Notar im vorliegenden Fall nicht nur dann haften, wenn eine nach § 287 ZPO hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die Klägerin von vornherein angesichts der mit der Ausgestaltung des Erbbaurechts verbundenen Risiken vom Vertragsschluss abgesehen hätte. Er wäre darüber hinaus de facto auch dem Risiko einer Haftung ausgesetzt, wenn sich lediglich die Erwartungen der Klägerin, das Eigentum an dem Grundstück erwerben zu können, oder ihre Einschätzung hinsichtlich des Zustandes des Gebäudes und der Höhe der daher erforderlichen Kosten für dessen Renovierung nachträglich als unzutreffend herausstellen.