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Wirtschaftsrecht
11.04.2024
Wirtschaftsrecht
EuGH: Notare als „Unternehmen“

EuGH, Urteil vom 18.1.2024 – C-128/21

ECLI:EU:C:2024:49

Volltext: BB-Online BBL2024-833-1

unter www.betriebs-berater.de

 

Tenor

1. Art. 101 AEUV ist dahin auszulegen, dass in einem Mitgliedstaat niedergelassene Notare als „Unternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie in bestimmten Situationen Tätigkeiten der Beurkundung von grundpfandrechtlichen Vorgängen, der Erteilung einer Vollstreckungsklausel, der Ausfertigung notarieller Urkunden, der Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, der Beratung, der Erbringung technischer Dienstleistungen und der Beglaubigung von Tauschverträgen ausüben, da diese Tätigkeiten nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen.

2. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass von einem Berufsverband wie der Notarkammer eines Mitgliedstaats erlassene Vorschriften zur Vereinheitlichung der Art und Weise, in der die Notare dieses Mitgliedstaats die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

3. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung, mit denen die Art und Weise, in der die Notare die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, vereinheitlicht wird, nach dieser Bestimmung verbotene „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.

4. Art. 101 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einer nationalen Wettbewerbsbehörde verwehrt, wegen einer Zuwiderhandlung einer Unternehmensvereinigung gegen diese Bestimmung individuelle Geldbußen gegen die Unternehmen zu verhängen, die Mitglieder des Leitungsorgans dieser Vereinigung sind, wenn diese Unternehmen an der Zuwiderhandlung nicht beteiligt waren.

 

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV.

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lietuvos notarų rūmai (Notarkammer von Litauen, im Folgenden: Notarkammer) sowie M. S., S. Š, D. V., V. P., J. P., D. L.‑B., D. P. und R. O. I., natürlichen Personen, die in Litauen den Notarberuf ausüben, auf der einen Seite und dem Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba (Wettbewerbsrat der Republik Litauen, im Folgenden: Wettbewerbsrat) auf der anderen Seite wegen dessen Entscheidung, gegen die Notarkammer und diese Notare Geldbußen wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Republik Litauen und der Union zu verhängen.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:

„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] in Einzelfällen zuständig. Sie können hierzu von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen

–            Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.

…“

 

4          Art. 23 Abs. 2 und 4 dieser Verordnung sieht vor:

„(2) Die [Europäische] Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig

a) gegen Artikel [101] oder Artikel [102 AEUV] verstoßen oder

Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.

Steht die Zuwiderhandlung einer Unternehmensvereinigung mit der Tätigkeit ihrer Mitglieder im Zusammenhang, so darf die Geldbuße 10 % der Summe der Gesamtumsätze derjenigen Mitglieder, die auf dem Markt tätig waren, auf dem sich die Zuwiderhandlung der Vereinigung auswirkte, nicht übersteigen.

(4) Wird gegen eine Unternehmensvereinigung eine Geldbuße unter Berücksichtigung des Umsatzes ihrer Mitglieder verhängt und ist die Unternehmensvereinigung selbst nicht zahlungsfähig, so ist sie verpflichtet, von ihren Mitgliedern Beiträge zur Deckung des Betrags dieser Geldbuße zu fordern.

Werden diese Beiträge innerhalb einer von der Kommission gesetzten Frist nicht geleistet, so kann die Kommission die Zahlung der Geldbuße unmittelbar von jedem Unternehmen verlangen, dessen Vertreter Mitglieder in den betreffenden Entscheidungsgremien der Vereinigung waren.

Nachdem die Kommission die Zahlung gemäß Unterabsatz 2 verlangt hat, kann sie, soweit es zur vollständigen Zahlung der Geldbuße erforderlich ist, die Zahlung des Restbetrags von jedem Mitglied der Vereinigung verlangen, das auf dem Markt tätig war, auf dem die Zuwiderhandlung erfolgte.

Die Kommission darf jedoch Zahlungen gemäß Unterabsatz 2 oder 3 nicht von Unternehmen verlangen, die nachweisen, dass sie den die Zuwiderhandlung begründenden Beschluss der Vereinigung nicht umgesetzt haben und entweder von dessen Existenz keine Kenntnis hatten oder sich aktiv davon distanziert haben, noch ehe die Kommission mit der Untersuchung des Falls begonnen hat.

Die finanzielle Haftung eines Unternehmens für die Zahlung der Geldbuße darf 10 % seines im letzten Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.“

 

Litauisches Recht

Wettbewerbsgesetz

5          Art. 5 des Lietuvos Respublikos konkurencijos įstatymas (Wettbewerbsgesetz der Republik Litauen) vom 23. März 1999 (Žin., 1999, Nr. 30-856) in der durch das Gesetz Nr. XIII‑193 vom 12. Januar 2017 geänderten Fassung (im Folgenden: Wettbewerbsgesetz) sieht vor:

„(1) Vereinbarungen, die eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecken, bewirken oder bewirken können, sind verboten und von ihrem Abschluss an nichtig. Dies gilt insbesondere für

1. Vereinbarungen über die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung des Preises bestimmter Waren oder sonstiger Einkaufs- oder Verkaufskonditionen;

…“

 

Notarordnung

6          Art. 2 Abs. 1 des Lietuvos Respublikos notariato įstatymas (Gesetz über das Notariat der Republik Litauen) vom 15. September 1992 (Žin., 1992, Nr. I‑2882) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung (im Folgenden: Notarordnung) bestimmt:

„Ein Notar wird vom Staat zur Wahrnehmung der Aufgaben nach diesem Gesetz bestellt und beurkundet die Rechtmäßigkeit von Rechtsgeschäften und Dokumenten im Rahmen zivilrechtlicher Rechtsbeziehungen. Notare können auch als Mediatoren im Rahmen von zivilrechtlichen Streitigkeiten zu deren Beilegung tätig werden.“

 

7          Art. 6 Abs. 1 der Notarordnung lautet:

„Die Zahl der Notare, ihr Sitz und ihr Amtsbezirk richtet sich nach der vom Justizminister der Republik Litauen festgelegten Methode zur Ermittlung des Bedarfs der Bevölkerung an juristischen Dienstleistungen von Notaren.“

 

8          In Art. 8 der Notarordnung heißt es:

„Die Notare der Republik Litauen schließen sich in der Notarkammer … zusammen.

Jeder Notar ist Mitglied der Notarkammer.

Die Notarkammer ist eine juristische Person.

Die Satzung der Notarkammer wird von der Versammlung der Notarkammer erlassen und vom Justizminister der Republik Litauen genehmigt.“

 

9          Art. 9 der Notarordnung lautet:

„Die Notarkammer hat im Wesentlichen folgende Aufgaben:

1. Koordinierung der Tätigkeiten der Notare;

2. Gewährleistung der Verbesserung der Qualifikationen der Notare;

3. Schutz der Interessen der Notare und Vertretung dieser Interessen vor öffentlichen Stellen und Verwaltungsbehörden;

4. Erstellung von Entwürfen von Rechtsakten betreffend Fragen im Zusammenhang mit dem Notarberuf und Vorlage dieser Entwürfe an den Justizminister der Republik Litauen;

5. Vereinheitlichung der notariellen Praxis;

6. Überwachung der Art und Weise, wie Notare ihre Aufgaben und die Anforderungen an die Berufsethik erfüllen;

7. Gewährleistung der Aufbewahrung und Verwendung der im Rahmen der notariellen Tätigkeiten erstellten Dokumente;

8. Überwachung des Ablaufs des Notariatspraktikums;

9. Erfüllung anderer Aufgaben, die in anderen Gesetzen oder der Satzung der Notarkammer vorgesehen sind.“

 

10        Nach Art. 10 Nr. 7 der Notarordnung ergreift die Notarkammer im Rahmen der Wahrnehmung ihrer Aufgaben Maßnahmen zur Gewährleistung der Einheitlichkeit der notariellen Praxis.

 

11        Art. 11 Abs. 2 und 3 der Notarordnung sieht vor:

„Der Justizminister der Republik Litauen genehmigt die in diesem Gesetz vorgesehenen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Präsidiums der Notarkammer.

Ist der Justizminister der Republik Litauen der Auffassung, dass die Entschließungen oder Beschlüsse der Notarkammer mit den Rechtsvorschriften der Republik Litauen nicht vereinbar sind, kann er beim Vilniaus apygardos teismas [(Regionalgericht Vilnius, Litauen)] Klage auf Aufhebung dieser Entschließungen oder Beschlüsse erheben. Die Klage ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der angefochtenen Entschließung oder des angefochtenen Beschlusses zu erheben.“

 

12        Nach Art. 12 der Notarordnung üben die Notare ihre Tätigkeit unbeeinflusst von der öffentlichen Verwaltung und den Haushaltsbehörden aus und sind allein dem Gesetz verpflichtet.

 

13        Nach Art. 13 der Notarordnung üben die Notare ihre Tätigkeit im Einklang mit den Beschlüssen der Notarkammer aus.

 

14        In Art. 19 der Notarordnung heißt es:

„Ein Notar stellt für die Ausfertigung notarieller Urkunden, die Ausarbeitung von Rechtsgeschäften und die Erbringung von beratenden und technischen Dienstleistungen Gebühren in Rechnung, deren Höhe (Tarifierung) im Einvernehmen mit dem Minister für Finanzen der Republik Litauen und der Notarkammer vom Justizminister der Republik Litauen festgelegt wird, der hierbei die in Art. 191 dieses Gesetzes genannten Kriterien für deren Festsetzung (Tarifierung) berücksichtigt. Die Höhe der Gebühren hat dem Notar Einkünfte zu gewährleisten, die seine wirtschaftliche Unabhängigkeit, den Mandanten einen geeigneten Rahmen zur Erbringung der Dienstleistungen, die Beschäftigung von ausreichend geschulten Mitarbeitern und ein angemessen ausgestattetes Büro ermöglichen. …

In Abhängigkeit von der finanziellen Lage seines Mandanten kann der Notar dessen Gebühren ganz oder teilweise erlassen.

…“

 

15        Nach Art. 21 Abs. 1 der Notarordnung üben die Notare ihre Tätigkeit selbständig und wirtschaftlich unabhängig aus.

 

16        Art. 28 Abs. 1 der Notarordnung sieht vor:

„Notarielle Urkunden können von jedem Notar ausgefertigt werden, ausgenommen in Erbsachen. Der Justizminister der Republik Litauen legt in diesen Fällen die Amtsbezirke der Notare fest.“

 

Satzung der Notarkammer

17        Art. 8 Abs. 1 der Satzung der Notarkammer Litauens, die durch das Lietuvos Respublikos teisingumo ministro įsakymas Nr. 1R-3 (Dekret Nr. 1R-3 des Justizministers der Republik Litauen) vom 3. Januar 2008 (Žin., 2008, Nr. 6-222) genehmigt wurde (im Folgenden: Satzung der Notarkammer), bestimmt:

„Im Rahmen der Wahrnehmung ihrer Aufgaben hat die Notarkammer folgende Zuständigkeiten:

6. die Umsetzung von Maßnahmen zur Vereinheitlichung der notariellen Praxis;

7. die Bündelung der notariellen Praxis und die Bereitstellung von Stellungnahmen für die Notare;

…“

 

18        Art. 10 Nr. 4 der Satzung sieht vor, dass insbesondere die Beschlüsse des Präsidiums der Notarkammer für die Mitglieder der Notarkammer verbindlich sind.

 

19        Art. 18 Abs. 1 der Satzung lautet:

„Das Präsidium ist ein kollegiales Leitungsorgan der Notarkammer. Das Präsidium besteht aus acht Mitgliedern, die von der Versammlung der Notarkammer für die Dauer von drei Jahren bestellt (gewählt) werden.“

 

20        Art. 19 der Satzung bestimmt:

„(1) … [D]ie Notarversammlungen der betreffenden Bezirke wählen einen Bewerber, der Mitglied des Präsidiums werden soll. …

(2) Die Wahl der Bewerber, die Mitglied des Präsidiums werden sollen, findet in den Bezirken durch öffentliche oder geheime Wahl statt. …

(4) Jedes Mitglied des Präsidiums ist gegenüber der Notarversammlung des Bezirks, die seine Bewerbung vorgeschlagen hat, rechenschaftspflichtig.

(6) Der Präsident und der Vizepräsident sind Mitglieder des Präsidiums. Der Präsident leitet das Präsidium.“

 

21        Nach Art. 20 Abs. 1 der Satzung der Notarkammer stellt das Präsidium die Wahrnehmung der Aufgaben der Kammer sicher.

 

22        Art. 23 Abs. 1 der Satzung sieht vor, dass die Beschlüsse des Präsidiums mit einfacher Mehrheit durch öffentliche Abstimmung gefasst werden.

 

23        Nach Art. 26 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 3 der Satzung der Notarkammer werden der Präsident und der Vizepräsident dieser Kammer von der Versammlung der Kammer gewählt.

 

Vorläufige Gebührenordnung

24        Der Justizminister der Republik Litauen genehmigte mit dem Įsakymas Nr. 57 (Dekret Nr. 57) vom 12. September 1996 (Žin., 1996, Nr. 87-2075) die vorläufige Gebührenordnung für Notare für die Ausfertigung notarieller Urkunden, die Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, die Beratung und die Erbringung technischer Dienstleistungen (im Folgenden: vorläufige Gebührenordnung). Diese Gebührenordnung sieht u. a. Spannen vor, innerhalb deren die Notare ihre Gebühren für folgende Tätigkeiten festlegen können: die Beurkundung eines Grundpfandrechts, die Beurkundung anderer Sicherheiten, die Beurkundung einer Dienstbarkeit, eines Nießbrauchs, eines Erbbaurechts und eines Vertrags über die Modalitäten der Nutzung bestimmter Sachen sowie die Beurkundung eines Tauschvertrags über eine Immobilie.

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

25        Mit Entscheidung Nr. 2S-2(2018) vom 26. April 2018 stellte der Wettbewerbsrat fest, dass die Notarkammer und die dem Präsidium dieser Kammer angehörenden Notare gegen Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 des Wettbewerbsgesetzes sowie gegen Art. 101 Abs. 1 Buchst. a AEUV verstoßen hätten, und verhängte gegen sie Geldbußen.

 

26        In dieser Entscheidung wies der Wettbewerbsrat darauf hin, dass das Präsidium der Notarkammer mit Beschlüssen vom 30. August 2012, 23. April 2015, 26. Mai 2016 und 26. Januar 2017 Vorschriften zur Erläuterung der Methoden zur Berechnung der Gebühren erlassen habe, die die Notare für Folgendes verlangen können:

–  die Beurkundung von grundpfandrechtlichen Vorgängen und die Erteilung einer Vollstreckungsklausel in Fällen, in denen die Parteien den Wert des mit einem Grundpfandrecht belasteten Grundstücks nicht angegeben haben, sowie in Fällen, in denen eine Vielzahl von Grundstücken durch einen einzigen grundpfandrechtlichen Vorgang mit einem Grundpfandrecht belastet werden;

–  die Ausfertigung notarieller Urkunden, Ausarbeitung von Rechtsgeschäften und Erbringung von beratenden und technischen Dienstleistungen in Fällen, in denen eine Dienstbarkeit mit einem einzigen Vertrag für eine Vielzahl von Grundstücken begründet wird; und

–  die Beglaubigung eines Tauschvertrags in Fällen, in denen Teile unterschiedlicher Vermögenswerte durch Vertrag gegeneinander ausgetauscht werden.

 

27        Diese Beschlüsse (im Folgenden: Erläuterungen) wurden von den Mitgliedern des Präsidiums, die an den Sitzungen teilnahmen, einstimmig erlassen und auf der Intranetseite der Notarkammer veröffentlicht.

 

28        Der Wettbewerbsrat vertrat die Ansicht, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens mit dem Erlass der Erläuterungen in Wirklichkeit einen Mechanismus zur Berechnung der Höhe der von den Notaren für die von den Erläuterungen erfassten Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren geschaffen hätten, nach dem der Betrag der Gebühren in jedem Fall auf den höchsten nach der vorläufigen Gebührenordnung zulässigen Betrag festgesetzt worden sei. Dem Wettbewerbsrat zufolge verfügten die Notare vor dem Erlass der Erläuterungen jedoch über ein Ermessen bei der Berechnung der Gebühren und konnten die Gebühren in bestimmten Fällen unter dem durch die Erläuterungen festgelegten Betrag festsetzen.

 

29        Der Wettbewerbsrat kam zu dem Ergebnis, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens mittelbar die Höhe der Gebühren festgelegt hätten. Mit dem Erlass der Erläuterungen hätten die Notarkammer, die über ihr Leitungsorgan, nämlich das Präsidium, gehandelt habe, und dessen Mitglieder unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 des Wettbewerbsgesetzes und Art. 101 Abs. 1 Buchst. a AEUV eine den Wettbewerb beschränkende Vereinbarung getroffen. Die Notarkammer sei eine Vereinigung von Wirtschaftsteilnehmern, nämlich Notaren, und die Erläuterungen seien als Beschluss einer Unternehmensvereinigung einzustufen, an deren Erlass die acht dem Präsidium der Kammer angehörenden Notare beteiligt gewesen seien.

 

30        Der Wettbewerbsrat stufte die Erläuterungen zudem als Vereinbarungen ein, die eine Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Notaren bezweckten, definierte als betroffenen Markt den Markt für notarielle Urkunden in Litauen und stellte fest, dass die Zuwiderhandlung vom 30. August 2012 bis mindestens zum 16. November 2017 gedauert habe. Er vertrat zudem die Auffassung, die Tatsache, dass der Justizminister der Republik Litauen die Handlungen der Kläger des Ausgangsverfahrens geduldet habe, stelle einen mildernden Umstand dar, und setzte deshalb die Geldbußen um 5 % herab.

 

31        Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) Klage auf Aufhebung der oben in Rn. 25 genannten Entscheidung des Wettbewerbsrats. Mit Urteil vom 19. Februar 2019 gab dieses Gericht der Klage statt und hob die Entscheidung teilweise auf.

 

32        Der Wettbewerbsrat legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht, dem Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens), ein.

 

33        Zur Stützung seines Rechtsmittels macht der Wettbewerbsrat geltend, die Notare seien Wirtschaftsteilnehmer und könnten innerhalb der in der vorläufigen Gebührenordnung festgelegten Grenzen durch den Preis, d. h. durch die Höhe der Gebühren, miteinander in Wettbewerb treten. Die Kläger des Ausgangsverfahrens hätten kein Recht, die notarielle Praxis in einer wettbewerbswidrigen Weise zu vereinheitlichen, und es gebe keine Lücke im nationalen Recht. Nach Ansicht des Wettbewerbsrats ist Art. 101 AEUV im Ausgangsverfahren anwendbar, da die Beschlüsse der Notarkammer im gesamten litauischen Hoheitsgebiet gälten, die Gebühren der Notare sowohl für litauische Nutzer als auch für Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die die Dienste der Notare in Litauen in Anspruch nähmen, gälten und Urkunden von einem in Litauen niedergelassenen Notar im Rahmen grenzüberschreitender Beziehungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern errichtet werden könnten.

 

34        Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen geltend, bei einem Notar handle es sich im Wesentlichen um einen Amtsträger, einen öffentlichen Bediensteten oder einen öffentlichen Vertreter. Die Notare konkurrierten über die Qualität ihrer Dienstleistungen und nicht über den Preis. Die Erläuterungen dienten der Umsetzung der in Art. 9 Nr. 5 der Notarordnung und in Art. 8 Abs. 1 Nrn. 6 und 7 der Satzung der Notarkammer vorgesehenen Befugnisse der Notarkammer zur Vereinheitlichung der notariellen Praxis und zur Bereitstellung von Stellungnahmen für die Notare. Sie zielten auch darauf ab, eine Lücke in der nationalen Regelung zu schließen, die Verbraucherinteressen zu schützen, die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten und die Notare vor ungerechtfertigter zivilrechtlicher Haftung zu schützen. Der Justizminister der Republik Litauen habe von den Erläuterungen Kenntnis gehabt, aber weder die Gerichte angerufen, um deren Aufhebung zu erreichen, noch die Initiative ergriffen, die vorläufige Gebührenordnung zu ändern. Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen ferner geltend, dass der AEU-Vertrag im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da es in der Europäischen Union keinen gemeinsamen Markt für notarielle Dienstleistungen gebe.

 

35        Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich der Gerichtshof noch nicht zu der Frage geäußert habe, ob notarielle Aufgaben wie die den litauischen Notaren anvertrauten eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellten und ob diese Notare Unternehmen im Sinne dieser Bestimmung seien.

 

36        Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Befugnis der Notarkammer, die notarielle Praxis zu vereinheitlichen, dem in Rn. 68 des Urteils vom 19. Februar 2002, Wouters u. a. (C‑309/99, EU:C:2002:98), festgelegten Kriterium, wonach „ein Mitgliedstaat … die Letztentscheidungsbefugnis [behält]“, oder dem in Rn. 46 des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), genannten Kriterium genügt, wonach „eine vom Staat ausgeübte wirksame Kontrolle und endgültige Entscheidungsbefugnis vorliegen [müssen]“.

 

37        Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass der Justizminister der Republik Litauen das Recht habe, die Gerichte anzurufen, um die Aufhebung eines möglicherweise rechtswidrigen Beschlusses der Notarkammer zu erwirken, und auch die vorläufige Gebührenordnung ergänzen könne, um anzugeben, wie die Vergütung der Notare für die von den Erläuterungen erfassten Tätigkeiten zu berechnen sei.

 

38        Das vorlegende Gericht möchte zudem wissen, ob die Erläuterungen als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV anzusehen sind und ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass die Erläuterungen eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken.

 

39        Soweit die Kläger der Ausgangsverfahren geltend machen, dass mit den Erläuterungen mehrere Ziele verfolgt würden, die ihres Erachtens ihren Erlass rechtfertigen, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Ziele in Anbetracht der in Rn. 97 des Urteils vom 19. Februar 2002, Wouters u. a. (C‑309/99, EU:C:2002:98), genannten Kriterien als legitim angesehen werden können und, wenn ja, ob die in den Erläuterungen vorgesehenen Beschränkungen über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist.

 

40        Außerdem stelle sich die Frage, ob Art. 101 AEUV dahin auszulegen sei, dass Notare, die Mitglieder des Präsidiums seien, als Mitglieder der Vereinigung angesehen werden könnten, die gegen Art. 101 AEUV verstoßen habe, und ob ihnen Geldbußen für ihre Beteiligung an dieser Zuwiderhandlung auferlegt werden könnten.

 

41        Vor diesem Hintergrund hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass Notare in der Republik Litauen bei der Ausübung einer Tätigkeit, die mit den Erläuterungen in Verbindung steht, als Unternehmen im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind?

2. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass die Erläuterungen einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellen?

3. Falls die zweite Frage bejaht wird: Bezwecken oder bewirken diese Erläuterungen eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV?

4. Sind bei der Entscheidung über eine mögliche Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV diese Erläuterungen nach den Kriterien in Rn. 97 des Urteils vom 19. Februar 2002, Wouters u. a. (C‑309/99, EU:C:2002:98), zu beurteilen?

5. Falls die vierte Frage bejaht wird: Sind die von den Klägern des Ausgangsverfahrens angeführten Ziele, nämlich die einheitliche Gestaltung der notariellen Praxis, das Schließen einer Regelungslücke, der Schutz der Verbraucherinteressen, die Wahrung der Grundsätze der Gleichbehandlung der Verbraucher und der Verhältnismäßigkeit sowie des Schutzes der Notare vor ungerechtfertigter zivilrechtlicher Haftung, bei der Beurteilung dieser Erläuterungen nach den Kriterien in Rn. 97 des Urteils vom 19. Februar 2002, Wouters u. a. (C‑309/99, EU:C:2002:98), als legitime Ziele anzusehen?

6. Falls die fünfte Frage bejaht wird: Ist davon auszugehen, dass die mit diesen Erläuterungen auferlegten Beschränkungen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser legitimen Ziele erforderlich ist?

7. Ist Art. 101 AEUV dahin auszulegen, dass Notare, die dem Präsidium angehören, gegen diesen Artikel verstoßen haben und gegen sie eine Geldbuße verhängt werden kann, weil sie am Erlass der Erläuterungen mitgewirkt haben und zu diesem Zeitpunkt als Notare tätig waren?

 

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

42        Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, weil Art. 101 AEUV, dessen Auslegung Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens sei, auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, weshalb die Vorlagefragen nur die Anwendung des litauischen Rechts auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt beträfen.

 

43        Hierzu ist festzustellen, dass die Frage, ob Art. 101 AEUV auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, den Kern und nicht die Zulässigkeit der Vorlagefragen betrifft, so dass die in der vorstehenden Randnummer angeführten Argumente der Kläger des Ausgangsverfahrens im Rahmen der inhaltlichen Prüfung dieser Fragen zu behandeln sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 30).

 

44        Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.

 

Zu den Vorlagefragen

Zu Frage 1

45        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass in einem Mitgliedstaat niedergelassene Notare als „Unternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie in bestimmten Situationen Tätigkeiten der Beurkundung von grundpfandrechtlichen Vorgängen, der Erteilung einer Vollstreckungsklausel, der Ausfertigung notarieller Urkunden, der Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, der Beratung, der Erbringung technischer Dienstleistungen und der Beglaubigung von Tauschverträgen ausüben.

 

46        Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind nach Art. 101 Abs. 1 AEUV alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken.

 

47        Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens und die litauische Regierung geltend machen, dass diese Bestimmung auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, da die Erläuterungen nicht geeignet seien, den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung zu beeinträchtigen. Aufgrund der Natur der notariellen Urkunden und der nationalen Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats könnten die Notare nämlich keine notariellen Urkunden im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, in dem sie niedergelassen seien, errichten. Es gebe daher keinen gemeinsamen Markt für notarielle Dienstleistungen, der durch die Erläuterungen beeinträchtigt werden könnte.

 

48        Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Beschluss, eine Vereinbarung oder eine Verhaltensweise den Handel zwischen Mitgliedstaaten nur dann beeinträchtigen, wenn sich anhand einer Gesamtheit tatsächlicher und rechtlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass sie unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell die Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise beeinflussen können, die für die Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteilig sein kann. Außerdem darf diese Beeinträchtigung nicht nur geringfügig sein (Urteile vom 28. Februar 2013, Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. Juni 2023, Super Bock Bebidas, C‑211/22, EU:C:2023:529, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

49        Damit ergibt sich eine Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Allgemeinen daraus, dass mehrere Voraussetzungen erfüllt sind, die für sich allein genommen nicht unbedingt entscheidend sind. Bei der Prüfung, ob ein Kartell den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar beeinträchtigt, ist dieses in seinem wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang zu untersuchen (Urteil vom 24. September 2009, Erste Group Bank u. a./Kommission, C‑125/07 P, C‑133/07 P, C‑135/07 P und C‑137/07 P, EU:C:2009:576, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

50        Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung hat ein Kartell, das sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erstreckt, schon seinem Wesen nach die Wirkung, die Abschottung der Märkte auf nationaler Ebene zu verfestigen, indem es die vom Vertrag gewollte wirtschaftliche Verflechtung behindert (Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. Juli 2015, ING Pensii, C‑172/14, EU:C:2015:484, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

51        Im Übrigen ist der Begriff „Handel zwischen Mitgliedstaaten“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht auf den grenzüberschreitenden Handel mit Waren und Dienstleistungen beschränkt, sondern hat eine umfassendere Bedeutung, die jede grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit einschließlich der Niederlassung erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2001, Ambulanz Glöckner, C‑475/99, EU:C:2001:577, Rn. 49).

 

52        Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Erläuterungen für das gesamte Hoheitsgebiet der Republik Litauen gelten, da sie als Beschlüsse der Notarkammer gemäß Art. 13 der Notarordnung und Art. 10 Nr. 4 der Satzung der Notarkammer für alle in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Notare verbindlich sind.

 

53        Auch wenn ein Notar grundsätzlich keine Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem er niedergelassen ist, erbringen könnte, ändert dies nichts daran, dass zum einen auf den Notarberuf grundsätzlich die Niederlassungsfreiheit anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Kommission/Lettland, C‑151/14, EU:C:2015:577, Rn. 48). Vorschriften wie die Erläuterungen, die einen grundlegenden Aspekt der Ausübung dieses Berufs im fraglichen Mitgliedstaat betreffen, sind dabei grundsätzlich geeignet, die Entscheidung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, sich zur Ausübung dieses Berufs in diesem Mitgliedstaat niederzulassen, erheblich zu beeinflussen. Zum anderen können, wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, Angehörige anderer Mitgliedstaaten als der Republik Litauen Dienstleistungen der in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Notare in Anspruch nehmen.

 

54        Unter diesen Umständen wären die Erläuterungen, sofern sie als Vereinbarungen zwischen Unternehmen oder als Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV einzustufen sein sollten, geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung zu beeinträchtigen.

 

55        Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Begriff „Unternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung im Rahmen des Wettbewerbsrechts jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung umfasst (Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Februar 2013, Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 35).

 

56        Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung ist eine wirtschaftliche Tätigkeit jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten (Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Februar 2013, Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 36).

 

57        In Bezug auf Notare hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sie insofern, als sie eine freiberufliche Tätigkeit ausüben, deren Schwerpunkt die Erbringung verschiedener entgeltlicher Dienstleistungen bildet, grundsätzlich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 1987, Kommission/Niederlande, 235/85, EU:C:1987:161, Rn. 9, und vom 1. Februar 2017, Kommission/Ungarn, C‑392/15, EU:C:2017:73, Rn. 98 bis 101).

 

58        Im Übrigen kann diese Beurteilung nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass die erbrachten Dienstleistungen komplex und fachspezifisch sind und dass die Berufsausübung Regeln unterliegt (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Februar 2013, Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 38).

 

59        Für das Ausgangsverfahren lässt sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen, dass die in Litauen niedergelassenen Notare ihre Tätigkeiten freiberuflich ausüben und nicht als Staatsbeamte. Art. 19 der Notarordnung sieht nämlich vor, dass der Notar für die Ausfertigung notarieller Urkunden, die Ausarbeitung von Rechtsgeschäften und die Erbringung von beratenden und technischen Dienstleistungen Gebühren in Rechnung stellt. Nach Art. 12 der Notarordnung üben die Notare ihre Tätigkeit unbeeinflusst von der öffentlichen Verwaltung und den Haushaltsbehörden aus und sind allein dem Gesetz verpflichtet. Schließlich heißt es in Art. 21 der Notarordnung, dass der Notar seine Tätigkeit selbständig und wirtschaftlich unabhängig ausübt.

 

60        Die Kläger des Ausgangsverfahrens und die litauische Regierung machen jedoch im Wesentlichen geltend, dass die litauischen Notare keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten, da sie an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beteiligt seien.

 

61        Nach ständiger Rechtsprechung haben Tätigkeiten, die in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen, keinen wirtschaftlichen Charakter, der die Anwendung der im AEU-Vertrag vorgesehenen Wettbewerbsregeln rechtfertigen würde (Urteile vom 12. Juli 2012, Compass-Datenbank, C‑138/11, EU:C:2012:449, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Mai 2021, Analisi G. Caracciolo, C‑142/20, EU:C:2021:368, Rn. 56).

 

62        Allerdings verwehrt es der Umstand, dass eine Einrichtung für einen Teil ihrer Tätigkeiten über hoheitliche Befugnisse verfügt, für sich genommen nicht, sie für ihre Tätigkeiten, die wirtschaftlichen Charakter haben, als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts einzustufen, soweit diese Tätigkeiten von der Ausübung hoheitlicher Befugnisse losgelöst werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juli 2012, Compass-Datenbank, C‑138/11, EU:C:2012:449, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 24. März 2022, GVN/Kommission, C‑666/20 P, EU:C:2022:225, Rn. 71).

 

63        Im vorliegenden Fall erfolgen – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – die von den Erläuterungen erfassten, in bestimmten Situationen ausgeübten notariellen Tätigkeiten der Beurkundung von grundpfandrechtlichen Vorgängen, der Erteilung einer Vollstreckungsklausel, der Ausfertigung notarieller Urkunden, der Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, der Beratung, der Erbringung technischer Dienstleistungen und der Beglaubigung von Tauschverträgen offenbar nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse.

 

64        Insoweit hat der Gerichtshof bereits im Wesentlichen entschieden, dass die notarielle Beurkundung von Rechtsgeschäften, die von den Parteien aus freien Stücken eingegangene einseitige Verpflichtungen oder Verträge zum Gegenstand haben, nicht unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Februar 2017, Kommission/Ungarn, C‑392/15, EU:C:2017:73, Rn. 119 und 120 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt auch für die Bestellung von Hypotheken (Urteil vom 24. Mai 2011, Kommission/Frankreich, C‑50/08, EU:C:2011:335, Rn. 97), die bloße Anbringung der Vollstreckungsklausel (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Februar 2017, Kommission/Ungarn, C‑392/15, EU:C:2017:73, Rn. 125 bis 127) sowie die Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, die Beratung und die Erbringung technischer Dienstleistungen durch die Notare (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2011, Kommission/Niederlande, C‑157/09, EU:C:2011:794, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

65        Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Informationen nicht hervor, dass die von den Erläuterungen erfassten notariellen Tätigkeiten untrennbar mit anderen Tätigkeiten verbunden wären, die ihrerseits die Ausübung hoheitlicher Befugnisse implizierten.

 

66        Im Übrigen üben die in Litauen niedergelassenen Notare, wie sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte entnehmen lässt, im Rahmen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeiten einen großen Teil ihrer Tätigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen aus, da Art. 28 Abs. 1 der Notarordnung insoweit bestimmt, dass notarielle Urkunden von jedem Notar ausgefertigt werden können, ausgenommen in Erbsachen. Dies ist aber für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Kommission/Lettland, C‑151/14, EU:C:2015:577, Rn. 74).

 

67        Daraus folgt, dass im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats niedergelassene Notare als „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 AEUV anzusehen sind, wenn sie Tätigkeiten wie die von den Erläuterungen erfassten ausüben.

 

68        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass in einem Mitgliedstaat niedergelassene Notare als „Unternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie in bestimmten Situationen Tätigkeiten der Beurkundung von grundpfandrechtlichen Vorgängen, der Erteilung einer Vollstreckungsklausel, der Ausfertigung notarieller Urkunden, der Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, der Beratung, der Erbringung technischer Dienstleistungen und der Beglaubigung von Tauschverträgen ausüben, da diese Tätigkeiten nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen.

 

Zu Frage 2

69        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass von einem Berufsverband wie der Notarkammer erlassene Vorschriften zur Vereinheitlichung der Art und Weise, in der die Notare eines Mitgliedstaats die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

 

70        Insoweit ist als Erstes zu prüfen, ob ein Berufsverband, wenn er Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlässt, als Unternehmensvereinigung oder vielmehr als Organ der öffentlichen Gewalt anzusehen ist, weil seine Tätigkeit in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 56 und 57, sowie vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 42).

 

71        Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Berufsverband, der zwar über Regelungsbefugnisse verfügt, aber keine typischerweise hoheitlichen Befugnisse ausübt, sondern als Organ zur Regelung eines Berufs, dessen Ausübung im Übrigen eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, handelt, den Wettbewerbsregeln unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 58 und 59, sowie vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 44).

 

72        Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass für die Feststellung, ob ein Berufsverband als Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 AEUV oder als Organ der öffentlichen Gewalt anzusehen ist, weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, wie etwa die Zusammensetzung der Leitungsorgane des betreffenden Berufsverbands, die Arbeitsweise dieses Berufsverbands, seine Beziehungen zu den öffentlichen Stellen sowie der Rahmen seiner Regelungs- oder Entscheidungsbefugnis.

 

73        So hat der Gerichtshof Berufsverbände als „Unternehmensvereinigungen“ eingestuft, und zwar u. a. deshalb, weil die Leitungsorgane dieser Berufsverbände ausschließlich aus Berufsangehörigen bestanden, die von ihren Kollegen gewählt wurden, ohne dass die staatlichen Behörden die Bestellung beeinflussen konnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 61, sowie vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 43).

 

74        Der Gerichtshof hat auch berücksichtigt, dass der Staat nicht entscheidend an der Beschlussfassung dieser Organe beteiligt war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2014, API u. a., C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 33 und 41).

 

75        Ebenso hat der Gerichtshof den Umstand berücksichtigt, dass die Regelungs- oder Entscheidungsbefugnis des betreffenden Verbands bzw. der betreffenden Stelle nicht an beim Erlass von Rechtsakten zu beachtende Bedingungen oder Kriterien des Allgemeininteresses geknüpft war, und dass dieser Verband bzw. diese Stelle nicht unter der wirksamen Kontrolle und endgültigen Entscheidungsbefugnis des Staates handelte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 62 und 68, vom 28. Februar 2013, Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 49, 54 und 55, sowie vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 49).

 

76        Für das Ausgangsverfahren lässt sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen, dass nach Art. 8 der Notarordnung alle Notare in Litauen sich in der Notarkammer zusammenschließen und Mitglieder dieser Kammer sind. Zu den Hauptaufgaben der Kammer, die in Art. 9 der Notarordnung genannt sind, gehören u. a. die Koordinierung der Tätigkeiten der Notare, die Verbesserung der Qualifikationen der Notare, der Schutz der Interessen der Notare und die Vertretung dieser Interessen vor öffentlichen Stellen und Verwaltungsbehörden, die Vereinheitlichung der notariellen Praxis sowie die Überwachung der Art und Weise, wie Notare ihre Aufgaben und die Anforderungen an die Berufsethik erfüllen.

 

77        Im Übrigen besteht nach den Art. 18 und 19 der Satzung der Notarkammer das Präsidium – das kollegiale Leitungsorgan dieser Kammer – aus acht Mitgliedern, die von der Versammlung der Kammer aus dem Kreis der von den Notarversammlungen gewählten Bewerber bestellt werden, und werden die Beschlüsse dieses Organs nach Art. 23 der Satzung der Notarkammer mit einfacher Mehrheit durch öffentliche Abstimmung gefasst.

 

78        Schließlich kann der Justizminister der Republik Litauen, wenn er der Ansicht ist, dass die Beschlüsse der Notarkammer nicht mit den Rechtsvorschriften der Republik Litauen in Einklang stehen, auf der Grundlage von Art. 11 der Notarordnung deren Aufhebung beim Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) beantragen.

 

79        Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich somit, dass die Notarkammer die Merkmale einer Organisation zur Regelung des Notarberufs in Litauen aufweist und dass ihr Leitungsorgan, nämlich das Präsidium, ausschließlich aus Angehörigen dieses Berufs besteht, die nur von ihren Kollegen gewählt werden, wobei der litauische Staat offenbar weder auf die Bestellung dieser Berufsangehörigen noch auf den Erlass der Beschlüsse des Präsidiums Einfluss nimmt.

 

80        Außerdem hat das vorlegende Gericht keine Bestimmung angeführt, die hinreichend genau Bedingungen oder Kriterien festlegt, die gewährleisten würden, dass die Notarkammer und ihr Präsidium bei der Ausübung ihrer Entscheidungsbefugnis tatsächlich unter Wahrung des Allgemeininteresses handeln.

 

81        Des Weiteren bedeutet der bloße Umstand, dass die litauischen Gerichte die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse der Notarkammer überprüfen können, nicht, dass diese Kammer unter der wirksamen Kontrolle des Staates handelt (vgl. entsprechend Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 48 und 49).

 

82        Unter diesen Umständen ist ein Berufsverband wie die Notarkammer als Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV und nicht als Organ der öffentlichen Gewalt anzusehen.

 

83        Was als Zweites die Frage betrifft, ob die Erläuterungen einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen, geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass diese Erläuterungen, mit denen die Art und Weise, in der die Notare die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, vereinheitlicht werden soll, gemäß Art. 13 der Notarordnung und Art. 10 Nr. 4 der Satzung der Notarkammer für die Notare verbindlich sind (siehe oben, Rn. 52).

 

84        Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen im Sinne von Art. 101 AEUV Beschlüsse, in denen der Wille der Vertreter eines Berufsstands zum Ausdruck kommt, die Angehörigen dieses Berufsstands bei ihrer Wirtschaftstätigkeit zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 64).

 

85        Da im Übrigen entschieden worden ist, dass eine Preisempfehlung unabhängig davon, wie sie rechtlich genau einzuordnen ist, einen Beschluss im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen kann (Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist die Festsetzung des Preises durch einen verbindlichen Rechtsakt erst recht als ein solcher Beschluss anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 47).

 

86        Folglich sind Vorschriften wie die Erläuterungen als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV anzusehen.

 

87        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass von einem Berufsverband wie der Notarkammer eines Mitgliedstaats erlassene Vorschriften zur Vereinheitlichung der Art und Weise, in der die Notare dieses Mitgliedstaats die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

 

Zu den Fragen 3 bis 6

88        Mit seinen Fragen 3 bis 6, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung, mit denen die Art und Weise, in der die Notare die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, vereinheitlicht wird, nach diesem Artikel verbotene Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.

 

89        Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sich die Rolle des Gerichtshofs im Verfahren nach Art. 267 AEUV, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, auf die Auslegung derjenigen Bestimmungen des Unionsrechts beschränkt, zu denen ihm Fragen vorgelegt werden, hier Art. 101 Abs. 1 AEUV. Folglich ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des vorlegenden Gerichts, abschließend zu beurteilen, ob die fragliche Vereinbarung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und seines wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs Wettbewerbsbeschränkungen bezweckt und/oder bewirkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

90        Der Gerichtshof kann jedoch bei seiner Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren auf der Grundlage der ihm vorliegenden Akten bestimmte Punkte klarstellen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben, damit es den Rechtsstreit entscheiden kann (Urteil vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 52).

 

91        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung nur dann unter das in Art. 101 Abs. 1 AEUV aufgestellte Verbot fallen, wenn sie eine spürbare Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts „bezwecken oder bewirken“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

92        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs seit dem Urteil vom 30. Juni 1966, LTM (56/65, EU:C:1966:38), erfordert es der durch die Konjunktion „oder“ gekennzeichnete alternative Charakter dieser Voraussetzung, zunächst den Zweck des Beschlusses einer Unternehmensvereinigung als solchen heranzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

93        Nach der Rechtsprechung beeinträchtigen nämlich bestimmte Arten der Koordinierung zwischen Unternehmen den Wettbewerb hinreichend, um als „bezweckte Beschränkung“ eingestuft zu werden, so dass die Prüfung ihrer Auswirkungen nicht notwendig ist. Diese Rechtsprechung liegt darin begründet, dass bestimmte Formen der Koordinierung zwischen Unternehmen schon ihrem Wesen nach als schädlich für das gute Funktionieren des Wettbewerbs angesehen werden können (Urteil vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

94        So steht fest, dass bestimmte kollusive Verhaltensweisen, wie z. B. diejenigen, die zur horizontalen Festsetzung der Preise führen, als derart geeignet angesehen werden können, negative Auswirkungen auf insbesondere den Preis, die Menge oder die Qualität der Waren und Dienstleistungen zu haben, dass für die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV der Nachweis, dass sie konkrete Auswirkungen auf den Markt haben, als überflüssig erachtet werden kann. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass solche Verhaltensweisen Minderungen der Produktion und Preiserhöhungen nach sich ziehen, die zu einer schlechten Verteilung der Ressourcen zulasten insbesondere der Verbraucher führen (Urteil vom 2. April 2020, Budapest Bank u. a., C‑228/18, EU:C:2020:265, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

95        Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen hervor, dass die Erläuterungen einen Mechanismus zur Berechnung der Höhe der Gebühren der Notare vorsehen, der den Notaren vorschreibt, für die von diesen Erläuterungen erfassten Tätigkeiten den höchsten Preis der Preisspanne zu verlangen, die in der vom Justizminister der Republik Litauen erlassenen vorläufigen Gebührenordnung vorgesehen ist. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist daher davon auszugehen, dass diese Erläuterungen gerade zu einer horizontalen Festsetzung der Preise für die betreffenden Dienstleistungen führen.

 

96        Unter diesen Umständen sind Beschlüsse wie die Erläuterungen als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV anzusehen.

 

97        Zwar fällt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht jede Vereinbarung zwischen Unternehmen oder jeder Beschluss einer Unternehmensvereinigung, durch die bzw. den die Handlungsfreiheit der Unternehmen eingeschränkt wird, die Partei dieser Vereinbarung sind oder diesen Beschluss zu befolgen haben, zwangsläufig unter das Verbot von Art. 101 Abs. 1 AEUV. Die Prüfung des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, in dem einige dieser Vereinbarungen und einige dieser Beschlüsse stehen, kann nämlich zu der Feststellung führen, dass diese erstens durch die Verfolgung eines oder mehrerer legitimer Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, die als solche keinen wettbewerbswidrigen Charakter haben, dass zweitens die konkreten Mittel, die zur Verfolgung dieser Ziele eingesetzt werden, zu diesem Zweck tatsächlich erforderlich sind und dass drittens, selbst wenn sich herausstellt, dass diese Mittel eine – zumindest potenzielle – Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bewirken, diese Wirkung nicht über das Erforderliche hinausgeht, insbesondere indem sie jeglichen Wettbewerb ausschaltet. Diese Rechtsprechung kann insbesondere auf Vereinbarungen oder Beschlüsse in Form von Vorschriften, die von einer Vereinigung wie einem Berufsverband oder einem Sportverein erlassen werden, um bestimmte ethische oder standesrechtliche Ziele zu verfolgen und ganz allgemein der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit Grenzen zu setzen, Anwendung finden, wenn die betreffende Vereinigung nachweist, dass die genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 21. Dezember 2023, Royal Antwerp Football Club, C‑680/21, EU:C:2023:1010, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

98        Diese Rechtsprechung kann jedoch keine Anwendung auf Verhaltensweisen finden, die nicht nur eine – zumindest potenzielle – Einschränkung des Wettbewerbs durch die Beschränkung der Handlungsfreiheit bestimmter Unternehmen „bewirken“, sondern die in Bezug auf diesen Wettbewerb einen Grad an Schädlichkeit aufweisen, der die Annahme rechtfertigt, dass sie gerade die Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung dieses Wettbewerbs „bezwecken“. Somit ist nur dann, wenn sich am Ende der Prüfung des in einem bestimmten Fall in Rede stehenden Verhaltens herausstellt, dass dieses Verhalten keine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt, zu prüfen, ob es unter diese Rechtsprechung fallen kann (Urteil vom 21. Dezember 2023, Royal Antwerp Football Club, C‑680/21, EU:C:2023:1010, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

99        Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken, können daher nur in Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV und unter der Voraussetzung, dass alle in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, in den Genuss einer Freistellung vom Verbot von Art. 101 Abs. 1 AEUV kommen (Urteil vom 21. Dezember 2023, Royal Antwerp Football Club, C‑680/21, EU:C:2023:1010, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

100      Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Anwendbarkeit der Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV von der Erfüllung der dort genannten vier kumulativen Voraussetzungen abhängt. Erstens muss die fragliche Absprache zur Verbesserung der Erzeugung oder Verteilung der in Rede stehenden Waren oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, zweitens müssen die Verbraucher angemessen an dem entstehenden Gewinn beteiligt werden, drittens dürfen den beteiligten Unternehmen nur unerlässliche Beschränkungen auferlegt werden, und viertens darf die Absprache den beteiligten Unternehmen nicht die Möglichkeit eröffnen, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren oder Dienstleistungen den Wettbewerb auszuschalten (Urteil vom 23. Januar 2018, F. Hoffmann-La Roche u. a., C‑179/16, EU:C:2018:25, Rn. 97).

 

101      Im vorliegenden Fall machen die Kläger des Ausgangsverfahrens und die litauische Regierung im Wesentlichen geltend, dass mit den Erläuterungen legitime Ziele im Sinne der oben in Rn. 97 angeführten Rechtsprechung verfolgt würden. Sie zielten nämlich darauf ab, die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit zu wahren sowie die Notare vor ungerechtfertigter zivilrechtlicher Haftung zu schützen, indem sie die notarielle Praxis vereinheitlichten und eine Regelungslücke schlössen. Außerdem zielten die Erläuterungen darauf ab, die Interessen der Nutzer der notariellen Dienstleistungen zu schützen, da die Inrechnungstellung der Gebühren zu dem höchsten nach der vorläufigen Gebührenordnung für die Bestellung von Sicherheiten an Vermögensgegenständen mit unbekanntem Wert zulässigen Satz dazu beitrage, Personen von der Verpfändung eines Vermögensgegenstands abzuhalten, dessen Wert nicht feststehe.

 

102      Beschlüsse wie die Erläuterungen, die – wie sich oben aus Rn. 96 ergibt – als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV anzusehen sind, können jedoch keinesfalls durch die in der vorstehenden Randnummer genannten Ziele gerechtfertigt werden.

 

103      Im Übrigen lässt sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht entnehmen, dass sich die Kläger des Ausgangsverfahrens auf die Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV berufen hätten.

 

104      Unter diesen Umständen sind Beschlüsse wie die Erläuterungen als eine nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotene „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung anzusehen.

 

105      Nach alledem ist auf die Fragen 3 bis 6 zu antworten, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung, mit denen die Art und Weise, in der die Notare die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, vereinheitlicht wird, nach dieser Bestimmung verbotene „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.

 

Zu Frage 7

106      Mit seiner siebten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es einer nationalen Wettbewerbsbehörde verwehrt, wegen einer Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmung eine Geldbuße gegen die Unternehmensvereinigung, der der zuwiderlaufende Beschluss zuzurechnen ist, sowie individuelle Geldbußen gegen die Unternehmen zu verhängen, die Mitglieder des Leitungsorgans dieser Vereinigung sind, das den Beschluss erlassen hat.

 

107      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 die für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zuständige nationale Wettbewerbsbehörde Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängen kann.

 

108      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV erwiesen ist, grundsätzlich eine Geldbuße gegen den Zuwiderhandelnden verhängen. Zur Sicherstellung der wirksamen Anwendung von Art. 101 AEUV im Allgemeininteresse ist es nämlich erforderlich, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden, wenn ein Unternehmen vorsätzlich oder fahrlässig gegen diese Bestimmung verstoßen hat, nur in Ausnahmefällen von der Verhängung einer Geldbuße absehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a., C‑681/11, EU:C:2013:404, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 64).

 

109      Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln der Union, insbesondere von Art. 101 Abs. 1 AEUV, u. a. die Notwendigkeit impliziert, die abschreckende Wirkung der Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen diese Regeln sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2008, Coop de France bétail et viande u. a./Kommission, C‑101/07 P und C‑110/07 P, EU:C:2008:741, Rn. 98, sowie vom 19. März 2009, Archer Daniels Midland/Kommission, C‑510/06 P, EU:C:2009:166, Rn. 149).

 

110      Mit Geldbußen wegen Verstößen gegen Art. 101 AEUV sollen nämlich rechtswidrige Handlungen der betreffenden Unternehmen geahndet und sowohl diese Unternehmen als auch andere Wirtschaftsteilnehmer von künftigen Verletzungen der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts abgeschreckt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission, C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 102, vom 26. September 2013, Alliance One International/Kommission, C‑668/11 P, EU:C:2013:614, Rn. 62, sowie vom 4. September 2014, YKK u. a./Kommission, C‑408/12 P, EU:C:2014:2153, Rn. 84). Das Bestreben, eine abschreckende Wirkung herbeizuführen, betrifft nicht nur die Unternehmen, die von der Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, konkret betroffen sind, da Unternehmen mit ähnlicher Größe und entsprechenden Ressourcen gleichermaßen dazu anzuhalten sind, eine Beteiligung an ähnlichen Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln zu unterlassen (Urteil vom 5. Dezember 2013, Caffaro/Kommission, C‑447/11 P, EU:C:2013:797, Rn. 37).

 

111      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden auch vergewissern müssen, dass die Geldbußen, die sie wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Union verhängen, der Art des Verstoßes angemessen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie, C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 38).

 

112      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV erwiesen ist, grundsätzlich eine Geldbuße gegen den Zuwiderhandelnden verhängen müssen, die hinreichend abschreckend und verhältnismäßig ist.

 

113      Für die Bestimmung, wem eine Zuwiderhandlung gegen das Verbot nach Art. 101 AEUV zuzurechnen ist, haben sich die Verfasser dem Wortlaut von Abs. 1 dieses Artikels zufolge dafür entschieden, die Begriffe „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigung“ zu verwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

114      Verstößt ein Unternehmen gegen die Wettbewerbsregeln, hat es nach dem Grundsatz der persönlichen Haftung für diese Zuwiderhandlung einzustehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Dezember 2007, ETI u. a., C‑280/06, EU:C:2007:775, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 106).

 

115      Da Art. 101 Abs. 1 AEUV u. a. „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ verbietet, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, ist davon auszugehen, dass einer Unternehmensvereinigung wie der Notarkammer als solcher eine Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmung zuzurechnen sein kann.

 

116      Für das Ausgangsverfahren lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass die vom Wettbewerbsrat festgestellte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV im Erlass der Erläuterungen besteht, bei denen es sich um Beschlüsse des Präsidiums der Notarkammer handelt. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, insbesondere den Ausführungen der Kläger des Ausgangsverfahrens und der litauischen Regierung in Beantwortung von Fragen des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung, geht hervor, dass die Beschlüsse des Präsidiums, das gemäß Art. 18 Abs. 1 der Satzung der Notarkammer deren Leitungsorgan ist, für die Kammer verbindlich sind, so dass diese Beschlüsse als Beschlüsse der Notarkammer selbst anzusehen sind.

 

117      Darüber hinaus haben die Kläger des Ausgangsverfahrens und die litauische Regierung in der mündlichen Verhandlung auch klargestellt, dass weder das Präsidium noch seine einzelnen Mitglieder für diese Beschlüsse haftbar gemacht werden können, da diese allein der Notarkammer zuzurechnen sind.

 

118      Daraus folgt, dass vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht davon auszugehen ist, dass die vom Wettbewerbsrat im Ausgangsverfahren festgestellte Zuwiderhandlung von der Notarkammer begangen wurde.

 

119      Die Notare, aus denen sich das Präsidium der Notarkammer zusammensetzt, haben mit dem Erlass der Erläuterungen offenbar nur in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Präsidiums gehandelt. Insbesondere lässt sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht entnehmen, dass diese Notare in anderer Weise an der festgestellten Zuwiderhandlung beteiligt gewesen wären.

 

120      Im Übrigen hat der Wettbewerbsrat in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen klargestellt, dass er den dem Präsidium der Notarkammer angehörenden Notaren individuelle Geldbußen nicht deshalb auferlegt habe, weil es sich bei ihnen um an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen gehandelt hätte, sondern gerade wegen ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieses Präsidiums zum Zeitpunkt des Erlasses der Erläuterungen. Der Wettbewerbsrat führte hierzu aus, dass diese Geldbußen mit dem Ziel verhängt worden seien, die abschreckende Wirkung der wegen dieser Zuwiderhandlung verhängten Sanktionen sicherzustellen, denn das zur maßgeblichen Zeit geltende litauische Recht habe es nicht erlaubt, allein gegen die Notarkammer eine Geldbuße zu verhängen, die hoch genug sei, um diese abschreckende Wirkung zu erzielen, da es nicht die Möglichkeit vorgesehen habe, den Umsatz der Mitglieder der Notarkammer bei der Berechnung der Geldbuße zu berücksichtigen.

 

121      Der Grundsatz der persönlichen Haftung, der verlangt, dass für eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln nur das Unternehmen sanktioniert wird, das sie begangen hat, steht diesem Ansatz allerdings entgegen, da die Notare, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Erläuterungen Mitglieder des Präsidiums der Notarkammer waren, nicht als an der vom Wettbewerbsrat im Ausgangsverfahren festgestellten Zuwiderhandlung Beteiligte angesehen werden können.

 

122      Daraus folgt jedoch weder, dass dem Wettbewerbsrat die Möglichkeit genommen wurde, gegen die Notarkammer wegen dieser Zuwiderhandlung eine abschreckende Sanktion zu verhängen, noch, dass die Notare zwangsläufig von jeder Haftung für die Zuwiderhandlung zu befreien waren.

 

123      Nach ständiger Rechtsprechung muss nämlich – wenn eine Unternehmensvereinigung nach ihrer Satzung ihre Mitglieder verpflichten kann – die gegen die Unternehmensvereinigung zu verhängende Geldbuße, um abschreckend zu sein, anhand des Umsatzes aller der Unternehmensvereinigung angehörenden Unternehmen berechnet werden, selbst wenn diese Unternehmen an der Zuwiderhandlung eigentlich nicht beteiligt waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2000, Finnboard/Kommission, C‑298/98 P, EU:C:2000:634, Rn. 66, Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. März 2001, FEG/Kommission, C‑7/01 P[R], EU:C:2001:183, Rn. 11, sowie Urteil vom 18. Dezember 2008, Coop de France bétail et viande u. a./Kommission, C‑101/07 P und C‑110/07 P, EU:C:2008:741, Rn. 93).

 

124      Eine solche Berücksichtigung des Umsatzes der der Unternehmensvereinigung angehörenden Unternehmen ist u. a. auch in den Fällen möglich, in denen die von der Vereinigung begangene Zuwiderhandlung in Handlungen ihrer Mitglieder besteht und die wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen, um die es geht, von der Vereinigung selbst zugunsten ihrer Mitglieder und in Zusammenarbeit mit ihnen an den Tag gelegt werden, da die Vereinigung keine von den objektiven Interessen ihrer Mitglieder unabhängigen objektiven Interessen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2008, Coop de France bétail et viande u. a./Kommission, C‑101/07 P und C‑110/07 P, EU:C:2008:741, Rn. 97).

 

125      Diese Rechtsprechung findet ihren Niederschlag im Wesentlichen in Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003, wonach die Geldbuße, wenn die Zuwiderhandlung einer Unternehmensvereinigung mit der Tätigkeit ihrer Mitglieder im Zusammenhang steht, 10 % der Summe der Gesamtumsätze derjenigen Mitglieder, die auf dem Markt tätig waren, auf dem sich die Zuwiderhandlung der Vereinigung auswirkte, nicht übersteigen darf.

 

126      Darüber hinaus sieht Art. 23 Abs. 4 dieser Verordnung vor, dass eine Unternehmensvereinigung, wenn gegen sie eine Geldbuße unter Berücksichtigung des Umsatzes ihrer Mitglieder verhängt wird und sie selbst nicht zahlungsfähig ist, verpflichtet ist, von ihren Mitgliedern Beiträge zur Deckung des Betrags dieser Geldbuße zu fordern, und dass die Kommission unter bestimmten Voraussetzungen die Zahlung der Geldbuße unmittelbar von jedem Unternehmen verlangen kann, dessen Vertreter Mitglieder in den betreffenden Entscheidungsgremien der Vereinigung waren, und dann von jedem Mitglied der Vereinigung, das auf dem Markt tätig war, auf dem die Zuwiderhandlung erfolgte.

 

127      Ausdrücklich bezieht sich Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 zwar nur auf die Befugnisse der Kommission. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass dieser Artikel für die Bestimmung der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden zur Verhängung von Geldbußen relevant ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a., C‑681/11, EU:C:2013:404, Rn. 48 bis 50).

 

128      Daher hinderte der Umstand, dass das auf das Ausgangsverfahren anwendbare litauische Recht nicht die Möglichkeit vorsah, den Umsatz der Mitglieder der Notarkammer bei der Berechnung der Geldbuße zu berücksichtigen, die der Wettbewerbsrat wegen der von ihm festgestellten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV gegen die Notarkammer verhängen musste, den Wettbewerbsrat nicht daran, diesen Umsatz zu berücksichtigen, sofern die oben in den Rn. 123 bis 125 genannten Voraussetzungen erfüllt waren.

 

129      Nach alledem ist auf die siebte Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es einer nationalen Wettbewerbsbehörde verwehrt, wegen einer Zuwiderhandlung einer Unternehmensvereinigung gegen diese Bestimmung individuelle Geldbußen gegen die Unternehmen zu verhängen, die Mitglieder des Leitungsorgans dieser Vereinigung sind, wenn diese Unternehmen an der Zuwiderhandlung nicht beteiligt waren.

 

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