BGH: Nichtzulassungsbeschwerde – Glaubhaftmachung der erforderlichen Rechtsmittelbeschwer
BGH, Beschluss vom 27.4.2023 – V ZR 118/22
ECLI:DE:BGH:2023:270423BVZR118.22.0
Volltext: BB-Online BBL2023-1409-5
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Amtlicher Leitsatz
Die beklagte Partei, deren Beschwer aus einer Verurteilung nicht dem Streitwert der Klage entspricht, ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht gehindert, sich zur Glaubhaftmachung ihrer nach § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erforderlichen Rechtsmittelbeschwer auf neues Vorbringen zu stützen.
ZPO § 544 Abs. 2 Nr. 1
Sachverhalt
I.
Die Parteien sind Nachbarn. Entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze verläuft auf dem Grundstück des Beklagten eine Privatstraße. Zugunsten des jeweiligen Eigentümers des klägerischen Grundstücks sind im Grundbuch des Grundstücks des Beklagten ein Wasserbezugs- und Leitungsrecht sowie ein Ein- und Ausfahrtrecht als Grunddienstbarkeit eingetragen.
Die Klägerin hat mit der Klage die Inanspruchnahme des Grundstücks des Beklagten begehrt, um den Anschluss ihres Grundstücks an den Schmutzwasserkanal herzustellen. Insoweit wurde der Rechtsstreit schon in erster Instanz für erledigt erklärt. Mit der Widerklage beantragt der Beklagte - soweit noch von Interesse - festzustellen, dass der Klägerin aus der Grunddienstbarkeit kein Geh- und/oder Fahrtrecht über die Privatstraße des Beklagten zusteht. Das Landgericht hat der Widerklage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Gegen die damit verbundene Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin (nachfolgend Widerbeklagte) mit der Beschwerde, deren Zurückweisung der Beklagte (nachfolgend Widerkläger) beantragt.
Aus den Gründen
II.
3 1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere hat die Widerbeklagte hinreichend glaubhaft gemacht, dass der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 € übersteigt (§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
4 a) Zwar hat das Berufungsgericht den Streitwert für die Widerklage, deren Abweisung die Widerbeklagte in dritter Instanz erreichen will, auf 2.500 € festgesetzt. Der Wert der Beschwer der Widerbeklagten entspricht aber nicht dem Streitwert der Widerklage. Dieser richtet sich nach dem Interesse des Widerklägers an der Feststellung, dass die Grunddienstbarkeit die Widerbeklagte nicht dazu berechtigt, den zum Westen und Norden ihres Grundstücks führenden Weg auf dem Grundstück des Widerklägers zu nutzen und somit nach der Wertminderung, die sein Grundstück durch ein dahingehendes dingliches Recht erführe. Der Wert der Beschwer der Widerbeklagten richtet sich hingegen danach, welche Wertminderung ihr Grundstück erfährt, wenn sie es über diesen Weg nicht mehr anfahren kann. Die Widerbeklagte hat mit der Beschwerde, gestützt auf das Gutachten eines für die Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen, vorgetragen, dass ihr Grundstück mit dem Fahrtrecht einen Wert von 568.000 € und ohne Fahrtrecht einen Wert von 511.000 € hat. Damit ist hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Widerbeklagte durch die Verurteilung in Höhe der Wertdifferenz von 57.000 € beschwert ist. Durch die Ausführungen des Sachverständigen in dem Wertgutachten wird nachvollziehbar belegt, dass der Ertragswert des Grundstücks ohne das Recht zur Nutzung des Weges in genannter Höhe vermindert wäre, weil die Garagen nur über den Weg angefahren werden können, so dass die Widerbeklagte ohne die Zuwegung Mieteinbußen hinzunehmen hätte. Die von der Erwiderung hiergegen vorgebrachten Einwände führen den Senat zu keiner anderen Einschätzung. Dass die Widerbeklagte den Weg auch ohne dingliche Berechtigung möglicherweise auf der Grundlage einer schuldrechtlichen Gestattung des Widerklägers nutzen könnte, ändert an ihrer Beschwer nichts, weil eine solche Gestattung jederzeit kündbar wäre (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juni 2011 - V ZR 233/10, NJW-RR 2011, 1458 Rn. 16 mwN).
5 b) Entgegen der Auffassung der Erwiderung ist die Widerbeklagte an der Geltendmachung einer 20.000 € übersteigenden Beschwer auch nicht deshalb gehindert, weil sie die Streitwertfestsetzung für die Widerklage in zweiter Instanz hingenommen hat.
6 aa) Richtig ist allerdings, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einer Partei verwehrt ist, sich im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren auf der Grundlage neuen Vorbringens auf einen höheren, die erforderliche Rechtsmittelbeschwer erreichenden Streitwert der Klage zu berufen, wenn sie die Streitwertfestsetzung in den Vorinstanzen nicht beanstandet und auch nicht glaubhaft gemacht hat, dass bereits in den Vorinstanzen vorgebrachte Umstände, die die Festsetzung eines höheren Streitwerts - und einer damit einhergehenden entsprechenden Beschwer - rechtfertigen, nicht ausreichend berücksichtigt worden sind (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2022 - V ZR 78/21, juris Rn. 7; Beschluss vom 18. März 2021 - V ZR 156/20, juris Rn. 10; Beschluss vom 20. Februar 2020 - V ZR 167/19, WuM 2020, 308 Rn. 6; BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2022 - LwZR 7/21, juris Rn. 4; jeweils mwN). Bemessen sich Streitwert und Beschwer etwa nach der Wertsteigerung, die ein herrschendes Grundstück durch eine Dienstbarkeit erfährt, muss sich deshalb die klagende Partei im Grundsatz an der von ihr als Streitwert angegebenen Wertsteigerung festhalten lassen (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Januar 2022 - V ZR 78/21, aaO; Beschluss vom 20. Februar 2020 - V ZR 167/19, aaO zu dem Wert eines Grundstücks bzw. einer Eigentumswohnung).
7 bb) Diese Rechtsprechung steht der Zulässigkeit der Beschwerde indes nicht entgegen. Die beklagte Partei, deren Beschwer aus einer Verurteilung nicht dem Streitwert der Klage entspricht, ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht gehindert, sich zur Glaubhaftmachung ihrer nach § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erforderlichen Rechtsmittelbeschwer auf neues Vorbringen zu stützen.
8 (1) Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig auch der beklagten Partei, die weder die Streitwertfestsetzung in den Vorinstanzen beanstandet noch sonst glaubhaft gemacht hat, dass für die Festlegung des Streitwerts maßgebliche Umstände, die bereits dort vorgebracht worden sind, nicht hinreichend berücksichtigt worden sind, versagt, sich im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde noch auf einen höheren, die erforderliche Rechtsmittelbeschwer erstmals erreichenden Wert zu berufen (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 1. Juni 2016 - I ZR 112/15, juris Rn. 8 f.; Beschluss vom 27. Februar 2018 - VIII ZR 147/17, juris Rn. 13; Beschluss vom 19. Dezember 2019 - I ZR 94/19, juris Rn. 11; Beschluss vom 30. April 2020 - VII ZR 151/19, NJW-RR 2020, 1258 Rn. 9; Beschluss vom 7. April 2022 - I ZR 73/21, juris Rn. 16). Dies beruhte aber regelmäßig darauf, dass der nach dem Interesse des verurteilten Beklagten an einer Beseitigung der Verurteilung zu bemessende Wert der Beschwer dem nach dem Interesse der klagenden Partei an dieser Verurteilung zu bemessenden Streitwert entsprach.
9 (2) In dem hier gegebenen Fall, dass die Beschwer der beklagten Partei aus der Verurteilung nicht dem Streitwert der Klage entspricht, können diese Grundsätze hingegen keine Anwendung finden.
10 (a) Das Verbot, sich in dritter Instanz zur Darlegung der erforderlichen Rechtsmittelbeschwer auf neues Vorbringen zu stützen, beruht darauf, dass der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer sich nach dem Interesse des Rechtsmittelklägers an der Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts bemisst und für die Bewertung dieser Beschwer im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgebend ist. Bestimmend sind - soweit es um ein Rechtsmittel des Klägers geht - insoweit die dem Klageantrag zugrunde liegenden tatsächlichen Angaben zum Wert. Hat der Kläger insoweit keine verlässlichen oder vollständigen Angaben gemacht und hat das Berufungsgericht den Streitwert deshalb vom Kläger unangefochten unter Zugrundelegung seiner unvollständigen Angaben geschätzt, so ist er gehindert, die diesem Streitwertbeschluss zugrunde gelegten Annahmen mit neuem Vortrag in Frage zu stellen, um den Wert der Beschwer zu erhöhen (vgl. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 - VII ZR 253/12, juris Rn. 3).
11 (b) Diese Erwägungen lassen sich auf die von der beklagten Partei erhobene Nichtzulassungsbeschwerde jedenfalls dann nicht übertragen, wenn - wie hier - ihre Beschwer aus der Verurteilung nicht dem Streitwert der Klage entspricht.
12 (aa) Anders als der Kläger (vgl. § 253 Abs. 3 Nr. 2 ZPO, § 12 Abs. 1 Satz 1 GKG) ist der Beklagte regelmäßig nicht gehalten, zum Streitwert der Klage vorzutragen, der sich nach dem klägerischen Interesse an der Verurteilung bemisst. Ebenso wenig hat der Beklagte in erster und zweiter Instanz Veranlassung, zu seiner von dem Wert der Klage abweichenden Beschwer aus einer (möglichen) Verurteilung vorzutragen, wenn nicht ausnahmsweise das Erreichen der Erwachsenheitssumme für seine Berufung (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) zweifelhaft ist. Angaben des Beklagten zu den Umständen, nach denen sich seine Beschwer bemisst, wären für das Gericht im Rahmen der Streitwertfestsetzung in dieser Konstellation nicht relevant. Das Gericht hätte daher auch keine Veranlassung, sich mit einem dahingehenden Vorbringen des Beklagten zu befassen und inhaltlich auseinanderzusetzen.
13 (bb) Die beklagte Partei, deren Beschwer aus der Verurteilung mit dem Wert der Klage nicht identisch (namentlich höher) ist, hat auch selbst in dem Fall, dass sie die 20.000 € nicht übersteigende Streitwertfestsetzung für zu niedrig hält, keinen Anlass, diese Festsetzung zu beanstanden. Denn selbst wenn ihre Beanstandung - mit der ein höheres klägerisches Interesse an der Verurteilung dargelegt werden müsste - Erfolg haben und das Gericht den Streitwert entsprechend höher festsetzen sollte, wäre hiermit keine Aussage über die Rechtsmittelbeschwer der beklagten Partei verbunden. Somit muss es ihr möglich sein, ihre 20.000 € übersteigende Beschwer in dem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde mit neuem Vorbringen darzulegen und glaubhaft zu machen.
14 2. Die Beschwerde ist aber unbegründet. Die Rechtssache wirft keine entscheidungserheblichen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Eine Entscheidung ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 543 Abs. 2 ZPO). Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 ZPO). III.
15 Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.