R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Wirtschaftsrecht
21.09.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Ne bis in idem-Grundsatz bei Verhängung einer Verwaltungsgeldbuße gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken

EuGH, Urteil vom 14.9.2023 – C-27/22, Volkswagen Group Italia SpA, Volkswagen Aktiengesellschaft gegen Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato

ECLI:EU:C:2023:663

Volltext: BB-Online BBL2023-2177-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.

2. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz ne bis in idem ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.

3. Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem zulässt, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden, erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ) sowie von Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2005, L 149, S. 22, berichtigt in ABl. 2009, L 253, S. 18).

 

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Volkswagen Group Italia SpA (im Folgenden: VWGI) und der Volkswagen Aktiengesellschaft (im Folgenden: VWAG) auf der einen sowie der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) auf der anderen Seite wegen deren Entscheidung, gegen diese Gesellschaften eine Geldbuße wegen unlauterer Geschäftspraktiken zu verhängen.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

SDÜ

3          Das SDÜ wurde geschlossen, um die Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sicherzustellen.

 

4          Art. 54 in Titel III („Polizei und Sicherheit“) Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) des SDÜ lautet:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

 

Richtlinie 2005/29

5          Im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/29 heißt es:

„Es muss sichergestellt werden, dass diese Richtlinie insbesondere in Fällen, in denen Einzelvorschriften über unlautere Geschäftspraktiken in speziellen Sektoren anwendbar sind[,] auf das geltende Gemeinschaftsrecht abgestimmt ist. … Diese Richtlinie gilt dementsprechend nur insoweit, als keine spezifischen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, wie etwa Informationsanforderungen oder Regeln darüber, wie dem Verbraucher Informationen zu vermitteln sind. Sie bietet den Verbrauchern in den Fällen Schutz, in denen es keine spezifischen sektoralen Vorschriften auf Gemeinschaftsebene gibt, und untersagt es Gewerbetreibenden, eine Fehlvorstellung von der Art ihrer Produkte zu wecken. Dies ist besonders wichtig bei komplexen Produkten mit einem hohen Risikograd für die Verbraucher, wie etwa bestimmten Finanzdienstleistungen. Diese Richtlinie ergänzt somit den gemeinschaftlichen Besitzstand in Bezug auf Geschäftspraktiken, die den wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher schaden.“

 

6          Art. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.“

 

7          Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 4:

„Kollidieren die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, so gehen die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend.“

 

8          Art. 13 („Sanktionen“) der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie anzuwenden sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um ihre Durchsetzung sicherzustellen. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

 

Richtlinie (EU) 2019/2161

9          Mit der Richtlinie (EU) 2019/2161 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinien 98/6/EG, 2005/29/EG und 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der Verbraucherschutzvorschriften der Union (ABl. 2019, L 328, S. 7) wurde Art. 13 der Richtlinie 2005/29 mit Wirkung vom 28. Mai 2022 wie folgt geändert:

„(1) Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei der Verhängung der Sanktionen folgende als nicht abschließend zu verstehende und beispielhafte Kriterien, sofern zutreffend, berücksichtigt werden:

a) die Art, die Schwere, der Umfang und die Dauer des Verstoßes;

b) Maßnahmen des Gewerbetreibenden zur Minderung oder Beseitigung des Schadens, der Verbrauchern entstanden ist;

c) frühere Verstöße des Gewerbetreibenden;

d) vom Gewerbetreibenden aufgrund des Verstoßes erlangte finanzielle Vorteile oder vermiedene Verluste, wenn dazu die entsprechenden Daten verfügbar sind;

e) Sanktionen, die gegen den Gewerbetreibenden für denselben Verstoß in grenzüberschreitenden Fällen in anderen Mitgliedstaaten verhängt wurden, sofern Informationen über solche Sanktionen im Rahmen des aufgrund der Verordnung (EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 12. Dezember 2017 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (ABl. 2017, L 345, S. 1)] errichteten Mechanismus verfügbar sind;

f) andere erschwerende oder mildernde Umstände im jeweiligen Fall.

(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Rahmen der Verhängung von Sanktionen nach Artikel 21 der Verordnung (EU) 2017/2394 entweder Geldbußen im Verwaltungsverfahren verhängt werden können oder gerichtliche Verfahren zur Verhängung von Geldbußen eingeleitet werden können oder beides erfolgen kann, wobei sich der Höchstbetrag solcher Geldbußen auf mindestens 4 % des Jahresumsatzes des Gewerbetreibenden in dem (den) betreffenden Mitgliedstaat(en) beläuft. …

…“

 

Italienisches Recht

 

10        Art. 20 Abs. 1 des Decreto legislativo n. 206 – Codice del consumo, a norma dell’articolo 7 della legge 29 luglio 2003, n. 229 (Decreto legislativo Nr. 206 über das Verbrauchergesetzbuch nach Art. 7 des Gesetzes Nr. 229 vom 29. Juli 2003) vom 6. September 2005 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 235 vom 8. Oktober 2005) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verbrauchergesetzbuch) sieht vor, dass unlautere Geschäftspraktiken verboten sind.

 

11        Art. 20 Abs. 2 des Verbrauchergesetzbuchs bestimmt:

„Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn sie der beruflichen Sorgfalt widerspricht und in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet, oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern richtet, spürbar beeinflusst oder dazu geeignet ist, es spürbar zu beeinflussen.“

 

12        Nach Art. 20 Abs. 4 des Verbrauchergesetzbuchs sind unlautere Geschäftspraktiken insbesondere irreführende Praktiken gemäß den Art. 21 bis 23 des Gesetzbuchs und aggressive Praktiken, die in den Art. 24 bis 26 des Gesetzbuchs erwähnt werden.

 

13        In Art. 21 Abs. 1 des Verbrauchergesetzbuchs heißt es:

„Eine Geschäftspraxis gilt als irreführend, wenn sie Angaben enthält, die nicht der Wirklichkeit entsprechen oder wenn sie in irgendeiner Weise, einschließlich sämtlicher Umstände ihrer Präsentation, selbst mit sachlich richtigen Angaben den Durchschnittsverbraucher in Bezug auf einen oder mehrere der nachstehend aufgeführten Punkte täuscht oder ihn zu täuschen geeignet ist und ihn in jedem Fall tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte:

b) die wesentlichen Merkmale des Produkts wie Verfügbarkeit, Vorteile, Risiken, Ausführung, Zusammensetzung, Zubehör, Kundendienst und Beschwerdeverfahren, Verfahren und Zeitpunkt der Herstellung oder Erbringung, Lieferung, Zwecktauglichkeit, Verwendung, Menge, Beschaffenheit, geografische oder kommerzielle Herkunft oder die von der Verwendung zu erwartenden Ergebnisse oder die Ergebnisse und wesentlichen Merkmale von Tests und Untersuchungen, denen das Produkt unterzogen wurde;

…“

 

14        Art. 23 Abs. 1 Buchst. d des Verbrauchergesetzbuchs lautet:

„Folgende Geschäftspraktiken gelten unter allen Umständen als irreführend:

d) Die nicht der Wirklichkeit entsprechende Behauptung, dass ein Gewerbetreibender, seine Geschäftspraktiken oder eines seiner Produkte von einer öffentlichen oder privaten Stelle bestätigt, genehmigt oder gebilligt worden seien oder dass den Bedingungen für die Bestätigung, Genehmigung oder Billigung entsprochen worden sei.“

 

15        Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs sieht vor:

„Zusammen mit der Maßnahme, die die unlautere Geschäftspraxis untersagt, verhängt die [AGCM] unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer des Verstoßes eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 5 000 Euro bis 5 000 000 Euro. In Fällen unlauterer Geschäftspraktiken nach Art. 21 Abs. 3 und 4 beträgt die Geldbuße mindestens 50 000 Euro.“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

16        Mit Entscheidung vom 4. August 2016 (im Folgenden: streitige Entscheidung) verhängte die AGCM gegen die VWGI und die VWAG gesamtschuldnerisch eine Geldbuße in Höhe von 5 Mio. Euro wegen unlauterer Geschäftspraktiken im Sinne von Art. 20 Abs. 2, Art. 21 Abs. 1 Buchst. b und Art. 23 Abs. 1 Buchst. d des Verbrauchergesetzbuchs.

 

17        Diese unlauteren Geschäftspraktiken betrafen das Inverkehrbringen von Dieselfahrzeugen in Italien ab dem Jahr 2009, in die eine Software eingebaut war, mit der die Messung der Stickoxid (NOx)-Emissionswerte bei der Überprüfung von Schadstoffemissionen im Rahmen des sogenannten Typgenehmigungsverfahrens, in dem eine Genehmigungsbehörde bescheinigt, dass ein Fahrzeugtyp den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen genügt, verändert werden konnte. Außerdem wurde der VWGI und der VWAG vorgeworfen, Werbung verbreitet zu haben, die trotz des Einbaus der Software Informationen über die angebliche Aufmerksamkeit dieser Gesellschaften in Bezug auf Schadstoffemissionen und über die angebliche Einhaltung der gesetzlichen Emissionsnormen durch die fraglichen Fahrzeuge enthielten.

 

18        Die VWGI und die VWAG erhoben gegen die streitige Entscheidung Klage beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien).

 

19        Während diese Klage bei Gericht anhängig war, verhängte die Staatsanwaltschaft Braunschweig (Deutschland) (im Folgenden: deutsche Staatsanwaltschaft) mit Bescheid vom 13. Juni 2018 (im Folgenden: deutsche Entscheidung) gegen die VWAG eine Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro aufgrund eines Verfahrens wegen der Manipulation von Abgasen bestimmter Dieselmotoren des Volkswagen-Konzerns, bei denen Ermittlungen ergeben hatten, dass die Emissionsnormen umgangen worden waren. In dieser Entscheidung wurde klargestellt, dass mit einem Teil der Geldbuße, und zwar einem Betrag in Höhe von 5 Mio. Euro, das von der Entscheidung erfasste Verhalten geahndet werde, und dass der restliche Betrag dazu bestimmt sei, der VWAG den wirtschaftlichen Vorteil zu entziehen, den sie aus dem Einbau der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Software gezogen habe.

 

20        Die deutsche Entscheidung beruhte auf der Feststellung, dass die VWAG in Bezug auf die Entwicklung der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Software und deren Einbau in 10,7 Millionen weltweit verkaufte Fahrzeuge, davon etwa 700 000 Fahrzeuge in Italien, gegen die Bestimmungen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, die die fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht bei der Tätigkeit von Unternehmen ahnden, verstoßen habe. Diese Software sei als eine nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. 2007, L 171, S. 1) unzulässige Abschalteinrichtung anzusehen.

 

21        Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass die deutsche Staatsanwaltschaft ferner feststellte, die fehlende Aufsicht über die Entwicklung und den Einbau der Software sei eine der Ursachen gewesen, die zu weiteren Verstößen der VWAG weltweit zwischen 2007 und 2015 bei der Beantragung der Typgenehmigung, der Werbung für Fahrzeuge und deren Verkauf an Endabnehmer beigetragen hätten, insbesondere weil diese Fahrzeuge trotz des Vorhandenseins der unzulässigen Software der Öffentlichkeit als Fahrzeuge mit umweltfreundlicher Dieseltechnologie, d. h. als besonders emissionsarme Fahrzeuge, präsentiert worden seien.

 

22        Die deutsche Entscheidung wurde am 13. Juni 2018 rechtskräftig, da die VWAG die darin festgesetzte Geldbuße zahlte und förmlich auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung verzichtete.

 

23        Im Rahmen des beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) anhängigen Verfahrens machten die VWGI und die VWAG u. a. geltend, dass die streitige Entscheidung in der Folge wegen Verstoßes gegen den in Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ geregelten Grundsatz ne bis in idem rechtswidrig geworden sei.

 

24        Mit Urteil vom 3. April 2019 wies dieses Gericht die Klage der VWGI und der VWAG u. a. mit der Begründung ab, dass der Grundsatz ne bis in idem der Aufrechterhaltung der in der streitigen Entscheidung vorgesehenen Geldbuße nicht entgegenstehe.

 

25        Die VWGI und die VWAG legten gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein.

 

26        Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem im vorliegenden Fall Anwendung findet, vorab zu entscheiden.

 

27        Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus dessen Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 63), gehe hervor, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der es zulässig sei, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden sei, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet sei, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.

 

28        Was erstens die mit der streitigen Entscheidung verhängte Sanktion angeht, so fragt sich das vorlegende Gericht, wie diese einzustufen ist. Es ist der Auffassung, dass diese Sanktion als Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur eingestuft werden kann. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich nämlich, dass eine Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur sei, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, nicht nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen solle, sondern auch eine repressive Zielsetzung habe.

 

29        Zweitens führt das vorlegende Gericht nach dem Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz ne bis in idem an, dass dieser Grundsatz verhindern solle, dass ein Unternehmen erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt werde, was voraussetze, dass das betreffende Unternehmen in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt worden sei. Was die Frage betrifft, ob die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung denselben Sachverhalt betreffen, führt das vorlegende Gericht insoweit die „Analogie, wenn nicht gar Identität“ und die „Homogenität“ der von den beiden Entscheidungen erfassten Verhaltensweisen an.

 

30        Ferner sei zu berücksichtigen, dass die in der streitigen Entscheidung vorgesehene Sanktion zwar vor der in der deutschen Entscheidung vorgesehenen Sanktion verhängt worden sei, letztere Entscheidung aber vor der erstgenannten Entscheidung rechtskräftig geworden sei.

 

31        Drittens und letztens gehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden könne. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich daher auch die Frage, ob die in der streitigen Entscheidung angewandten Bestimmungen des Verbrauchergesetzbuchs, die die Richtlinie 2005/29 umsetzten und den Verbraucher schützen sollten, im Hinblick auf Art. 52 der Charta relevant sein könnten.

 

32        Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass nach dieser Rechtsprechung etwaige Einschränkungen von Art. 50 der Charta nur zulässig seien, wenn sie eine Reihe von Voraussetzungen erfüllten. Insbesondere müssten solche Einschränkungen dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgen, die eine Kumulierung von Sanktionen rechtfertigen könnten, durch klare und präzise Vorschriften geregelt werden, eine Koordinierung der Verfahren gewährleisten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafe wahren. Im vorliegenden Fall scheine es aber keine klare und bestimmte Vorschrift zu geben, die die Kumulierung von Sanktionen vorhersehbar mache, keine Koordinierung der fraglichen Verfahren vorgesehen zu sein und im Rahmen dieser Verfahren die höchstmögliche Sanktion verhängt worden zu sein.

 

33        Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind die wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängten Sanktionen im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29 als Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur einzustufen?

2. Ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur gegen eine juristische Person wegen rechtswidriger Handlungen in Form unlauterer Geschäftspraktiken gerichtlich zu bestätigen und rechtskräftig werden zu lassen, wegen derer diese Person in der Zwischenzeit in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden ist, wobei die zweite Verurteilung rechtskräftig geworden ist, bevor über die gerichtliche Anfechtung der ersten Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur rechtskräftig entschieden worden ist?

3. Können die Bestimmungen der Richtlinie 2005/29, insbesondere Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e, eine Abweichung vom Verbot des „ne bis in idem“ nach Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ rechtfertigen?

 

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

34        Die AGCM macht geltend, die Vorlagefragen seien als unzulässig zurückzuweisen, da sie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht sachdienlich seien. Zum einen seien Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sich die deutschen Rechtsvorschriften über die Haftung juristischer Personen, auf deren Grundlage die deutsche Entscheidung ergangen sei, nicht aus dem Unionsrecht ergäben. Zum anderen sei, während der Grundsatz ne bis in idem die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wegen derselben Tat verbiete, im vorliegenden Fall keine Identität des Sachverhalts gegeben, da die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung unterschiedliche Personen und Verhaltensweisen beträfen. Jedenfalls schließe Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 eine solche Identität aus.

 

35        Zum ersten dieser Argumente, das in Wirklichkeit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV ergibt, dass der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe der Union entscheidet (Urteil vom 10. März 2021, Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w N., C‑949/19, EU:C:2021:186, Rn. 23).

 

36        Erstens ist zur Auslegung von Art. 50 der Charta darauf hinzuweisen, dass deren Anwendungsbereich, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 22).

 

37        Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass die streitige Entscheidung auf der Grundlage der italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29 erlassen wurde und somit eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt. Daraus folgt, dass die Charta auf den Ausgangsrechtsstreit Anwendung findet.

 

38        Was zweitens die Auslegung von Art. 54 SDÜ betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass das SDÜ nach dem Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2010, C 83, S. 290), das dem Vertrag von Lissabon beigefügt ist, integraler Bestandteil des Unionsrechts ist (Urteil vom 10. März 2021, Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w N., C‑949/19, EU:C:2021:186, Rn. 24).

 

39        Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen zuständig.

 

40        Zum zweiten der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Argumente ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. Oktober 2022, Contship Italia, C‑433/21 und C‑434/21, EU:C:2022:760, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

41        Im vorliegenden Fall hat die AGCM nicht dargetan, dass die vom vorlegenden Gericht im Rahmen seiner Vorlagefragen erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein Problem hypothetischer Natur betrifft. Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung denselben Sachverhalt und dieselben Personen betreffen. Wie sich aus Rn. 29 des vorliegenden Urteils ergibt, weisen die Verhaltensweisen, auf die sich die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung beziehen, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts allerdings eine „Analogie, wenn nicht gar Identität“ auf. Im Übrigen zielt es mit seiner zweiten Frage auf eine Situation ab, in der gegen eine juristische Person wegen derselben Tat im Rahmen zweier unterschiedlicher Verfahren Sanktionen strafrechtlicher Natur verhängt werden. Somit scheint das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass diese Person im vorliegenden Fall wegen derselben Straftat verfolgt und mit einer Sanktion belegt wird.

 

42        Vor diesem Hintergrund sind die Vorlagefragen als zulässig anzusehen.

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

43        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird.

 

44        Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

45        Was die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der im Ausgangsverfahren fraglichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen betrifft, so geht aus der Rechtsprechung hervor, dass dabei drei Kriterien maßgebend sind: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

46        Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen straf- und verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

47        Im vorliegenden Fall geht hinsichtlich des ersten Kriteriums aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs die Sanktion und das Verfahren, das zur Verhängung einer solchen Sanktion führt, als verwaltungsrechtlich eingestuft werden.

 

48        Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

49        Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Sanktion u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, unbeschadet des Umstands, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 42).

 

50        Im vorliegenden Fall scheint aus dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs hervorzugehen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Sanktion zwangsläufig zu den anderen Maßnahmen hinzukommt, die die AGCM gegen unlautere Geschäftspraktiken ergreifen kann und zu denen, wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, u. a. die Untersagung der Fortsetzung oder Wiederholung der fraglichen Praktiken gehört.

 

51        Obwohl die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend macht, dass die Repression unlauterer Geschäftspraktiken durch diese Untersagung gewährleistet sei und dass die in Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs vorgesehene Sanktion folglich nicht darauf abziele, ein rechtswidriges Verhalten zu ahnden, sondern dem betreffenden Unternehmen den ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu entziehen, den es aufgrund seines Fehlverhaltens gegenüber den Verbrauchern erlangt habe, ist festzustellen, dass ein solches Ziel in der fraglichen Bestimmung in keiner Weise erwähnt wird.

 

52        Auch wenn das Ziel dieser Bestimmung darin bestünde, dem betroffenen Unternehmen den ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu entziehen, ändert dies darüber hinaus nichts daran, dass die Geldbuße je nach Schwere und Dauer des fraglichen Verstoßes variiert, was eine gewisse Abstufung und Progression bei der Festlegung der Sanktionen erkennen lässt, die verhängt werden können. Im Übrigen könnte, wenn dies das Ziel der Bestimmung wäre, der Umstand, dass diese vorzusehen scheint, dass die Geldbuße einen Höchstbetrag von 5 Mio. Euro erreichen kann, dazu führen, dass das Ziel nicht erreicht wird, wenn der ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteil diesen Betrag übersteigt. Umgekehrt würde der Umstand, dass die Geldbuße nach Art. 27 Abs. 9 Satz 2 des Verbrauchergesetzbuchs bei bestimmten unlauteren Geschäftspraktiken offenbar nicht weniger als 50 000 Euro betragen darf, bedeuten, dass die Geldbuße für diese Praktiken den Betrag des ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteils übersteigen kann.

 

53        Zum dritten Kriterium, nämlich dem Schweregrad der im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen, ist darauf hinzuweisen, dass der Schweregrad nach Maßgabe der in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehenen Höchststrafe beurteilt wird (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 46).

 

54        Insoweit genügt die Feststellung, dass eine Verwaltungsgeldbuße, die einen Betrag von 5 Mio. Euro erreichen kann, einen hohen Schweregrad aufweist, der geeignet ist, die Analyse zu stützen, nach der diese Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist.

 

55        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.

 

Zur zweiten Frage

56        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.

 

57        Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).

 

Zur Voraussetzung „bis“

58        Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 29).

 

59        Zwar setzt die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem das Vorliegen einer früheren endgültigen Entscheidung voraus, doch folgt daraus nicht zwangsläufig, dass es sich bei den späteren Entscheidungen, denen der Grundsatz entgegensteht, nur um solche handeln kann, die nach der früheren endgültigen Entscheidung ergangen sind. Dieser Grundsatz schließt nämlich aus, dass bei Vorliegen einer endgültigen Entscheidung eine Strafverfolgung wegen derselben Tat eingeleitet oder aufrechterhalten werden kann.

 

60        Im vorliegenden Fall geht zum einen aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die deutsche Entscheidung am 13. Juni 2018, d. h. nach dem Erlass der streitigen Entscheidung, rechtskräftig wurde. Zwar konnte die deutsche Entscheidung, solange sie nicht rechtskräftig geworden war, nicht angeführt werden, um im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem dem von der AGCM geführten Verfahren und der streitigen Entscheidung entgegenzutreten, dies änderte sich aber, wenn sie zu einem Zeitpunkt rechtskräftig wurde, zu dem die streitige Entscheidung dies noch nicht war.

 

61        Entgegen dem Vorbringen der AGCM in ihren schriftlichen Erklärungen kann der Umstand, dass die deutsche Entscheidung rechtskräftig wurde, nachdem die VWAG die darin festgesetzte Geldbuße zahlte und auf ihre Anfechtung verzichtete, diese Beurteilung nicht in Frage stellen. Der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem findet nämlich Anwendung, sobald eine Entscheidung strafrechtlicher Natur rechtskräftig geworden ist, unabhängig davon, wie sie Rechtskraft erlangt hat.

 

62        Zum anderen scheint es, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, dass die deutsche Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist.

 

63        Unter diesen Umständen und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zeigt sich somit, dass das Verfahren, das zum Erlass der deutschen Entscheidung geführt hat, durch eine endgültige Entscheidung im Sinne der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung beendet wurde.

 

Zur Voraussetzung „idem“

64        Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 31).

 

65        Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, betreffen sowohl die streitige Entscheidung als auch die deutsche Entscheidung dieselbe juristische Person, nämlich die VWAG. Dass die streitige Entscheidung darüber hinaus die VWGI betrifft, vermag diese Feststellung nicht in Frage zu stellen.

 

66        Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach gefestigter Rechtsprechung das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

67        Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

68        Im vorliegenden Fall zielt das vorlegende Gericht, wie bereits in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt, mit seiner zweiten Frage auf eine Situation ab, in der gegen eine juristische Person wegen derselben Tat im Rahmen zweier unterschiedlicher Verfahren Sanktionen strafrechtlicher Natur verhängt werden. Folglich scheint das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit die Voraussetzung „idem“ als erfüllt anzusehen.

 

69        Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt und wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bezieht sich dieses Gericht jedoch auch auf die „Analogie“ und die „Homogenität“ der fraglichen Handlungen.

 

70        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus Rn. 66 des vorliegenden Urteils ergibt, der in Art. 50 der Charta geregelte Grundsatz ne bis in idem nur dann Anwendung finden kann, wenn die Taten, auf die sich die beiden fraglichen Verfahren bzw. Sanktionen beziehen, identisch sind. Es genügt nicht, dass der Sachverhalt ähnlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36).

 

71        Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht von Rn. 66 des vorliegenden Urteils zu beurteilen, ob die Verfolgungsmaßnahmen der deutschen Staatsanwaltschaft und der AGCM sowie die in der deutschen Entscheidung und in der streitigen Entscheidung gegen die VWAG verhängten Sanktionen denselben Sachverhalt und damit denselben Verstoß betreffen, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben.

 

72        Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie die niederländische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, die von der deutschen Entscheidung erfasste Nachlässigkeit bei der Aufsicht über die Tätigkeiten einer in Deutschland ansässigen Organisation ein Verhalten ist, das sich vom Inverkehrbringen von Fahrzeugen in Italien, die mit einer im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, und von der Verbreitung irreführender Werbung in diesem Mitgliedstaat, die Gegenstand der streitigen Entscheidung sind, unterscheidet.

 

73        Zweitens ist, soweit die deutsche Entscheidung das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einer solchen unzulässigen Abschalteinrichtung, einschließlich in Italien, sowie die Verbreitung unrichtiger Werbung in Bezug auf den Verkauf dieser Fahrzeuge betrifft, klarzustellen, dass die bloße Tatsache, dass eine Behörde eines Mitgliedstaats in einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen das Unionsrecht und die entsprechenden Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats festgestellt wird, einen tatsächlichen Umstand erwähnt, der sich auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezieht, nicht für die Annahme ausreichen kann, dass dieser tatsächliche Umstand der Grund für die Verfolgungsmaßnahmen ist oder von dieser Behörde als einer der Umstände angesehen wurde, die diesen Verstoß tatbestandlich begründen. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob die besagte Behörde auf diesen tatsächlichen Umstand in der Tat eingegangen ist, um den Verstoß sowie die Verantwortlichkeit des Beschuldigten dafür festzustellen und gegebenenfalls eine Sanktion gegen ihn zu verhängen, damit davon auszugehen ist, dass der Verstoß das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 44).

 

74        Drittens geht jedoch aus der deutschen Entscheidung hervor, dass der Verkauf dieser Fahrzeuge in anderen Mitgliedstaaten, einschließlich der Italienischen Republik, von der deutschen Staatsanwaltschaft bei der Berechnung des Betrags von 995 Mio. Euro berücksichtigt wurde, der gegen die VWAG als Abschöpfung des aus ihrem rechtswidrigen Verhalten gezogenen wirtschaftlichen Vorteils verhängt wurde.

 

75        Viertens hat die deutsche Staatsanwaltschaft in der deutschen Entscheidung ausdrücklich ausgeführt, dass der im deutschen Grundgesetz verankerte Grundsatz ne bis in idem der Verhängung weiterer strafrechtlicher Sanktionen gegen den Volkswagen-Konzern in Deutschland in Bezug auf die fragliche Abschalteinrichtung und deren Verwendung entgegenstehe. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft handelt es sich nämlich bei dem Sachverhalt, der von der deutschen Entscheidung erfasst werde und demjenigen, auf den sich die streitige Entscheidung beziehe, um denselben Sachverhalt im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs, da der Einbau der Abschalteinrichtung, die Erteilung der Typgenehmigung sowie die Werbung für die betreffenden Fahrzeuge und deren Verkauf eine Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände darstellten.

 

76        Sollte das vorlegende Gericht zur Feststellung gelangen, dass der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Verfahren war, identisch ist, würde die Kumulierung der gegen die VWAG verhängten Sanktionen die Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem einschränken.

 

77        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.

 

Zur dritten Frage

78        Mit seiner dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung von Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29 sowie von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ, um die Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen Einschränkungen der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem gerechtfertigt sein können.

 

79        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

80        Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Art. 54 SDÜ sowie Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29, auf die sich die dritte Frage ausdrücklich bezieht, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sind.

 

81        Erstens wird nach der Rechtsprechung mit Art. 54 SDÜ das Ziel verfolgt, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Mitgliedstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 45, und vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 78).

 

82        Da die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, im Ausgangsverfahren nicht in Frage steht, da es zwei Unternehmen betrifft, von denen eines in Deutschland und das andere in Italien ansässig ist, ist eine Auslegung von Art. 54 SDÜ für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich.

 

83        Zweitens gehen nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29, wenn die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Union, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, kollidieren, die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 sowie aus deren zehnten Erwägungsgrund ergibt sich, dass diese Richtlinie nur insoweit gilt, als keine spezifischen Vorschriften des Unionsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, und dass diese Bestimmung ausdrücklich die Kollision von Unionsregelungen und nicht von nationalen Regelungen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

84        Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, dass im vorliegenden Fall eine Kollision zwischen den Vorschriften des Unionsrechts vorliegt. Da Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 gerade eine Kumulierung von Verfahren und Sanktionen verhindern soll, ist diese Bestimmung jedenfalls für die Beantwortung der Frage unerheblich, unter welchen Umständen Abweichungen vom Grundsatz ne bis in idem möglich sind.

 

85        Drittens ist Art. 13 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie in zeitlicher Hinsicht nicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar, da diese Bestimmung durch die Richtlinie 2019/2161 in die Richtlinie 2005/29 eingefügt wurde und erst ab dem 28. Mai 2022 anwendbar ist.

 

86        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, unter welchen Voraussetzungen Einschränkungen der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem gerechtfertigt werden können.

 

87        Eine Einschränkung der Anwendung dieses Grundsatzes kann auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

88        Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

 

89        Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es, wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorzugehen scheint, gesetzlich vorgesehen war, dass jede der betreffenden nationalen Behörden tätig wird, was – wie geltend gemacht wird – zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen geführt habe.

 

90        Diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, wahrt den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta, sofern die betreffenden nationalen Regelungen es nicht ermöglichen, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsehen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43).

 

91        Zur Frage, ob die Einschränkung der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist festzustellen, dass mit den beiden im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelungen verschiedene legitime Ziele verfolgt werden.

 

92        Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll die nationale Bestimmung, auf deren Grundlage die deutsche Entscheidung erlassen wurde, sicherstellen, dass sich Unternehmen und ihre Beschäftigten gesetzeskonform verhalten, und ahndet daher fahrlässige Verstöße gegen die Überwachungspflicht im Bereich einer unternehmerischen Tätigkeit, während die von der AGCM angewandten Bestimmungen des Verbrauchergesetzbuchs die Richtlinie 2005/29 umsetzen und ihr Zweck gemäß Art. 1 dieser Richtlinie darin besteht, ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherzustellen und zugleich zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen.

 

93        Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

94        Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden berechtigt sind, auf bestimmte für die Gesellschaft schädliche Verhaltensweisen einander ergänzende rechtliche Antworten zu geben, indem in verschiedenen Verfahren in zusammenhängender Weise unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems behandelt werden, sofern diese kombinierten rechtlichen Antworten keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellen. Die Tatsache, dass mit zwei Verfahren unterschiedliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt werden, deren kumulierter Schutz legitim ist, kann daher im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen als Faktor zur Rechtfertigung dieser Kumulierung berücksichtigt werden, sofern diese Verfahren komplementär sind und die zusätzliche Belastung durch diese Kumulierung somit durch die beiden verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 49).

 

95        Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

96        Daraus folgt, dass eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat insbesondere drei Voraussetzungen erfüllen muss, um als gerechtfertigt angesehen zu werden, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

 

97        Zur ersten dieser Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass die streitige Entscheidung eine Geldbuße von 5 Mio. Euro festsetzt, die zu der mit der deutschen Entscheidung gegen die VWAG verhängten Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro hinzukäme. Angesichts dessen, dass die VWAG die Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro akzeptiert hat, ist nicht ersichtlich, dass die mit der streitigen Entscheidung verhängte Geldbuße, deren Betrag nur 0,5 % der in der deutschen Entscheidung festgesetzten Geldbuße entspricht, dazu geführt hätte, dass die Kumulierung dieser Sanktionen eine übermäßige Belastung für diese Gesellschaft darstellt. Unter diesen Umständen ist es unerheblich, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die höchstmögliche in den einschlägigen Rechtsvorschriften vorgesehene Sanktion verhängt wurde.

 

98        Was die zweite Voraussetzung betrifft, hat das vorlegende Gericht zwar keine deutschen oder italienischen Bestimmungen angeführt, die speziell die Möglichkeit vorsehen, dass bei einem Verhalten wie dem von der streitigen Entscheidung und der deutschen Entscheidung erfassten, selbst wenn es sich um dasselbe Verhalten handelt, eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen in verschiedenen Mitgliedstaaten in Frage kommt, jedoch lässt nichts die Annahme zu, dass die VWAG nicht hätte vorhersehen können, dass dieses Verhalten in mindestens zwei Mitgliedstaaten zu Verfahren und Sanktionen führen könnte, die entweder auf die für unlautere Geschäftspraktiken geltenden Vorschriften oder auf andere Vorschriften wie die des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten gestützt würden, deren jeweilige Klarheit und Präzision im Übrigen nicht in Frage gestellt worden zu sein scheinen.

 

99        Was drittens die in Rn. 96 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung der Koordinierung der Verfahren betrifft, so zeigt sich, auch unter Berücksichtigung der Informationen, die die VWAG in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgelegt hat, dass zwischen der deutschen Staatsanwaltschaft und der AGCM keine Koordinierung stattgefunden hat, obwohl die fraglichen Verfahren einige Monate lang parallel geführt worden zu sein scheinen und die deutsche Staatsanwaltschaft den vorgelegten Informationen zufolge bei Erlass ihrer eigenen Entscheidung von der streitigen Entscheidung Kenntnis hatte.

 

100                  Wie der Generalanwalt in Nr. 107 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sah die Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden („Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz“) (ABl. 2004, L 364, S. 1), die durch die Verordnung 2017/2394 ersetzt wurde, zwar ein Instrument für die Zusammenarbeit und Koordinierung der für die Umsetzung der Verbraucherschutzvorschriften zuständigen nationalen Behörden vor, jedoch gehört die deutsche Staatsanwaltschaft im Unterschied zur AGCM nicht zu diesen Behörden.

 

101      Zwar scheint die deutsche Staatsanwaltschaft, wie aus den von der VWAG in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgelegten Informationen hervorgeht, Schritte bei der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) unternommen zu haben, um in Bezug auf den von der deutschen Entscheidung erfassten Sachverhalt eine Kumulierung von Strafverfahren gegen die VWAG in mehreren Mitgliedstaaten zu verhindern, aus den vorgelegten Informationen ergibt sich aber, dass die italienischen Behörden nicht auf die Strafverfolgung gegen die VWAG verzichtet haben und dass die AGCM an diesem Koordinierungsversuch bei Eurojust nicht mitgewirkt hat.

 

102      Soweit die italienische Regierung im Wesentlichen vorträgt, dass es, um in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine Kumulierung von Verfahren und Sanktionen wegen derselben Tat als gerechtfertigt anzusehen, lediglich erforderlich sei, zu prüfen, ob der Grundsatz ne bis in idem in seiner „materiellen Dimension“, wie es diese Regierung formuliert, beachtet werde, d. h., zu prüfen, ob die Gesamtsanktion, die sich aus den beiden fraglichen Verfahren ergebe, nicht offensichtlich unverhältnismäßig sei, ohne dass eine Koordinierung dieser Verfahren erforderlich wäre, ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen, die von der in Rn. 95 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aufgestellt worden sind und unter denen eine solche Kumulierung als gerechtfertigt angesehen werden kann, die Möglichkeit eingrenzen, die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem einzuschränken. Folglich können diese Voraussetzungen nicht von Fall zu Fall variieren.

 

103      Zwar kann sich die Koordinierung von Verfahren oder Sanktionen, die denselben Sachverhalt betreffen, als schwieriger erweisen, wenn die betreffenden Behörden, wie im vorliegenden Fall, zu verschiedenen Mitgliedstaaten gehören. Auch wenn die praktischen Beschränkungen, die einem solchen grenzüberschreitenden Kontext eigen sind, zu berücksichtigen sind, können sie es jedoch, wie der Generalanwalt in den Nrn. 114 und 115 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht rechtfertigen, dass das Koordinierungserfordernis relativiert oder darauf verzichtet wird.

 

104      Eine solche Koordinierung von Verfahren oder Sanktionen kann ausdrücklich durch das Unionsrecht geregelt werden, wie das Koordinierungssystem zeigt, das in der Verordnung Nr. 2006/2004 vorgesehen war und nunmehr in der Verordnung 2017/2394 vorgesehen ist, auch wenn es auf unlautere Geschäftspraktiken beschränkt ist.

 

105      Was die von der Europäischen Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung angesprochene Gefahr betrifft, dass jemand eine strafrechtliche Verurteilung in einem Mitgliedstaat allein zu dem Zweck anstrebt, sich vor Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat zu schützen, enthalten die dem Gerichtshof vorgelegten Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass sich eine solche Gefahr im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits verwirklichen könnte. Insbesondere können die in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten Umstände ein solches Vorbringen nicht stützen.

 

106      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem zulässt, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden, erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

stats