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Wirtschaftsrecht
23.08.2023
Wirtschaftsrecht
BGH: Musterfeststellungsklage zum Neukundenbonus in Insolvenz eines Energieversorgers

BGH, Urteil vom 27.7.2023 – IX ZR 267/20

Volltext: BB-Online BBL2023-1922-1

unter www.betriebs-berater.de

Amtliche Leitsätze

Wird über das Vermögen des von den Feststellungszielen betroffenen Unternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet, kann eine Musterfeststellungsklage gegen den Insolvenzverwalter erhoben werden, auch wenn dieser das Unternehmen nicht fortführt.

InsO § 80 Abs. 1; ZPO § 606 Abs. 1

Insolvenzrechtliche Bestimmungen stehen einer Musterfeststellungsklage jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Feststellungsziele sich ausschließlich auf Aktivprozesse der Masse beziehen.

InsO § 85; ZPO § 606 Abs. 1

Die Berücksichtigung eines Neukundenbonus in der Jahresverbrauchsabrechnung eines Energieversorgungsvertrags stellt keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung oder Verrechnung dar, wenn der Neukundenbonus als vom Jahresumsatz abhängiger Nachlass (Rabatt) ausgestaltet ist.

InsO § 94; § 96 Abs. 1 Nr. 3

Beschränkt sich eine Bestimmung in einem Energielieferungsvertrag über die Berechnung des Jahresverbrauchspreises ausschließlich auf die Formulierung

"Grundpreis: [...] €/Monat (inkl. 19% MWst)

Arbeitspreis: [...] €/Monat (inkl. 19% MWSt)

Neukundenbonus: [x] % (Jahresumsatz)",

kann diese Klausel bei der Verwendung gegenüber Verbrauchern dahin auszu- legen sein, dass es sich bei dem Neukundenbonus um einen einmaligen, nicht an eine Mindestlaufzeit geknüpften Nachlass (Rabatt) auf den Jahresverbrauchspreis handelt.

BGB § 305c Abs. 2, § 307 Abs. 1

 

 

Sachverhalt

Der Kläger ist ein als qualifizierte Einrichtung in die Liste nach § 4 UKlaG eingetragener Verein zum Schutz von Verbraucherinteressen. Der Beklagte ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 25. Januar 2019 am 16. Oktober 2019 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der B.                                       mbH (im Folgenden: Schuldnerin). Die Schuldnerin warb Kunden von Energielieferverträgen über Gas und Strom unter anderem mit einem vom Jahresumsatz abhängigen Neukundenbonus. In den Belieferungsbestätigungen für diese Kunden waren unter dem Gliederungspunkt "Tarif" der Grundpreis, der Arbeitspreis und der Neukundenbonus von 15 % des Jahresumsatzes für Gas- und 25 % des Jahresumsatzes für Stromlieferungen verzeichnet. Nr. 3.3 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen-Strom und den Allgemeinen Geschäftsbedingungen-Gas der Schuldnerin (im Folgenden: AGB-Strom und AGB-Gas) sahen vor, dass eine Mindestvertragslaufzeit von zwölf Monaten als vereinbart gelte, sofern hierzu in der Belieferungsbestätigung keine Regelung getroffen werde. Nr. 7.1 der AGB-Strom und der AGB-Gas der Schuldnerin enthielten gleichlautende Regelungen zum Abrechnungszeitraum. Nr. 7.4 AGB-Strom bestimmte: "Sofern im jeweiligen Tarif vereinbart, bietet die [Schuldnerin] als Abschlussprämie für den Abschluss eines Vertrages einen einmaligen Prämienbetrag (Bonus). Die Modalitäten der Gewährung eines zugesagten Bonus sind dem jeweiligen Angebot zu entnehmen." Nr. 7.4 AGB-Gas lautete: "Sofern im jeweiligen Tarif vereinbart, bietet die [Schuldnerin] als Abschlussprämie für den Abschluss des Vertrags einen einmaligen Prämienbetrag (Bonus). Etwaige Vorauszahlungen werden durch den Bonus grundsätzlich nicht gemindert." Nr. 7.5 der AGB bestimmten wörtlich gleich: "Die Verrechnung eines dem Kunden gegebenenfalls von der [Schuldnerin] zu gewährenden Bonus mit Forderungen der [Schuldnerin] aus unterjähriger Abrechnung vor Ablauf eines Belieferungsjahres sowie mit Abschlagszahlungen vor Erteilung der ersten Jahresverbrauchsrechnung ist ausgeschlossen."

Zwischen dem 28. Januar und dem 1. Februar 2019 stellte die Schuldnerin die Belieferung ihrer Kunden ein. Der Beklagte rechnete nach seiner Bestellung zum vorläufigen Verwalter am 29. Januar 2019 die Verträge von mehr als 100.000 Kunden der Schuldnerin ohne Berücksichtigung des Neukundenbonus ab, wenn nicht eine Mindestvertragslaufzeit von einem Jahr erreicht war. Im Übrigen meint der Beklagte, die Berücksichtigung etwaiger Boni würde sich als insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung darstellen; entsprechende Forderungen seien zur Insolvenztabelle anzumelden.

Der Kläger begehrt im Wege der Musterfeststellungsklage gegenüber dem Beklagten die Feststellung, dass einer Berücksichtigung des Neukundenbonus in den Abrechnungen eines Energielieferungsvertrages zwischen einem Verbraucher und der Schuldnerin nicht die Tatsache entgegensteht, dass die Belieferung durch die Schuldnerin und/oder den vorläufigen Insolvenzverwalter vor Ablauf der Mindestvertragslaufzeit endete. Weiter beantragt er die Feststellung, dass die Berücksichtigung des prozentual vom Umsatz gewährten Neukundenbonus in der Weise zu erfolgen hat, dass die Entgeltforderung in der Endabrechnung um den Bonus zu kürzen ist und dies nicht den Aufrechnungsregelungen nach den §§ 94 ff InsO, insbesondere nicht dem Verbot nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unterfällt.

Das Oberlandesgericht hat nach den Klageanträgen erkannt und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.

Aus den Gründen

5          Die zulässige Revision ist nicht begründet.

 

I.

6          Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner in NZI 2020, 912 ff veröffentlichten Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Dass sich die Musterfeststellungsklage gegen einen Insolvenzverwalter richte, der selbst nicht Unternehmer sei, hindere deren Zulässigkeit nicht, weil auf die Unternehmereigenschaft nur bei der Eingrenzung der zulässigen Feststellungsziele abzustellen sei. Ferner entfalte § 87 InsO keine Sperrwirkung, weil die Musterfeststellungsklage sich nicht auf Insolvenzforderungen beziehe. Stattdessen ziele die Klage gerade darauf ab, dass die Neukundenboni keine selbständigen Forderungen der Kunden begründeten, die als Insolvenzforderungen anzusehen wären, sondern unselbständige Rechnungsposten, die lediglich zu einer Verringerung der vom Beklagten geltend gemachten Entgeltforderungen gegen die Kunden führten. Die Klageanträge seien hinreichend bestimmt. In der Sache sei der Neukundenbonus auch ohne Einhaltung einer Mindestbelieferungszeit zu gewähren, weil sich eine Beschränkung auf Vertragsverhältnisse mit einer Mindestlaufzeit von einem Jahr weder aus den Lieferbestätigungen noch aus den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Schuldnerin ergebe. Der Neukundenbonus sei neben Grund- und Arbeitspreis ein den Tarif bestimmender Faktor, der in die Endabrechnung als unselbständiger Rechnungsposten einzustellen sei und deshalb nicht den insolvenzrechtlichen Aufrechnungsverboten unterliege.  II.

 

7          Dies hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.

 

8          1. Die Musterfeststellungsklage gegen den Insolvenzverwalter ist zulässig.

 

9          a) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob der Insolvenzverwalter als Unternehmer im Sinne des § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO anzusehen ist (zu § 14 BGB bejahend Grüneberg/Ellenberger, BGB, 82. Aufl., § 14 Rn. 2; BeckOGK-BGB/Alexander, Stand 2023, § 14 Rn. 78.1; Ring in Heidel/Hüßtege/Mansel/Noack, BGB AT, 4. Aufl., § 14 Rn. 37; Lüke in Kübler/Prütting/Bork/Jacoby, InsO, 2020, § 80 Rn. 13a). Weiter kann dahinstehen, ob im Musterfeststellungsverfahren entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts und eines Teils des Schrifttums (Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 606 Rn. 2 und Rn. 17; Röthemeyer, BKR 2021, 191, 194) nur ein Unternehmer Beklagter sein kann (so Anders/Gehle/Schmidt, ZPO, 81. Aufl., § 606 Rn. 12; MünchKomm-ZPO/Menges, 6. Aufl., § 606 Rn. 18; Heigl/Normann in Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 2 Rn. 29). Aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin folgt schon aus § 80 Abs. 1 InsO, dass die vorliegende Musterfeststellungsklage, die ausschließlich bereits vom schuldnerischen Unternehmen begründete Ansprüche betrifft, gegen den Insolvenzverwalter zu erheben ist. Nach dieser Vorschrift geht für alle die Insolvenzmasse betreffenden Rechtsstreitigkeiten unabhängig von der Verfahrensart die Prozessführungsbefugnis vom Schuldner auf den Insolvenzverwalter über (BGH, Urteil vom 18. April 2013 - IX ZR 165/12, NZI 2013, 641 Rn. 11 mwN; Schmidt/Sternal, InsO, 20. Aufl., § 80 Rn. 37). Die unternehmerische Tätigkeit der Schuldnerin umfasst auch noch die mit deren insolvenzbedingter Beendigung zusammenhängenden Vorgänge, also auch die hier in Rede stehende Schlussabrechnung gegenüber den Kunden (vgl. Staudinger/Fritzsche, BGB, 2018, § 14 Rn. 63).

 

10        b) Entgegen der Auffassung der Revision stehen insolvenzrechtliche Bestimmungen der Zulässigkeit der Musterfeststellungsklage im Streitfall nicht entgegen.

 

11        aa) Streitgegenstand der Feststellungsziele der Musterfeststellungsklage (§ 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO) sind allein Aktivprozesse der Insolvenzmasse.

 

12        (1) Das Oberlandesgericht hat das Begehren des Klägers dahin ausgelegt, dass sich die Musterfeststellungsklage nicht auf Insolvenzforderungen beziehe, sondern allein die Voraussetzungen für eine Berechnung der vom Beklagten gegen die Kunden der Schuldnerin geltend gemachten Entgeltforderungen betreffe. Danach zielt die Klage, wie das Oberlandesgericht zutreffend bemerkt hat, gerade darauf ab, dass die Neukundenboni keine selbständigen, als Insolvenzforderungen anzusehenden Ansprüche begründen, sondern unselbständige Rechnungsposten, die lediglich zu einer Verringerung der vom Beklagten geltend gemachten Forderungen gegen die Kunden führten. Folglich betreffen die Feststellungsziele ausschließlich Masseforderungen und damit (künftige) Aktivprozesse der Masse (vgl. § 85 InsO). Für Aktivprozesse der Masse bestehen keine insolvenzrechtlichen Besonderheiten, die eine Musterfeststellungsklage hindern könnten.

 

13        Auf die von der Revision geltend gemachten Einwände gegen diese Auslegung des Klagebegehrens kommt es nicht an. Der Kläger hat kein Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegt, so dass ein die Feststellung von Insolvenzforderungen (§§ 87, 174 ff InsO) betreffendes Feststellungsziel nicht Gegenstand der Revisionsinstanz ist.

 

14        (2) Eine solche Beschränkung des Streitgegenstandes ist zulässig und wirksam. Durch die Benennung der Feststellungsziele und des Lebenssachverhalts bestimmt der Kläger den Streitgegenstand der Musterfeststellungsklage (BT-Drucks. 19/2439, S. 22; Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, Rn. 64). Jedes Feststellungsziel bildet ein im Sinne von § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO gesondertes Rechtsschutzbegehren und mithin einen eigenständigen Streitgegenstand (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 - VI ZB 59/18, NJW 2020, 341 Rn. 10). Damit steht die Auswahl der Feststellungsziele grundsätzlich im freien Belieben des Klägers; sie müssen nur so deutlich gefasst sein, dass der Streitgegenstand und die Entscheidungskompetenz des Gerichts hinreichend deutlich werden (vgl. Anders/Gehle/Schmidt, ZPO, 81. Aufl., § 606 Rn. 17).

 

15        Der Beschränkung auf Masseforderungen steht nicht entgegen, dass die Rechtsfragen, die für die vom Kläger verfolgten Feststellungsziele erheblich sind, sich ebenfalls im Rahmen einer Feststellung von Insolvenzforderungen stellen können. Dass die von den Feststellungszielen betroffenen Rechtsfragen sich ebenso für Ansprüche der Verbraucher gegen die Schuldnerin stellen können, zwingt den Kläger nicht, eine Klärung der Feststellungsziele auch für diese Ansprüche in sein Feststellungsbegehren einzubeziehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn für die Durchsetzung der Ansprüche unterschiedliche Verfahren vorgesehen sind, wie es bei Insolvenzforderungen der Fall ist (§§ 87, 174 ff InsO).

 

16        bb) Damit kann dahinstehen, ob sich aus den Bestimmungen zur Forderungsfeststellung im Insolvenzverfahren (§§ 87, 174 ff InsO) Besonderheiten ergeben, die einer Musterfeststellungsklage entgegenstehen.

 

17        (1) Allerdings schließt nicht schon die besondere Zuständigkeit für die gerichtliche Feststellung gemäß § 180 InsO eine Musterfeststellungsklage aus. Die streitwertunabhängige ausschließliche erstinstanzliche sachliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte (§ 119 Abs. 3 Satz 1 GVG) des allgemeinen Gerichtsstands des Beklagten (§ 32c ZPO) ist laut den Gesetzesmaterialien der Sondervorschrift des § 118 GVG für Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz nachgebildet und berücksichtigt die Interessen der Betroffenen an einer zügigen und effizienten Rechtsdurchsetzung (vgl. BR-Drucks. 176/1/18, S. 3; übernommen in BT-Drucks. 19/2741, S. 6 f, 24). § 119 Abs. 3 Satz 2 GVG ermöglicht den Ländern überdies, eine Zuständigkeitskonzentration bei einem Oberlandesgericht oder einem Obersten Landesgericht vorzusehen und damit durch die entsprechende Spezialisierung der Gerichte noch effizientere und zügigere Verfahrenserledigungen zu ermöglichen (vgl. BR-Drucks. 176/1/18, S. 3). Damit hat sich der Gesetzgeber bewusst für die Ausgestaltung eines eigenständigen zweizügigen Rechtszugs (§ 614 ZPO) entschieden, der für zahlreiche Rechtsmaterien Abweichungen von besonderen Zuständigkeitsregelungen etwa bei Streitigkeiten über Ansprüche aus einem Mietverhältnis über Wohnraum (§ 23 Nr. 2 Buchst. a GVG) oder bei Streitigkeiten aus Bank- und Finanzgeschäften (§ 72a Abs. 1 Nr. 1, § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG) bedingt.

 

18        (2) Hingegen könnten insbesondere die in §§ 178 ff InsO geregelten besonderen Voraussetzungen und Wirkungen der Feststellung von Insolvenzforderungen und die mit der Beteiligung aller Insolvenzgläubiger an der Feststellung von Forderungen einhergehenden Besonderheiten die von § 613 ZPO vorgesehene Bindungswirkung eines Musterfeststellungsurteils hindern. § 87 InsO gilt nur für Insolvenzgläubiger, soweit sie als Inhaber einer Forderung gegen den Schuldner vorgehen wollen (HK-InsO/Kayser, 11. Aufl., § 87 Rn. 3; MünchKomm-InsO/Breuer/Flöther, 4. Aufl., § 87 Rn. 8). Insolvenzforderungen im Sinne der §§ 38, 39 InsO sind sämtliche schuldrechtlichen Ansprüche, die durch den Schuldner vor Verfahrenseröffnung durch Vertrag begründet wurden (MünchKomm-InsO/Ehricke/Behme, aaO, § 38 Rn. 69). Die vorliegende Musterfeststellungsklage betrifft indessen keine Insolvenzforderungen von Kunden der Schuldnerin, auch keine solchen auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung (vgl. dazu MünchKomm-InsO/Ehricke/Behme, aaO Rn. 70). Deshalb kann offenbleiben, ob eine Musterfeststellungsklage auch dann zulässig ist, wenn sich die Feststellungsziele (auch) auf dem Verfahren nach §§ 179 ff InsO unterliegende Insolvenzforderungen beziehen (bejahend Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 606 Rn. 2; Weinland in Festschrift Kayser, 2019, S. 1093, 1106; aA Graf-Schlicker/Breitenbücher, InsO, 6. Aufl., § 87 Rn. 9; Thole, NZI 2020, 411, 412).

 

19        cc) Das Feststellungsbegehren ist nach dem Gesetz auch insoweit zulässig, als der Antrag zu 2 auf die Klärung insolvenzrechtlicher Fragen wie die (Nicht-) Anwendbarkeit der §§ 94 ff InsO abzielt. Die Musterfeststellungsklage ist nach dem Wortlaut des § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO grundsätzlich für das Bestehen oder Nichtbestehen aller Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer eröffnet, soweit sie nicht die in Art. 3, 7, 8 und 9 des Gesetzes zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) ausgenommenen Verfahren und Gerichtsbarkeiten betreffen. Der Anwendungsbereich für diese Klageart soll laut der Gesetzesbegründung - anders als die älteren Institute des Kapitalanleger-Musterverfahrens und der Verbandsklage - nicht auf ein hochspezifisches zivilrechtliches Sondergebiet beschränkt werden. Vielmehr soll die Musterfeststellungsklage in verbraucherrechtlichen Angelegenheiten allgemein angewendet werden können (BT-Drucks. 19/2439, S. 14 f, 16; Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, 2. Aufl., § 606 Rn. 24; Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, Rn. 27). Damit erstreckt sich dieses Rechtsinstrument auch auf nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens auftretende insolvenzrechtliche Fragen, solange sie - wie hier - abstrakt sind, also nicht von individuellen Verhältnissen der einzelnen Verbraucher abhängen.

 

20        c) Das Rechtsschutzbedürfnis hat das Oberlandesgericht mit Recht bejaht.

 

21        aa) Mit dem Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses als Einschränkung des Justizgewährleistungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG) soll verhindert werden, dass die Gerichte als Teil der Staatsgewalt unnütz oder gar unlauter bemüht werden oder ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren zur Verfolgung zweckwidriger und insoweit nicht schutzwürdiger Ziele ausgenutzt wird. Es sollen solche Klagebegehren nicht in das Stadium der Begründetheitsprüfung gelangen, die - gemessen am Zweck des Zivilprozesses - ersichtlich eines staatlichen Rechtsschutzes durch eine materiell-rechtliche Prüfung nicht bedürfen. Rechtsschutz kann unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt deshalb nur unter engen Voraussetzungen versagt werden (BGH, Urteil vom 23. März 2022 - VIII ZR 133/20, NJW-RR 2022, 660 Rn. 16 f mwN). Für die Beurteilung des Rechtsschutzbedürfnisses ist grundsätzlich auf die Prozessparteien abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 1983 - V ZR 48/82, NJW 1984, 2950; BAGE 98, 42, 44; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 256 Rn. 48, jeweils zum Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO). Nach diesen Grundsätzen steht der klagenden qualifizierten Einrichtung zur Verfolgung ihrer schutzwürdigen Ziele kein anderer Weg als die Musterfeststellungsklage gegen den Beklagten offen, insbesondere kann sie nicht darauf verwiesen werden, dass die nicht als Parteien am Musterfeststellungsprozess beteiligten Anmelder oder sonstige Dritte ihrerseits individuelle Rechtsbehelfe ergreifen könnten.

 

22        bb) Anders als die Revision meint, ist die Musterfeststellungsklage nicht deswegen unzulässig, weil das Unternehmen der Schuldnerin nicht mehr auf dem Markt tätig ist und vom beklagten Insolvenzverwalter abgewickelt wird. Eine solche Beschränkung ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus den Zwecken der §§ 606 ff ZPO. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs bezweckt die Musterfeststellungsklage in erster Linie eine Überwindung des "rationalen Desinteresses" von Verbrauchern bei der Geltendmachung von Bagatell-Forderungen, die effektivere Durchsetzung von Verbraucheransprüchen, eine Entlastung der Justiz und eine Reduzierung der Verfahrenskosten für Unternehmen (BT-Drucks. 19/2439, S. 16 f). Diese Zwecke werden durch die Insolvenz eines Unternehmers nicht gegenstandslos. Vielmehr führt die zu Tage tretende erhebliche Verschlechterung der Befriedigungsaussichten zur Potenzierung des "rationalen Desinteresses" der Verbraucher (vgl. Tintelnot, EWiR 2020, 761, 762). Zwar heißt es, wie die Revision zutreffend zitiert, in der Vorbemerkung zur Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, dass infolge des "rationalen Desinteresses" von Geschädigten an der Verfolgung von Bagatell-Forderungen der in der Summe mitunter erhebliche Gewinn - soweit nicht eine Rückerstattung etwa im Rahmen der außergerichtlichen Streitschlichtung erfolgt - bei dem Anbieter verbleibt, der hierdurch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber rechtstreuen Anbietern erzielt (BT-Drucks. 19/2507, S. 13). Aufgrund dieses für das Gesamtkonzept angeführten weiteren abstrakten Zwecks wird die Verminderung oder Abschöpfung von Wettbewerbsvorteilen jedoch nicht zur Voraussetzung für eine Sachentscheidung über eine Musterfeststellungsklage.

 

23        d) Die Rüge der Revision, die Musterfeststellungsanträge, jedenfalls aber der Antrag zu 1, seien nicht hinreichend bestimmt, ist nicht berechtigt.

 

24        aa) Für die Bestimmtheit des Musterfeststellungsantrags gelten gemäß § 606 Abs. 2 Satz 3, § 610 Abs. 5 Satz 1 ZPO die Vorschriften des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO entsprechend. Demnach muss die Klageschrift unter anderem die Feststellungsziele benennen (Waßmuth/Dörfler in Asmus/Waßmuth, Kollektive Rechtsdurchsetzung, § 606 ZPO Rn. 137). Ein Feststellungsziel ist hinreichend bestimmt gefasst, wenn der Streitgegenstand und der Umfang der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des Gerichts (§ 308 Abs. 1 ZPO) erkennbar abgegrenzt sind, so dass sich der Beklagte erschöpfend verteidigen kann und die Entscheidung darüber, was mit Bindungswirkung nach § 613 Abs. 1 ZPO feststeht, letztlich nicht den Prozessgerichten in den (ausgesetzten oder nachfolgenden) Individualverfahren zwischen den angemeldeten Verbrauchern und dem Beklagten überlassen bleibt (vgl. BGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - XI ZR 234/20, BGHZ 231, 215 Rn. 25). Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Oberlandesgericht die Bestimmtheit beider Anträge mit Recht bejaht. Der Antrag zu 1 betrifft erkennbar alle Strom- und Gaslieferungskunden der Schuldnerin, deren Verträge ohne eigenes Zutun der Verbraucher die Mindestlaufzeit nicht erreicht haben. Mit dem Antrag zu 2 soll geklärt werden, dass Neukundenboni in der Abrechnung des Beklagten zu berücksichtigen sind und die Verbraucher nicht auf die Forderungsanmeldung zur Tabelle verwiesen werden dürfen.

 

25        bb) Soweit die Revision in Bezug auf den Antrag zu 2 geltend macht, Zweifelsfragen, die aus der Anwendung des Insolvenzrechts resultierten, könnten nicht Gegenstand eines Musterfeststellungsverfahrens sein, betrifft dies nicht die Bestimmtheit des Antrags, sondern die Zulässigkeit des Feststellungsziels. Diese ist nach den zutreffenden Erwägungen des Oberlandesgerichts zu bejahen. Selbst bloße Rechtsfragen können tauglicher Gegenstand eines Musterfeststellungsverfahrens sein (BT-Drucks. 19/2439, S. 22; BGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - XI ZR 234/20, BGHZ 231, 215 Rn. 36; MünchKomm-ZPO/Menges, 6. Aufl., § 606 Rn. 30). Damit geht der Begriff des Feststellungsziels auch über die Vorgaben des § 256 ZPO hinaus, da hier gerade einzelne (Teil-)Fragen einer Klärung zugeführt werden können (Saenger/Rathmann, ZPO, 9. Aufl., § 606 Rn. 9).

 

26        2. Mit Recht hat das Oberlandesgericht beide Musterfeststellungsanträge für begründet erachtet.

 

27        a) Die Regelungen der Energielieferverträge zum Neukundenbonus stellen gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 GasGVV, § 2 Abs. 4 Satz 2 StromGVV zulässige ergänzende Formularvertragsbestimmungen dar, für deren Kontrolle die §§ 307 ff BGB uneingeschränkt herangezogen werden können (vgl. Staudinger/Bieder, BGB, 2022, Anh. zu §§ 305-310 Rn. A 155). Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wie revisible Rechtsnormen zu behandeln und vom Revisionsgericht frei auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 19. Januar 2023 - VII ZR 34/20, NJW 2023, 1356 Rn. 28 mwN). Die Auslegung der Vertragsklauseln ist deswegen unbeschränkt durch das Revisionsgericht zu überprüfen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Oktober 2020 - IX ZR 247/19, NZI 2021, 30 Rn. 18).

 

28        aa) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der beteiligten Kreise verstanden werden. Dabei sind die Vorstellungen und Verständnismöglichkeiten eines durchschnittlichen, rechtlich nicht vorgebildeten Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen (BGH, Urteil vom 22. März 2018 - IX ZR 99/17, BGHZ 218, 183 Rn. 35 mwN). Ansatzpunkt für die bei einer Formularklausel gebotene objektive, nicht am Willen der konkreten Vertragspartner zu orientierende Auslegung ist in erster Linie ihr Wortlaut. Der mit dem Klauselwerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Kunden erkennbar sind (vgl. BGH, Urteil vom 31. März 2021 - IV ZR 221/19, NJW 2021, 2193 Rn. 26). Eine Klausel ist dabei vor dem Hintergrund des gesamten Formularvertrags zu interpretieren; sie darf nicht aus einem ihre Beurteilung mit beeinflussenden Zusammenhang gerissen werden (BGH, Urteil vom 11. November 2021 - IX ZR 237/20, NZI 2022, 701 Rn. 20). Äußere Umstände, die zum Vertragsschluss geführt und für einen verständigen und redlichen Vertragspartner Anhaltspunkte für eine bestimmte Auslegung des Vertrags gegeben haben, dürfen berücksichtigt werden. Da Allgemeine Geschäftsbedingungen einheitlich auszulegen sind, kommen insoweit jedoch nur allgemeine Umstände in Betracht, die auf einen verallgemeinerbaren Willen des Verwenders schließen lassen (BGH, Urteil vom 11. November 2021, aaO).

 

29        bb) Sofern nach Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten Zweifel verbleiben und zumindest zwei Auslegungsergebnisse rechtlich vertretbar sind, kommt die sich zulasten des Klauselverwenders auswirkende Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zur Anwendung. Hierbei bleiben allerdings Verständnismöglichkeiten unberücksichtigt, die zwar theoretisch denkbar, praktisch aber fernliegend sind und für die an solchen Geschäften typischerweise Beteiligten nicht ernsthaft in Betracht kommen (BGH, Beschluss vom 2. Juli 2019 - VIII ZR 74/18, NJW-RR 2019, 1202 Rn. 20). Diese Auslegungsregel führt im Ergebnis dazu, dass bei einer mehrdeutigen Klausel von den möglichen Auslegungen diejenige zugrunde zu legen ist, die zur Unwirksamkeit der Klausel führt. Denn damit ist die scheinbar "kundenfeindlichste" Auslegung im Ergebnis die dem Kunden günstigste (BGH, Urteil vom 8. Oktober 2020 - III ZR 80/20, NJW 2021, 1392 Rn. 33). Führt die kundenfeindlichste Auslegung zur Unwirksamkeit der Klausel und begünstigt dadurch den Kunden, ist diese Auslegung zugrunde zu legen. Erst wenn sich die Klausel nach jeder in Betracht kommenden Auslegung als wirksam erweist, ist bei der Anwendung der Klausel die dem Kunden günstigste Auslegung maßgeblich (BGH, Urteil vom 11. November 2021 - IX ZR 237/20, NZI 2022, 701 Rn. 21).

 

30        cc) Aus der Sicht eines verständigen und redlichen Verbrauchers ergibt sich aus dem Wortlaut der Klauselwerke der Schuldnerin kein greifbarer Anhaltspunkt dafür, dass der Neukundenbonus an eine Mindestlaufzeit des Vertrags geknüpft wäre. Nach Nr. 7.4 Satz 1 der AGB-Strom der Schuldnerin - insoweit inhaltsgleich mit Nr. 7.4 Satz 1 der AGB-Gas der Schuldnerin - bietet die Schuldnerin, sofern im jeweiligen Tarif vereinbart, als Abschlussprämie für den Abschluss des Vertrags einen einmaligen Prämienbetrag (Bonus). Die Modalitäten der Gewährung eines zugesagten Bonus sind nach Satz 2 der Bestimmung dem jeweiligen Angebot beziehungsweise der Belieferungsbestätigung zu entnehmen. Die Belieferungsbestätigungen, die ebenfalls den Auslegungsgrundsätzen für Allgemeine Geschäftsbedingungen unterliegen, enthalten unter der Rubrik "Tarif" den Grundpreis, den Arbeitspreis und den Neukundenbonus mit 25 % des Jahresumsatzes für Strom und 15 % des Jahresumsatzes für Gas. Eine Mindestlaufzeit wird somit weder in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen noch in den Belieferungsbestätigungen erwähnt. Die Umschreibung des Bonus als einmaliger Prämienbetrag legt vielmehr nahe, dass nicht eine bestimmte Dauer der Vertragsbindung oder Vertragstreue, sondern der Neuabschluss des Vertrags bei der Schuldnerin honoriert werden soll. Aus der Benennung des Jahresumsatzes als Bezugsgröße für die Berechnung der Boni kann ein durchschnittlicher, rechtlich nicht vorgebildeter Vertragspartner des Verwenders nicht den Schluss auf eine Mindestlaufzeit oder Mindestbelieferung von einem Jahr ziehen.

 

31        dd) Im Übrigen kann den Klauseln unter Beachtung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB der vom Beklagten angenommene Inhalt auch dann nicht entnommen werden, wenn von einer Mindestlaufzeit von einem Jahr auszugehen wäre. Ein verständiger und redlicher Verbraucher müsste dann davon ausgehen, dass nur eine von ihm ausgesprochene oder veranlasste Kündigung vor Ablauf dieser Zeit der Abschlussprämie entgegensteht, nicht aber eine tatsächliche Einstellung der Geschäftstätigkeit der Schuldnerin und eine Schlussabrechnung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter. Andernfalls hätte es der Verwender in der Hand, durch tatsächliches Verhalten oder Erklärung der Kündigung vor Ablauf eines Jahres der Abschlussprämie für den vertragstreuen Kunden die Grundlage zu entziehen. Eine solche Verständnismöglichkeit war fernliegend und kam für die an solchen Geschäften typischerweise Beteiligten nicht ernsthaft in Betracht. Sie kann entgegen der Auffassung der Revision auch nicht mit dem allgemeinen Insolvenzrisiko der in Vorleistung gehenden Partei begründet werden. Dieses Risiko kann sich etwa darin manifestieren, dass ein sich aus (zu) hohen Abschlagszahlungen ergebendes Guthaben des Kunden in der Insolvenz des Versorgers nur als Insolvenzforderung geltend gemacht werden kann. Hingegen berechtigt der Gesichtspunkt des allgemeinen Insolvenzrisikos grundsätzlich nicht zur Außerachtlassung vereinbarter Abzugsposten.

 

32        b) Schließlich ist auch der Musterfeststellungsklageantrag zu 2 begründet, weil der Neukundenbonus nicht den für die Aufrechnung durch Insolvenzgläubiger geltenden Regelungen der §§ 94 ff InsO unterfällt.

 

33        aa) Nach dem auch für das Insolvenzverfahren maßgeblichen § 387 BGB setzt die Aufrechnung zwei selbständige Forderungen voraus, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und gleichartig sind. Fehlt es hieran, können die Wirkungen der Aufrechnung schon begrifflich nicht eintreten. Diese bestehen nach § 389 BGB darin, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet gegenüberstehen. Dies trifft auf unselbständige Rechnungsposten, die gebunden und gelähmt sind, nicht zu (BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - IX ZR 194/05, BGHZ 170, 206 Rn. 9). Die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO findet zwar auch auf Verrechnungen Anwendung (BGH, Urteil vom 17. Juli 2008 - IX ZR 148/07, NZI 2008, 547 Rn. 9). Für die Saldierung beziehungsweise Verrechnung unselbständiger Rechnungsposten gilt sie jedoch nicht (Graf-Schlicker/Hofmann, InsO, 6. Aufl., § 96 Rn. 23). Insbesondere die Anrechnung von Abzugsposten mit unmittelbar anspruchsmindernder Wirkung stellt bei der Feststellung der Höhe einer Forderung keine Verrechnung dar (vgl. MünchKomm-InsO/Lohmann/Reichelt, 4. Aufl., § 94 Rn. 3).

 

34        bb) Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Oberlandesgericht den von der Schuldnerin eingeräumten Neukundenbonus zutreffend nicht als eigenständige Forderung, sondern nur als Berechnungsfaktor bei der Ermittlung des Jahresverbrauchspreises angesehen, gegenüber dem kein insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot eingreift.

 

35        (1) In Nr. 7.4 der AGB-Strom und der AGB-Gas der Schuldnerin ist zwar vorgesehen, dass die Schuldnerin als Abschlussprämie für den Abschluss eines Vertrages einen einmaligen Prämienbetrag (Bonus) bietet. Aus den maßgeblichen Belieferungsbestätigungen ergibt sich allerdings, dass die Schuldnerin keine festen Beträge verspricht. Stattdessen wird ein Preisnachlass (Rabatt) gewährt, der in einem Prozentsatz des Jahresumsatzes besteht. Damit verspricht die Schuldnerin aus Sicht eines redlichen und verständigen Verbrauchers einen Nachlass auf den im ersten Jahr zu zahlenden Preis. Die Abschlussprämie stellt sich neben dem Grundpreis und dem Arbeitspreis als dritter Berechnungsfaktor bei dem auf die verbrauchsbezogene Entgeltberechnung anzuwendenden Tarif dar. Der von der Schuldnerin zugesagte Neukundenbonus bewirkt, dass die Vergütung für die im ersten Jahr gelieferte Energie nicht nach dem grundsätzlich vereinbarten Tarif berechnet, sondern demgegenüber um den vereinbarten Prozentsatz herabgesetzt wird. Damit fehlt es an einer eigenständigen Gegenforderung des Kunden, die erst in der Krise hätte begründet werden können, und auf die eine (entsprechende) Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO gerechtfertigt wäre.

 

36        (2) Auch die jeweiligen Regelungen in Nr. 7.5 der AGB-Strom und der AGB-Gas der Schuldnerin, wonach der Bonus weder bei den Abschlusszahlungen noch bei unterjährigen Abrechnungen zu berücksichtigen ist, begründen keine rechtliche Selbständigkeit des Bonus. Damit ist nur bestimmt, dass der Bonus auf die vorläufige Bemessung der Abschlagszahlungen und unterjährigen Abrechnungsbeträge ohne Einfluss ist und die Abschlussprämie erst in die Endabrechnung einfließt. Abschlagszahlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nur vorläufig bis zu einer im Wege der Abrechnung festzustellenden endgültigen Vergütung zu leisten sind, und sie bilden insoweit lediglich unselbständige Rechnungsposten der abzurechnenden Gesamtleistung, ohne dass sie auf einzelne Teilleistungen bezogen werden können (BGH, Urteil vom 23. Mai 2012 - VIII ZR 210/11, NJW 2012, 2647 Rn. 10). Sie stellen deshalb keine von der Verbrauchsforderung losgelösten Vergütungen für einen Verbrauchsanteil oder -abschnitt mit einem von der Verbrauchsforderung unabhängigen rechtlichen Schicksal, sondern Leistungen auf die erst mit der Abrechnung fällig werdende künftige Zahlungspflicht für den gemessenen und abgelesenen Verbrauch dar (BGH, Urteil vom 23. Mai 2012, aaO Rn. 11).

 

37        (3) Die Rüge der Revision, das Oberlandesgericht habe Beweisvorbringen zur tatsächlichen Durchführung der Abrechnung und der Bonuszahlung gehörswidrig übergangen, hat keinen Erfolg. Diesen Gesichtspunkt - und damit auch den entsprechenden Vortrag des Beklagten - hat das Oberlandesgericht zutreffend als rechtlich nicht erheblich angesehen, weil er für den vorrangig anhand des Wortlauts der Klauseln zu ermittelnden Inhalt der Vereinbarungen die Abrechnungspraxis der Schuldnerin ohne Bedeutung ist. Welche Rechtsfolgen sich für die Berechnung des Jahresverbrauchspreises aus den vereinbarten Klauseln ergeben, richtet sich nicht danach, wie der Verwender die Bestimmungen tatsächlich handhabt. Entscheidend ist vielmehr, welchen rechtlichen Inhalt die Klauseln bei zutreffender Auslegung besitzen und wie die geschuldete Vergütung bei rechtlich zutreffendem Verständnis der Klauseln zu berechnen ist.

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