OLG München: Mitbestimmungsrechtliche Zurechnung von Arbeitnehmern im mehrstufigen Konzern
OLG München, Beschluss vom 19.11.2008 - 31 Wx 99/07
Leitsatz:
Im mehrstufigen Konzern setzt die mitbestimmungsrechtliche Zurechnung der Arbeitnehmer von Tochterunternehmen zu einer Zwischengesellschaft voraus, dass diese über eigenverantwortliche Leitungsmacht verfügt („Konzern im Konzern"). Dies bedarf eingehender Feststellungen im Einzelfall.
MitbestG § 5, AktG §§ 17, 18; §§ 98, 99
Sachverhalt
I. 1. Die im Lebensmittelgroßhandel tätige E. GmbH (Antragsgegnerin) beschäftigt - nach dem hier zugrunde zu legenden Sachstand der Entscheidung des Landgerichts als letzter Tatsacheninstanz - 1.900 Arbeitnehmer und ist an sechs überwiegend im Lebensmitteleinzelhandel tätigen Unternehmen zu je 100 % und an zwei weiteren zu 94 % bzw. 83,3 % beteiligt. Bei ihr besteht bereits ein Aufsichtsrat nach dem Drittelbeteiligungsgesetz. Das Stammkapital der Antragsgegnerin wird zu je 50 % von der „E. Zentralhandelsgesellschaft mbH" und einer Genossenschaft („E. eG") gehalten. Letztere bezeichnet sich selbst als „Unternehmensgruppe E." und ist nicht nur an der Antragsgegnerin, sondern auch an mehreren weiteren, ebenfalls im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels tätigen Unternehmen direkt beteiligt. Ausweislich des bei den Akten befindlichen Geschäftsberichts der E. eG für das Jahr 2004 erstellt diese als Mutterunternehmen Konzernabschlüsse für die E-Unternehmensgruppe mit befreiender Wirkung für die unter ihrer einheitlichen Leitung stehenden Gesellschaften, weist darin ihre vorgenannten Beteiligungen als eigene „unmittelbare Beteiligungen", die Beteilungen der Antragsgegnerin an den acht Gesellschaften als - eigene - „mittelbare Beteiligungen" und die Antragsgegnerin als in die E-Unternehmensgruppe einbezogenes Unternehmen aus. Bei der E-Unternehmensgruppe sind mindestens 16.500 Mitarbeiter beschäftigt, wobei die Verteilung der Mitarbeiter auf die einzelnen Unternehmen der Gruppe ebenso wenig zahlenmäßig feststeht, wie die Zahl der bei den Tochterunternehmen der Antragsgegnerin beschäftigten Arbeitnehmer.
2. Die Antrag stellende Gewerkschaft ist der Ansicht, dass aufgrund dieser Verflechtung eine Konzernierung vorläge, weswegen entweder bei der Antragsgegnerin
oder bei der E. eG ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden sei, da der Schwellenwert von 2000 Beschäftigten jedenfalls überschritten werde. Ihren ursprünglich nur gegen die Antragsgegnerin gerichteten Feststellungsantrag hat sie mit Schriftsatz vom 11.1.2007 auf die E. eG „erweitert" und dies damit begründet, dass entweder die E-GmbH oder die E. eG die Konzernobergesellschaft sei. Das Landgericht hat den Schriftsatz vom 11.1.2007 der E. eG bislang weder zugestellt, noch sonst zur Kenntnis gebracht. Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für einen mitbestimmten Aufsichtsrat bei ihr nicht festgestellt seien. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 22.11.2007 festgestellt, dass bei der Antragsgegnerin ein Aufsichtsrat nach den Bestimmungen des Mitbestimmungsgesetzes zu bilden sei. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Geschäftsführung der Antragsgegnerin.
Aus den Gründen
II. Die sofortige Beschwerde führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht.
1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 1, 5, 6 Abs. 2 MitbestG, § 98, § 99 Abs. 3 und Abs. 4 AktG i.V.m. § 27 EGAktG), sie wurde insbesondere auch fristgerecht eingelegt (§ 99 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 AktG i.V.m. § 22 Abs. 1 FGG). Die Zuständigkeit des Senats ergibt sich aus § 13 Abs. 2 GZVJu, die Beschwerdeberechtigung der Geschäftsführung der Antragsgegnerin folgt aus § 99 Abs. 4 Satz 3 i.V.m § 98 Abs. 2 Nr. 1 AktG i.V.m. § 1 Abs. 1 und § 6 Abs. 2 MitbestG. Die in § 27 EGAktG und § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG angeordnete sinngemäße Anwendung von § 96 Abs. 2, §§ 97 bis 99 AktG auf Gesellschaften mit beschränkter Haftung umfasst auch die gerichtliche Klärung der Frage, ob bei einer Gesellschaft überhaupt ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden ist (vgl. BAG DB 2008, 1850) bzw. ob - wie hier - von der Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer nach dem Drittelbeteiligungsgesetz zur paritätischen Beteiligung nach dem Mitbestimmungsgesetz (vgl. MünchHdbAG/Hoffmann-Becking § 28 Rn. 50 und 60) überzugehen ist. Verfahrensgegenstand eines solchen Statusverfahrens ist die Klärung des mitbestimmungsrechtlichen Status einer bestimmten Gesellschaft, hier der Antragsgegnerin, der E. GmbH (§ 98 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AktG; vgl. Hüffer AktG 8. Aufl. § 96 Rn. 1). Der Status der E. eG ist in der Beschwerdeinstanz schon deswegen nicht Verfahrensgegenstand, weil diesbezüglich der Statusantrag - mangels Zustellung durch das Landgericht - noch nicht einmal rechtshängig ist.
2. Das Landgericht hat im Wesentlichen ausgeführt:
Die Antragsgegnerin beschäftige zwar selbst weniger als 2.000 Arbeitnehmer, ihr seien jedoch über § 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG die Arbeitnehmer der von ihr beherrschten Tochterunternehmen zuzurechnen. Ihre Stellung als Konzernobergesellschaft folge aus der Tatsache, dass die Antragsgegnerin mehrheitlich bzw. zu 100 % an acht Gesellschaften beteiligt sei, weswegen deren Abhängigkeit von der Antragsgegnerin gem. § 17 Abs. 2 AktG gesetzlich vermutet werde. Wegen dieser Abhängigkeit der Tochterunternehmen gelte vorliegend die Konzernvermutung des § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG. Die Antragsgegnerin habe es unterlassen, diese beiden gesetzlichen Vermutungen zu widerlegen. Es läge auf der Hand, dass unter Einbeziehung der Tochterunternehmen bei der Antragsgegnerin der Schwellenwert von 2.000 Arbeitnehmern deutlich überschritten werde.
3. Die Entscheidung des Landgerichts hält der hier allein zulässigen rechtlichen Nachprüfung (§ 98, § 99 Abs. 3 Satz 3 AktG) nicht stand.
a) Die Aktivlegitimation der Antragstellerin für das vorliegende Statusverfahren ergibt sich aus § 98 Abs. 2 AktG i.V.m. § 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2 Nr. 1 und § 16 Abs. 2 MitbestG (vgl. BayObLG AG 2005, 350; MünchKommAktG/Gach 3. Aufl. § 7 MitbestG Rn. 30).
b) Das MitbestG gilt für Kapitalgesellschaften - und damit auch für die Antragsgegnerin - unter der Voraussetzung, dass im Unternehmen in der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigt werden (§ 1 Abs. 1 MitbestG; Baumbach/Hueck/Fastrich GmbHG 18. Aufl. Einl. Rn. 33). Die Überschreitung des Schwellenwerts kann sich auch daraus ergeben, dass dem Unternehmen Arbeitnehmer anderer Unternehmen nach der Konzernvorschrift des § 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG zuzurechnen sind (vgl. MünchKommAktG/Gach § 5 MitbestG Rn. 22; zum aktienrechtlichen und mitbestimmungsrechtlichen Konzernbegriff aaO. Rn. 11, 17 und 24; Hüffer § 18 Rn. 9; OLG Frankfurt ZIP 2008, 880/881 m.w.N.).
aa) Voraussetzung für eine Zurechnung fremder Arbeitnehmer nach der Konzernvorschrift des § 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG ist, dass die Gesellschaft, bei der die Zurechnung erfolgen soll, herrschendes Unternehmen in einem Konzern ist. Für die Beurteilung, ob ein Konzern vorliegt und wer die Konzernobergesellschaft ist, gelten wegen der Verweisung in § 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG auf § 18 Abs. 1 AktG grundsätzlich nicht nur dessen Konzernvermutung (§ 18 Abs. 1 Satz 3 AktG), sondern auch die Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG (vgl. nur MünchKommAktG/Gach § 5 MitbestG Rn. 20).
bb) Ist die Gesellschaft jedoch selbst Teil einer Unternehmensgruppe und ihrerseits von einer anderen Gesellschaft abhängig (sog. Zwischengesellschaft im mehrstufigen Konzern), so können ihr die Arbeitnehmer der in ihrem Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen allenfalls dann zugerechnet werden, wenn ihr von der Konzernobergesellschaft im Hinblick auf ihre Tochterunternehmen ein eigener Entscheidungsspielraum eingeräumt und ihr insoweit Leitungsmacht hinsichtlich der nachgeordneten Unternehmen übertragen wurde (mitbestimmungsrechtliche Rechtsfigur des „Konzern im Konzern"; vgl. zum Meinungsstand Ulmer/Habersack/Henssler MitbestG 2. Aufl. § 5 Rn. 35 m.w.N.; MünchHdbAG/Hoffmann-Becking § 28 Rn. 20 m.w.N.; zurückhaltend für das Aktienkonzernrecht Hüffer § 18 Rn. 14; Spindler/Stilz/Schall AktG § 18 Rn. 18; MünchHdbAG/Krieger § 68 Rn. 76). Die Vermutung des § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG greift insoweit nicht (vgl. Ulmer/Habersack § 5 MitbestG Rn. 43), denn der mitbestimmte Aufsichtsrat ist regelmäßig bei der Konzerngesellschaft zu bilden, bei der die für die Konzernunternehmen maßgebliche Kontrolle tatsächlich ausgeübt wird (vgl. MünchKommAkt/Gach § 5 MitbestG Rn. 25; Seibt ZIP 2008, 1301/1302); dies ist regelmäßig die oberste Konzernspitze (Spindler/Stilz/Schall AktG 2007, § 18 Rn. 18; Hüffer § 18 Rn. 13 und 14 m.w.N.; MünchHdbAG/Hoffmann-Becking § 28 Rn. 19). Die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 MitbestG (vgl. hierzu OLG Frankfurt 2008, 878; Hüffer § 18 Rn. 19) liegt hier ersichtlich nicht vor. Soweit Köstler/Kittner/Zachert/Müller Aufsichtsratspraxis 7. Aufl. Rn. 242 die Vermutung des § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG auch auf eine Konzernzwischengesellschaft anwenden wollen, folgt der Senat dem nicht. Im mehrgliedrigen Unterordnungskonzern kann sich die Konzernvermutung allein auf die unabhängig herrschende Obergesellschaft beziehen, wo tatsächlich die maßgeblichen, die Arbeitnehmer tangierenden Entscheidungen getroffen werden.
c) Unter Zugrundelegung dieser Kriterien kann die Entscheidung des Landgerichts, dass bei der Antragsgegnerin ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden ist, keinen Bestand haben. Nachdem die Antragsgegnerin selbst nur 1.900 Arbeitnehmer beschäftigt, kann dort ein mitbestimmter Aufsichtsrat nur dann zu bilden sein, falls ihr die Arbeitnehmer ihrer Tochtergesellschaften über § 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG zuzurechnen sind. Hiervon ist das Landgericht zutreffend ausgegangen. Es hat jedoch übersehen, dass die von ihm ohne weiteres vorgenommene Zurechnung der Arbeitnehmer der Tochtergesellschaften über § 17 Abs. 2, § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG grundsätzlich nur dann greift, wenn die Antragsgegnerin eine Konzernobergesellschaft und nicht etwa nur selbst konzernierte Zwischengesellschaft eines mehrstufigen Konzerns ist, und dass die Zuordnung im letzteren Fall tatsächliche Feststellungen zum Umfang der Leitungsmacht der Zwischengesellschaft voraussetzt.
Schon nach dem Vortrag der Antragstellerin ist zweifelhaft, ob der Antragsgegnerin die Stellung einer Konzernobergesellschaft zukommt. Die vorgelegten Unterlagen legen vielmehr das Gegenteil nahe: Dort bezeichnet sich die E. eG selbst als Konzernmutter und die Antragsgegnerin als unter ihrer einheitlichen Leitung stehendes, einbezogenes Unternehmen. Die E. eG - und nicht die Antragsgegnerin - erstellt auch die Konzernabschlüsse für die E-Unternehmensgruppe, sie weist darin auch die Tochterunternehmen der Antragsgegnerin als ihre eigenen - mittelbaren - Beteiligungen aus. Bei dieser Sachlage drängt sich geradezu auf, dass die Antragsgegnerin selbst nur konzernierte Zwischengesellschaft ist. Das Landgericht hätte dies aufklären müssen; im Fall einer Zwischengesellschaft könnte die vom Landgericht getroffene Entscheidung im Ergebnis nur dann Bestand haben, wenn - was bisher nicht festgestellt ist - die Antragsgegnerin auch als Zwischengesellschaft über ein solches Maß an eigenverantwortlicher Leitungsmacht in Bezug auf ihre Tochterunternehmen verfügt, dass sie trotz eigener Konzernierung selbst mitbestimmungspflichtig ist. An das Vorliegen eigenverantwortlicher Leitungsmacht bei einer solchen Konzernzwischengesellschaft bzw. Zwischenholding sind strenge Anforderungen zu stellen, ihr Vorliegen kann nur im Wege einer Einzelfallprüfung nach Feststellung der hierfür erforderlichen Tatsachen bejaht werden (Ulmer/Habersack MitbestR 2. Aufl. § 5 MitbestG Rn. 35 und 38 f.; MünchKommAktG/Gach § 5 MitbestG Rn. 24 f.; Erfurter Kommentar zum MitbestimmungsR/Oetker 7. Aufl. § 5 MitbestG Rn. 8 und 27 m.w.N.). In Zweifelsfällen ist grundsätzlich von der einheitlichen Leitungsmacht der an der Spitze der Gesamtgruppe stehenden Konzernobergesellschaft trotz des Vorhandenseins von Zwischengesellschaften auszugehen (vgl. auch Seibt a.a.O. S.1303 f.).
Da insoweit noch keine Tatsachenfeststellungen getroffen wurden, kann der Senat nicht selbst entscheiden; die Entscheidung des Landgerichts ist aufzuheben und die Sache zu erneuter Behandlung an das Landgericht zurückzuverweisen. Dieses wird, falls der die Antragsgegnerin betreffende Statusantrag aufrechterhalten bleibt, auch den neuen Sachvortrag der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 11.11.2008 einzubeziehen haben, der in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht berücksichtigt werden kann.
4. Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 99 Abs. 6 Satz 9 AktG). Der Senat hält mit dem Landgericht den Regelgeschäftswert von 50.000 € (§ 99 Abs. 6 Satz 6 AktG) auch für das Beschwerdeverfahren für angemessen.