EuGH: Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Zur Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen i. S. d. Art. 21 Abs. 1 VO (EG) Nr. 139/2004
EuGH, Urteil vom 16.3.2023 – C-449/21, Towercast SASU gegen Autorité de la concurrence, Ministre chargé de l’économie
ECLI:EU:C:2023:207
Volltext: BB-Online BBL2023-705-2
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Tenor
Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmenszusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne von Art. 1 dieser Verordnung ist, unterhalb der vom nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex-ante-Kontrolle liegt und nicht gemäß Art. 22 der genannten Verordnung zu einer Verweisung an die Europäische Kommission geführt hat, in Anbetracht der Struktur des Wettbewerbs auf einem nationalen Markt von einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats als ein von Art. 102 AEUV verbotener Missbrauch einer beherrschenden Stellung beurteilt wird.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Towercast SASU auf der einen Seite und der Autorité de la concurrence (Wettbewerbsbehörde, Frankreich) und dem Ministre de l’économie (Minister für Wirtschaft, Frankreich) auf der anderen Seite wegen einer Entscheidung, mit der die Beschwerde von Towercast wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung zurückgewiesen wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EWG) Nr. 4064/89
3 Die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 1989, L 395, S. 1) trat am 21. September 1990 in Kraft. Ihre Erwägungsgründe 6 bis 8 sahen vor:
„6. Die Artikel 85 und 86 des [EWG‑] Vertrages sind zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf bestimmte Zusammenschlüsse anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten.
7. Daher ist ein neues Rechtsinstrument in Form einer Verordnung zu schaffen, die eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse entsprechend ihren Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft] ermöglicht und die zugleich das einzige auf derartige Zusammenschlüsse anwendbare Instrument ist.
8. Diese Verordnung ist daher nicht nur auf Artikel 87 [des EWG-Vertrags], sondern vor allem auf Artikel 235 des [EWG‑] Vertrages zu stützen, wonach sich die Gemeinschaft für die Verwirklichung ihrer Ziele zusätzliche Befugnisse geben kann, und zwar auch hinsichtlich der Zusammenschlüsse auf den Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne des Anhangs II des [EWG‑]Vertrages.“
4 Art. 22 der Verordnung bestimmte:
„(1) Für Zusammenschlüsse im Sinne des Artikels 3 gilt allein diese Verordnung.
(2) Die Verordnungen Nr. 17 [des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des [EWG‑]Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204)], (EWG) Nr. 1017/68 [des Rates vom 19. Juli 1968 über die Anwendung von Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Eisenbahn‑, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs (ABl. 1968, L 175, S. 1)], (EWG) Nr. 4056/86 [des Rates vom 22. Dezember 1986 über die Einzelheiten der Anwendung der Artikel 85 und 86 des [EWG‑]Vertrages auf den Seeverkehr (ABl. 1986, L 378, S. 4)] und (EWG) Nr. 3975/87 [des Rates vom 14. Dezember 1987 über die Einzelheiten der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf Luftfahrtunternehmen (ABl. 1987, L 374, S. 1)] finden auf Zusammenschlüsse im Sinne des Artikels 3 keine Anwendung.
(3) Stellt die [Europäische] Kommission auf Antrag eines Mitgliedstaats fest, dass ein Zusammenschluss im Sinne von Artikel 3, der jedoch keine gemeinschaftsweite Bedeutung im Sinne des Artikels 1 hat, eine beherrschende Stellung begründet oder verstärkt, durch welche wirksamer Wettbewerb im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats erheblich behindert wird, so kann die Kommission – sofern dieser Zusammenschluss den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt – die in Artikel 8 Absatz 2 Unterabsatz 2 sowie in Artikel 8 Absätze 3 und 4 vorgesehenen Entscheidungen erlassen.
…
(5) Die Kommission trifft in Anwendung von Absatz 3 nur die Maßnahmen, die unbedingt erforderlich sind, um wirksamen Wettbewerb im Gebiet des Mitgliedstaats zu wahren oder wiederherzustellen, auf dessen Antrag hin sie tätig geworden ist.
…“
Verordnung Nr. 139/2004
5 Unbeschadet der in Art. 26 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 festgelegten Übergangsbestimmungen wurde die Verordnung Nr. 4064/89 mit Wirkung vom 1. Mai 2004 durch die Verordnung Nr. 139/2004 aufgehoben und ersetzt.
6 In den Erwägungsgründen 2, 5 bis 9, 20 und 24 der Verordnung Nr. 139/2004 heißt es:
„(2) Zur Verwirklichung der allgemeinen Ziele des [EG‑]Vertrags ist der [Europäischen] Gemeinschaft in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe g) die Aufgabe übertragen worden, ein System zu errichten, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt. …
…
(5) [Es] ist zu gewährleisten, dass der Umstrukturierungsprozess nicht eine dauerhafte Schädigung des Wettbewerbs verursacht. Das Gemeinschaftsrecht muss deshalb Vorschriften für solche Zusammenschlüsse enthalten, die geeignet sind, wirksamen Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich zu beeinträchtigen.
(6) Daher ist ein besonderes Rechtsinstrument erforderlich, das eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Gemeinschaft ermöglicht und das zugleich das einzige auf derartige Zusammenschlüsse anwendbare Instrument ist. Mit der Verordnung [Nr. 4064/89] konnte eine Gemeinschaftspolitik in diesem Bereich entwickelt werden. Es ist jedoch nunmehr an der Zeit, vor dem Hintergrund der gewonnenen Erfahrung die genannte Verordnung neu zu fassen, um den Herausforderungen eines stärker integrierten Markts und der künftigen Erweiterung der Europäischen Union besser gerecht [zu] werden. Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Artikel 5 [EG] geht die vorliegende Verordnung nicht über das zur Erreichung ihres Ziels, der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt entsprechend dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, erforderliche Maß hinaus.
(7) Die Artikel 81 und 82 [EG] sind zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf bestimmte Zusammenschlüsse anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom [EG‑]Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten. Diese Verordnung ist daher nicht nur auf Artikel 83 [EG], sondern vor allem auf Artikel 308 [EG] zu stützen, wonach sich die Gemeinschaft für die Verwirklichung ihrer Ziele zusätzliche Befugnisse geben kann; dies gilt auch für Zusammenschlüsse auf den Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne des Anhangs I des [EG‑]Vertrags.
(8) Die Vorschriften dieser Verordnung sollten für bedeutsame Strukturveränderungen gelten, deren Auswirkungen auf den Markt die Grenzen eines Mitgliedstaats überschreiten. Solche Zusammenschlüsse sollten grundsätzlich nach dem Prinzip der einzigen Anlaufstelle und im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip ausschließlich auf Gemeinschaftsebene geprüft werden. …
(9) Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte anhand des geografischen Tätigkeitsbereichs der beteiligten Unternehmen bestimmt und durch Schwellenwerte eingegrenzt werden, damit Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung erfasst werden können. …
…
(20) Der Begriff des Zusammenschlusses ist so zu definieren, dass er Vorgänge erfasst, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle an den beteiligten Unternehmen und damit an der Marktstruktur führen. In den Anwendungsbereich dieser Verordnung sollten daher auch alle Gemeinschaftsunternehmen einbezogen werden, die auf Dauer alle Funktionen einer selbstständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllen. Ferner sollten Erwerbsvorgänge, die eng miteinander verknüpft sind, weil sie durch eine Bedingung miteinander verbunden sind oder in Form einer Reihe von innerhalb eines gebührend kurzen Zeitraums getätigten Rechtsgeschäften mit Wertpapieren stattfinden, als ein einziger Zusammenschluss behandelt werden.
…
(24) Zur Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt im Rahmen der Fortführung einer Politik, die auf dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb beruht, muss diese Verordnung eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse entsprechend ihren Auswirkungen auf den Wettbewerb in der Gemeinschaft ermöglichen. Entsprechend wurde in der Verordnung [Nr. 4064/89] der Grundsatz aufgestellt, dass Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung, die eine beherrschende Stellung begründen oder verstärken, durch welche ein wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben in erheblichem Ausmaß behindert wird, für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar zu erklären sind.“
7 In Art. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 wird ihr Anwendungsbereich wie folgt festgelegt:
„(1) Unbeschadet des Artikels 4 Absatz 5 und des Artikels 22 gilt diese Verordnung für alle Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne dieses Artikels.
(2) Ein Zusammenschluss hat gemeinschaftsweite Bedeutung, wenn folgende Umsätze erzielt werden:
a) ein weltweiter Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammen von mehr als 5 Mrd. EUR und
b) ein gemeinschaftsweiter Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen von jeweils mehr als 250 Mio. EUR;
dies gilt nicht, wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen.
(3) Ein Zusammenschluss, der die in Absatz 2 vorgesehenen Schwellen nicht erreicht, hat gemeinschaftsweite Bedeutung, wenn
a) der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammen mehr als 2,5 Mrd. EUR beträgt,
b) der Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen in mindestens drei Mitgliedstaaten jeweils 100 Mio. EUR übersteigt,
c) in jedem von mindestens drei von Buchstabe b) erfassten Mitgliedstaaten der Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen jeweils mehr als 25 Mio. EUR beträgt und
d) der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen jeweils 100 Mio. EUR übersteigt;
dies gilt nicht, wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen.
…“
8 Art. 3 dieser Verordnung definiert den Begriff „Zusammenschluss“ wie folgt:
„(1) Ein Zusammenschluss wird dadurch bewirkt, dass eine dauerhafte Veränderung der Kontrolle in der Weise stattfindet, dass
a) zwei oder mehr bisher voneinander unabhängige Unternehmen oder Unternehmensteile fusionieren oder dass
b) eine oder mehrere Personen, die bereits mindestens ein Unternehmen kontrollieren, oder ein oder mehrere Unternehmen durch den Erwerb von Anteilsrechten oder Vermögenswerten, durch Vertrag oder in sonstiger Weise die unmittelbare oder mittelbare Kontrolle über die Gesamtheit oder über Teile eines oder mehrerer anderer Unternehmen erwerben.
(2) Die Kontrolle wird durch Rechte, Verträge oder andere Mittel begründet, die einzeln oder zusammen unter Berücksichtigung aller tatsächlichen oder rechtlichen Umstände die Möglichkeit gewähren, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit eines Unternehmens auszuüben, insbesondere durch:
a) Eigentums- oder Nutzungsrechte an der Gesamtheit oder an Teilen des Vermögens des Unternehmens;
b) Rechte oder Verträge, die einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung, die Beratungen oder Beschlüsse der Organe des Unternehmens gewähren.
(3) Die Kontrolle wird für die Personen oder Unternehmen begründet,
a) die aus diesen Rechten oder Verträgen selbst berechtigt sind, oder
b) die, obwohl sie aus diesen Rechten oder Verträgen nicht selbst berechtigt sind, die Befugnis haben, die sich daraus ergebenden Rechte auszuüben.
…“
9 Art. 21 („Anwendung dieser Verordnung und Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt:
„(1) Diese Verordnung gilt allein für Zusammenschlüsse im Sinne des Artikels 3; die Verordnungen (EG) Nr. 1/2003 des Rates [vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des [EG‑]Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1)], [Nr. 1017/68, Nr. 4056/86 und Nr. 3975/87] gelten nicht, außer für Gemeinschaftsunternehmen, die keine gemeinschaftsweite Bedeutung haben und die Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens unabhängig bleibender Unternehmen bezwecken oder bewirken.
(2) Vorbehaltlich der Nachprüfung durch den Gerichtshof ist die Kommission ausschließlich dafür zuständig, die in dieser Verordnung vorgesehenen Entscheidungen zu erlassen.
(3) Die Mitgliedstaaten wenden ihr innerstaatliches Wettbewerbsrecht nicht auf Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung an.
…“
10 Art. 22 („Verweisung an die Kommission“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 bestimmt:
„(1) Auf Antrag eines oder mehrerer Mitgliedstaaten kann die Kommission jeden Zusammenschluss im Sinne von Artikel 3 prüfen, der keine gemeinschaftsweite Bedeutung im Sinne von Artikel 1 hat, aber den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt und den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des beziehungsweise der antragstellenden Mitgliedstaaten erheblich zu beeinträchtigen droht.
Der Antrag muss innerhalb von 15 Arbeitstagen, nachdem der Zusammenschluss bei dem betreffenden Mitgliedstaat angemeldet oder, falls eine Anmeldung nicht erforderlich ist, ihm anderweitig zur Kenntnis gebracht worden ist, gestellt werden.“
Verordnung Nr. 1/2003
11 Art. 3 („Verhältnis zwischen den Artikeln [101] und [102 AEUV] und dem einzelstaatlichen Wettbewerbsrecht“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:
„(1) … Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach Artikel [102 AEUV] verbotene Missbräuche an, so wenden sie auch Artikel [102 AEUV] an.
(2) … Den Mitgliedstaaten wird durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unbeschadet der allgemeinen Grundsätze und sonstigen Vorschriften des [Unionsrechts] nicht, wenn die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten einzelstaatliche Gesetze über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen anwenden …“
12 Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor, dass „[d]ie Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten … für die Anwendung [der Artikel 101 und 102 AEUV] in Einzelfällen zuständig [sind]“ und hierzu Entscheidungen erlassen können, mit denen (1) die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird, (2) einstweilige Maßnahmen angeordnet werden, (3) Verpflichtungszusagen angenommen werden oder (4) Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.
Französisches Recht
13 Art. L. 420-2 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) lautet:
„Verboten sind, unter den Voraussetzungen des Art. L 420-1, der Missbrauch einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein Unternehmen oder eine Gruppe von Unternehmen. Dieser Missbrauch kann insbesondere bestehen in einer Verkaufsverweigerung, Kopplungsgeschäften oder diskriminierenden Verkaufsbedingungen sowie aus dem Abbruch bestehender Geschäftsbeziehungen allein aus dem Grund, dass der Partner sich weigert, sich unangemessenen Geschäftsbedingungen zu unterwerfen.
Verboten ist ferner der Missbrauch der wirtschaftlichen Abhängigkeit eines gewerblichen Kunden oder Lieferanten durch ein Unternehmen oder eine Gruppe von Unternehmen, wenn er geeignet ist, das Funktionieren oder die Struktur des Wettbewerbs zu beeinträchtigen. Dieser Missbrauch kann insbesondere bestehen in einer Verkaufsverweigerung, Kopplungsgeschäften, diskriminierenden Praktiken im Sinne von Art. L 442‑1 bis L 442-3 oder Absprachen über die Produktpalette.“
14 Art. L. 490-9 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) lautet:
„Für die Anwendung der Artikel [101] bis [103 AEUV] verfügen zum einen der Ministre de l’économie [(Minister für Wirtschaft)] und die von ihm gemäß diesem Buch bestellten oder ermächtigten Beamten und zum anderen die Autorité de la concurrence [(Wettbewerbsbehörde)] über die ihnen in den Artikeln dieses Buches und der Verordnung [Nr. 139/2004] sowie durch die Verordnung [Nr. 1/2003] eingeräumten Befugnisse. Die in diesen Texten vorgesehenen Verfahrensregeln sind auf sie anwendbar.“
15 Das französische Recht sieht außerdem ein Verfahren der verpflichtenden Ex-ante-Kontrolle von Zusammenschlüssen unter den im Code de commerce (Handelsgesetzbuch) festgelegten Voraussetzungen vor, wobei dessen Art. L. 430-1 definiert, was ein Zusammenschluss ist, und Art. L. 430-2 die Umsatzschwellen festlegt, ab denen die nationale Fusionskontrolle gilt.
16 Art. L. 430-9 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) sieht außerdem vor, dass „[die] Autorité de la concurrence (Wettbewerbsbehörde) im Fall einer missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung oder eines Zustands wirtschaftlicher Abhängigkeit durch mit Gründen versehene Entscheidung das betreffende Unternehmen oder die betreffende Gruppe von Unternehmen anweisen [kann], innerhalb einer bestimmten Frist jede Vereinbarung und jede Handlung, durch die sich die den Missbrauch ermöglichende Konzentration wirtschaftlicher Macht realisiert hat, zu ändern, zu vervollständigen oder zu kündigen, auch wenn diese Handlungen Gegenstand des im vorliegenden Titel vorgesehenen Verfahrens waren“.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
17 Am 13. Oktober 2016 übernahm die Télédiffusion de France (TDF), die in Frankreich Dienstleistungen der terrestrischen Übertragung von digitalem Fernsehen (digitales terrestrisches Fernsehen oder auch DVB‑T) erbringt, die ausschließliche Kontrolle über Itas, eine ebenfalls im Bereich der Übertragung von DVB-T tätige Gesellschaft, indem sie sämtliche Aktien von Itas erwarb.
18 Der Erwerb von Itas, der unterhalb der in Art. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 und Art. L.430-2 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) festgelegten Schwellen lag, wurde weder angemeldet noch Gegenstand einer Prüfung im Sinne einer Ex-ante-Kontrolle von Zusammenschlüssen. Ebenso wenig kam es zu einer Verweisung an die Kommission gemäß Art. 22 der Verordnung Nr. 139/2004.
19 Am 15. November 2017 wurde die Wettbewerbsbehörde von Towercast, einer Gesellschaft, die in Frankreich DVB-T‑Übertragungsdienste anbietet, mit einer Beschwerde über eine im Bereich der terrestrischen Fernsehübertragung angewandte Praxis befasst. Towercast machte geltend, die Übernahme der Kontrolle über Itas durch TDF am 13. Oktober 2016 stelle einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung dar, da sie den Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Großkundenmärkten für die Übertragung von DVB-T behindere, indem die beherrschende Stellung von TDF auf diesen Märkten erheblich verstärkt werde.
20 Am 25. Juni 2018 wurde an TDF infrastructure und TDF infrastructure Holding sowie an Tivana France Holdings, Tivana Midco und Tivana Topco (im Folgenden zusammen: Tivana) eine Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet, in der ihnen vorgeworfen wurde, „am 13. Oktober 2016 in der Eigenschaft als Gründer eines einzigen Unternehmens im Sinne des Wettbewerbsrechts dessen beherrschende Stellung auf dem nachgelagerten Großkundenmarkt für digitales terrestrisches Fernsehen durch die Übernahme der ausschließlichen Kontrolle über die Itas-Gruppe missbraucht zu haben“. Dieser Vorgang könne die Wirkung haben, den Wettbewerb auf dem nachgelagerten Großkundenmarkt für digitales terrestrisches Fernsehen zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen, und sei durch Art. L.420-2 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) und Art. 102 AEUV verboten.
21 Mit Entscheidung Nr. 20-D-01 vom 16. Januar 2020 entschied die Wettbewerbsbehörde, dass der gegen die Unternehmen der TDF‑Gruppe gerichtete Vorwurf nicht nachgewiesen und das betreffende Verfahren nicht fortzuführen sei. Die genannte Behörde, die eine andere Analyse als ihre Ermittlungsdienststellen vornahm, vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass der Erlass der Verordnung Nr. 4064/89 eine klare Trennlinie zwischen der Fusionskontrolle und der Kontrolle wettbewerbswidriger Verhaltensweisen gezogen habe und dass die ihr nachfolgende Verordnung Nr. 139/2004 ausschließlich für Zusammenschlüsse gelte, wie sie in Art. 3 dieser Verordnung definiert würden, und die Anwendung von Art. 102 AEUV auf einen Zusammenschluss gegenstandslos mache, wenn kein von diesem Zusammenschluss trennbares missbräuchliches Verhalten des in Rede stehenden Unternehmens vorliege.
22 Am 9. März 2020 erhob Towercast gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht Klage.
23 Towercast stützt ihre Klage auf das Urteil vom 21. Februar 1973, Europemballage und Continental Can/Kommission (6/72, EU:C:1973:22), und weist darauf hin, dass der Gerichtshof in diesem Urteil entschieden habe, die Kommission dürfe Art. 86 EWG-Vertrag (später Art. 82 EG, jetzt Art. 102 AEUV) auf Unternehmenszusammenschlüsse anwenden. Die in diesem Urteil aufgestellten Grundsätze seien nach wie vor relevant. Die Einführung einer Ex-ante-Kontrolle von Zusammenschlüssen durch die Verordnungen Nrn. 4064/89 und 139/2004 habe die Anwendung von Art. 102 AEUV auf einen Zusammenschluss, der keine gemeinschaftsweite Bedeutung habe, nicht gegenstandslos gemacht. Die Verordnung Nr. 139/2004 gelte ausschließlich für Zusammenschlüsse, die in ihren Anwendungsbereich fielen, d. h. solche mit gemeinschaftsweiter Bedeutung oder solche, die von den nationalen Wettbewerbsbehörden an die Kommission verwiesen würden. Towercast beruft sich auf die unmittelbare Wirkung von Art. 102 AEUV und verlangt für Zusammenschlüsse unterhalb dieser Schwellen eine Ex-post-Kontrolle der Vereinbarkeit mit Art. 102 AEUV.
24 Die Wettbewerbsbehörde hält an der von ihr in der vor dem vorlegenden Gericht angefochtenen Entscheidung vertretenen Auffassung fest, insbesondere was die Tragweite der auf das Urteil vom 21. Februar 1973, Europemballage und Continental Can/Kommission (6/72, EU:C:1973:22), zurückgehenden Rechtsprechung betrifft, die ihrer Ansicht nach seit der Schaffung eines auf Zusammenschlüsse anwendbaren spezifischen Kontrollsystems gegenstandslos geworden sei. Der so geschaffene Mechanismus schließe naturgemäß die auf wettbewerbswidrige Praktiken anwendbare Ex-post-Prüfung aus. Art. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 definiere Zusammenschlüsse gemäß einem materiellen Kriterium ohne Verweis auf die in Art. 1 dieser Verordnung festgelegten Schwellen, so dass sein Anwendungsbereich nicht auf Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung beschränkt werden könne, die über diesen Schwellen lägen.
25 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Art. 102 AEUV eine Bestimmung mit unmittelbarer Wirkung sei, deren Anwendung nicht vom vorherigen Erlass einer Verfahrensverordnung abhänge. Ferner heiße es im siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 139/2004: „Die Artikel [101 und 102 AEUV] sind zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf bestimmte Zusammenschlüsse anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten.“ Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob der Ausschluss nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 auch für Zusammenschlüsse gilt, die nicht ex ante geprüft worden sind.
26 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom 7. September 2017, Austria Asphalt (C‑248/16, EU:C:2017:643), zwar festgestellt habe, dass die Verordnung Nr. 139/2004 allein für Zusammenschlüsse im Sinne von Art. 3 dieser Verordnung gilt, für die die Verordnung Nr. 1/2003 grundsätzlich nicht gilt, der Gerichtshof aber nicht erläutert habe, welche Ausnahmen von diesem Grundsatz möglich seien, und sich nicht dazu geäußert habe, ob die Auslegung im Urteil vom 21. Februar 1973, Europemballage und Continental Can/Kommission (6/72, EU:C:1973:22), noch anwendbar sei, und zwar insbesondere auf Zusammenschlüsse unterhalb der Schwelle der verpflichtenden Kontrolle, die weder Gegenstand einer Prüfung im Rahmen einer verpflichtenden Ex-ante-Kontrolle noch eines Verweisungsantrags an die Kommission gemäß Art. 22 der Verordnung Nr. 139/2004 gewesen seien.
27 Daher bestünden Zweifel, wie diese letztgenannten Bestimmungen auszulegen seien, die die Unmöglichkeit beträfen, „grundsätzlich“ eine selbständige Anwendung der aus dem genannten Primärrecht hervorgegangenen Wettbewerbsregeln auf einen Zusammenschluss vorzunehmen, der, wie im vorliegenden Fall, erstens die Definition in Art. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 erfüllen könne, zweitens weder auf der Grundlage des Unionsrechts noch auf der des auf Zusammenschlüsse anwendbaren nationalen Rechts zu einer präventiven Kontrolle geführt habe und drittens – dadurch, dass ein solcher Vorgang unterhalb der Schwellen für die Ex-ante-Kontrolle liege – somit kein Risiko der kumulativen Anwendung der Verordnungen Nrn. 139/2004 und 1/2003 oder eines sich aus einer doppelten Prüfung ex ante und ex post ergebenden Widerspruchs entstehen lasse.
28 Außerdem sei Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 in verschiedenen Mitgliedstaaten uneinheitlich angewandt worden.
29 Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 dahin auszulegen, dass er es verwehrt, dass ein Zusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne von Art. 1 dieser Verordnung ist, unterhalb der vom nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex‑ante-Kontrolle liegt und nicht gemäß Art. 22 der genannten Verordnung zu einer Verweisung an die Europäische Kommission geführt hat, in Anbetracht der Struktur des Wettbewerbs auf einem nationalen Markt von einer nationalen Wettbewerbsbehörde als ein von Art. 102 AEUV verbotener Missbrauch einer beherrschenden Stellung beurteilt wird?
Zur Vorlagefrage
30 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, dass ein Unternehmenszusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne von Art. 1 dieser Verordnung ist, unterhalb der vom nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex‑ante-Kontrolle liegt und nicht gemäß Art. 22 der genannten Verordnung zu einer Verweisung an die Kommission geführt hat, in Anbetracht der Struktur des Wettbewerbs auf einem nationalen Markt von einer nationalen Wettbewerbsbehörde als ein von Art. 102 AEUV verbotener Missbrauch einer beherrschenden Stellung beurteilt wird.
31 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. [Windkraftanlagen in Aalter und Nevele], C‑24/19, EU:C:2020:503, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Was zunächst den Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 betrifft, so geht daraus hervor, dass diese Verordnung „allein für Zusammenschlüsse im Sinne des Artikels 3 [gilt]“, für die die Verordnung Nr. 1/2003 grundsätzlich nicht gilt.
33 Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 zielt somit darauf ab, den Anwendungsbereich dieser Verordnung in Bezug auf die Prüfung von Zusammenschlüssen im Verhältnis zum Anwendungsbereich der anderen Rechtsakte des Sekundärrechts der Union im Bereich des Wettbewerbs zu regeln.
34 Dagegen beantwortet die Prüfung des Wortlauts dieser Bestimmung nicht die Frage, ob die Bestimmungen des Primärrechts und insbesondere Art. 102 AEUV auf einen Unternehmenszusammenschluss im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 anwendbar bleiben, insbesondere in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der betreffende Zusammenschluss zum einen die im Unionsrecht und im nationalen Recht vorgesehenen Kontrollschwellen nicht erreicht hat sowie zum anderen nicht Gegenstand einer Verweisung an die Kommission nach Art. 22 dieser Verordnung war, so dass keine Ex-ante-Kontrolle nach dem Fusionsrecht stattgefunden hat.
35 Was sodann die Entstehungsgeschichte von Art. 21 Abs. 1 der genannten Verordnung betrifft, so spiegelt diese Bestimmung, die den Inhalt des zuvor anwendbaren Art. 22 der Verordnung Nr. 4064/89 mutatis mutandis übernimmt, den im siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 4064/89 bekräftigten Willen des Unionsgesetzgebers wider, klarzustellen, dass die anderen Verordnungen zur Durchführung des Wettbewerbsrechts grundsätzlich für alle Zusammenschlüsse außer Kraft treten, d. h. sowohl für Zusammenschlüsse, die einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellen, als auch für Zusammenschlüsse, die den beteiligten Unternehmen die Macht verleihen, einen wirksamen Wettbewerb im Binnenmarkt zu behindern.
36 Schließlich ist zu den Zielen und der allgemeinen Systematik der Verordnung Nr. 139/2004 festzustellen, dass diese Verordnung nach ihrem fünften Erwägungsgrund gewährleisten soll, dass Umstrukturierungen von Unternehmen, insbesondere in Form von Zusammenschlüssen, keine dauerhafte Schädigung des Wettbewerbs verursachen. Das Unionsrecht muss deshalb Vorschriften für solche Zusammenschlüsse enthalten, die geeignet sind, wirksamen Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich zu beeinträchtigen. Der Unionsgesetzgeber wollte insoweit klarstellen, dass die Verordnung Nr. 139/2004 das einzige Verfahrensinstrument darstellt, das auf die vorherige und zentralisierte Prüfung von Zusammenschlüssen anwendbar ist, die, wie im sechsten Erwägungsgrund dieser Verordnung ausgeführt, eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur ermöglichen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. September 2017, Austria Asphalt, C‑248/16, EU:C:2017:643, Rn. 21, und vom 31. Mai 2018, Ernst & Young, C‑633/16, EU:C:2018:371, Rn. 41).
37 Zwar stellt die Verordnung nach dem mit ihr eingeführten System der „einzigen Anlaufstelle“ ein besonderes Verfahrensinstrument dar, das, wie sich aus dem achten Erwägungsgrund der Verordnung ergibt, ausschließlich für Unternehmenszusammenschlüsse mit bedeutsamen Strukturveränderungen gelten soll, deren Auswirkungen auf den Markt die Grenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, doch kann daraus nicht abgeleitet werden, dass der Unionsgesetzgeber die auf nationaler Ebene durchgeführte Kontrolle eines Zusammenschlusses im Hinblick auf Art. 102 AEUV gegenstandslos machen wollte.
38 So heißt es im siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 139/2004: „Die Artikel [101] und [102 AEUV] sind zwar … anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten.“
39 Daraus ergibt sich, dass die Verordnung Nr. 139/2004 den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten keineswegs die Möglichkeit nimmt, die Wettbewerbsbestimmungen des Vertrags auf Zusammenschlüsse, wie sie in Art. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 definiert sind, anzuwenden, sondern zu einer Gesamtheit von Rechtsvorschriften gehört, die zur Umsetzung der Art. 101 und 102 AEUV und zur Errichtung eines Kontrollsystems dienen, das gewährleistet, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt der Union nicht verfälscht wird (Urteile vom 7. September 2017, Austria Asphalt, C‑248/16, EU:C:2017:643, Rn. 31, und vom 31. Mai 2018, Ernst & Young, C‑633/16, EU:C:2018:371, Rn. 55).
40 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung, um die Lücken des Systems des Schutzes vor Wettbewerbsverzerrungen, die sich aus Umstrukturierungen von Unternehmen ergeben können, zu schließen, auf der Grundlage von Art. 83 EG (jetzt Art. 103 AEUV), der sich auf Verordnungen oder Richtlinien bezieht, die zur Anwendung der in den Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten Grundsätze erlassen werden können, und von Art. 308 EG (jetzt Art. 352 AEUV), wonach sich die Union für die Verwirklichung ihrer Ziele zusätzliche Befugnisse geben kann, erlassen wurde. Auch wenn die Funktionsweise und die Systematik des unionsrechtlichen Schutzes gegen Wettbewerbsverfälschungen, die durch die Zusammenschlüsse möglicherweise hervorgerufen werden, aus Gründen der Rechtssicherheit für die vorrangige Anwendung des Mechanismus der Ex-ante-Kontrolle von Zusammenschlüssen im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 sprechen, kann es einer Wettbewerbsbehörde dadurch nicht verwehrt sein, unter bestimmten Umständen einen Zusammenschluss unter dem Blickwinkel von Art. 102 AEUV zu erfassen.
41 Somit ergibt sich aus der Systematik der Verordnung Nr. 139/2004, dass diese zwar eine Ex-ante-Kontrolle von Zusammenschlüssen von gemeinschaftsweiter Bedeutung einführt, dass sie aber eine Ex-post-Kontrolle von Zusammenschlüssen, die diese Schwelle nicht erreichen, nicht ausschließt. Zwar nimmt Art. 3 dieser Verordnung eine materielle Definition des Unternehmenszusammenschlusses ohne Bezugnahme auf die in dieser Verordnung genannten Schwellen vor, doch ist diese Verordnung im Licht ihres Kontexts, insbesondere ihres Art. 1 sowie ihrer Erwägungsgründe 7 und 9, zu betrachten. Daraus ergibt sich zum einen, dass die Verordnung Nr. 139/2004 nur für Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung gilt, und zum anderen, dass hingenommen wird, dass bestimmte Zusammenschlüsse sowohl einer Ex-ante-Kontrolle entzogen als auch einer Ex-post-Kontrolle unterzogen werden können.
42 Die im vorliegenden Fall von der Wettbewerbsbehörde, Tivana und TDF sowie der französischen und der niederländischen Regierung vertretene Auslegung läuft letztlich darauf hinaus, die unmittelbare Anwendbarkeit einer primärrechtlichen Bestimmung aufgrund des Erlasses eines Sekundärrechtsakts, der auf bestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen auf dem Markt abzielt, auszuschließen.
43 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 102 AEUV die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten ist.
44 Nach gefestigter Rechtsprechung ist Art. 102 AEUV eine Bestimmung mit unmittelbarer Wirkung, deren Anwendung nicht vom vorherigen Erlass einer Verfahrensverordnung abhängt. Dieser Artikel begründet Rechte Einzelner, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a, C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass für die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung keine wie auch immer geartete Freistellung gewährt werden kann; ein solches Verhalten ist nach dem Vertrag schlichtweg verboten. Je nach Fallgestaltung haben die zuständigen nationalen Behörden oder aber die Kommission aus diesem Verbot im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Konsequenzen zu ziehen (Urteil vom 11. April 1989, Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro, 66/86, EU:C:1989:140, Rn. 32).
46 Zur Aufzählung der von Art. 102 AEUV erfassten Praktiken und Verhaltensweisen hat der Gerichtshof entschieden, dass diese nicht abschließend ist, so dass es sich bei der in dieser Bestimmung enthaltenen Aufzählung missbräuchlicher Praktiken um keine erschöpfende Wiedergabe der Arten der nach dem Unionsrecht verbotenen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 1973, Europemballage und Continental Can/Kommission, 6/72, EU:C:1973:22, Rn. 26, und vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige, C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 26).
47 Wie die Kommission hervorgehoben hat, kann die Unanwendbarkeit der Verordnung Nr. 1/2003 und insbesondere ihres Art. 5, der die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV auf Zusammenschlüsse im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 betrifft, nicht dazu führen, den nationalen Wettbewerbsbehörden zu verbieten, Art. 102 AEUV auf Zusammenschlüsse anzuwenden.
48 Ungeachtet des in Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 aufgestellten Grundsatzes der ausschließlichen Anwendung dieser Verordnung auf Zusammenschlüsse findet nämlich das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten auf Zusammenschlüsse von nicht gemeinschaftsweiter Bedeutung Anwendung.
49 Gewiss wurde die Anwendung von Art. 86 EWG-Vertrag (später Art. 82 EG, jetzt Art. 102 AEUV) im Urteil vom 21. Februar 1973, Europemballage und Continental Can/Kommission (6/72, EU:C:1973:22), im spezifischen Kontext von Zusammenschlüssen als Korrektiv für das Fehlen einer ausdrücklichen Bestimmung zur Kontrolle dieser Zusammenschlüsse im EWG-Vertrag eingesetzt und aufgefasst. Gleichwohl ist mit dem Inkrafttreten eigenständiger Vorschriften über die Fusionskontrolle, wie sie nunmehr in der Verordnung Nr. 139/2004 vorgesehen sind, der Rückgriff auf die zunächst in der Verordnung Nr. 17 und dann in der Verordnung Nr. 1/2003 enthaltenen Verfahrensvorschriften zur Durchführung der Art. 81 und 82 EG (jetzt Art. 101 und 102 AEUV) gegenstandslos geworden.
50 Somit kann die Verordnung Nr. 139/2004 dem nicht entgegenstehen, dass ein Zusammenschluss von nicht gemeinschaftsweiter Bedeutung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende von den nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichten aufgrund der unmittelbaren Wirkung von Art. 102 AEUV unter Rückgriff auf ihre eigenen Verfahrensvorschriften überprüft werden kann.
51 Denn das in Art. 102 AEUV enthaltene Verbot ist hinreichend klar, präzise und unbedingt, so dass es keiner sekundärrechtlichen Regel bedarf, die seine Anwendung durch die nationalen Behörden und Gerichte ausdrücklich anordnen oder erlauben müsste.
52 Daraus folgt, dass auf einen Zusammenschluss, der nicht die in der Verordnung Nr. 139/2004 bzw. im anwendbaren nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für die Ex-ante-Kontrolle erreicht, Art. 102 AEUV angewandt werden kann, wenn die in diesem Artikel vorgesehenen Voraussetzungen für die Feststellung eines Missbrauchs einer beherrschenden Stellung vorliegen. Die zuständige Behörde hat insbesondere zu prüfen, ob der Erwerber in beherrschender Stellung auf einem bestimmten Markt, der die Kontrolle über ein anderes Unternehmen auf diesem Markt übernommen hat, durch dieses Verhalten den Wettbewerb auf diesem Markt erheblich behindert hat. Insoweit reicht die bloße Feststellung der Stärkung der Position eines Unternehmens für die Einstufung als Missbrauch nicht aus, da nachgewiesen werden muss, dass der so erreichte Beherrschungsgrad den Wettbewerb wesentlich behindert, dass also nur noch Unternehmen auf dem Markt bleiben, die in ihrem Marktverhalten von dem beherrschenden Unternehmen abhängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 1973, Europemballage und Continental Can/Kommission, 6/72, EU:C:1973:22, Rn. 26, und vom 16. März 2000, Compagnie maritime belge transports u. a./Kommission, C‑395/96 P und C‑396/96 P, EU:C:2000:132, Rn. 113).
53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 dahin auszulegen ist, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmenszusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne von Art. 1 dieser Verordnung ist, unterhalb der vom nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex‑ante-Kontrolle liegt und nicht gemäß Art. 22 der genannten Verordnung zu einer Verweisung an die Kommission geführt hat, in Anbetracht der Struktur des Wettbewerbs auf einem nationalen Markt von einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats als ein von Art. 102 AEUV verbotener Missbrauch einer beherrschenden Stellung beurteilt wird.
Zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des vorliegenden Urteils
54 TDF und Tivana haben in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen beantragt, die zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils zu begrenzen, falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass ein Zusammenschluss, der die Schwellen für die Kontrolle von Zusammenschlüssen nicht überschreitet und nicht Gegenstand einer Verweisung an die Kommission nach Art. 22 der Verordnung Nr. 139/2004 ist, anhand von Art. 102 AEUV geprüft werden kann.
55 Zur Stützung ihres Antrags machen TDF und Tivana im Wesentlichen geltend, ein solches Urteil habe schwerwiegende Folgen im Hinblick auf die Rechtssicherheit nicht nur für sie, sondern auch für alle Unternehmen, die in gutem Glauben Zusammenschlüsse unterhalb der Schwellen vollzogen hätten, die nunmehr vor den nationalen Behörden oder Gerichten auf der Grundlage von Art. 102 AEUV in Frage gestellt werden könnten.
56 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden können und müssen, die vor dem Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung der Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Im vorliegenden Fall ist erstens zum Kriterium des guten Glaubens der Betroffenen festzustellen, dass die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof im vorliegenden Urteil an die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts zur unmittelbaren Wirkung von Art. 102 AEUV und zu den sich daraus ergebenden Folgen anschließt. TDF und Tivana können nicht mit Erfolg geltend machen, dass sie hätten erwarten können, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zusammenschluss nicht unter dem Blickwinkel von Art. 102 AEUV geprüft werde, weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der rechtlichen Tragweite dieses Artikels des AEU-Vertrags bestand.
59 Zweitens ist festzustellen, dass weder das Vorabentscheidungsersuchen noch die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen einen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass die vom Gerichtshof im vorliegenden Urteil vorgenommene Auslegung die Gefahr schwerwiegender Störungen nach sich zieht, da keine genauen Angaben dazu gemacht werden, wie viele Rechtsverhältnisse von dieser Auslegung betroffen sein könnten.
60 Zudem bezieht sich die vom Gerichtshof im vorliegenden Urteil vorgenommene Auslegung des Unionsrechts darauf, ob eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Zusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 ist, der unter den im nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex‑ante-Kontrolle liegt und nicht gemäß Art. 22 dieser Verordnung zu einer Verweisung an die Kommission geführt hat, unter dem Blickwinkel von Art. 102 AEUV prüfen kann. Eine solche Auslegung bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein solcher Zusammenschluss in Frage gestellt zu werden droht und damit das Eigentumsrecht verletzt wird und erhebliche finanzielle Folgen eintreten.
61 Demzufolge kann auch die Gefahr schwerwiegender Störungen, die eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils rechtfertigen könnte, nicht als erwiesen angesehen werden.
62 Daher sind die Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht zeitlich zu begrenzen.