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Wirtschaftsrecht
26.01.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen müssen geeignet sein, Verdrängungswirkungen zu entfalten

EuGH, Urteil vom 19.1.2023 – C-680/20, Unilever Italia Mkt. Operations Srl gegen Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato

ECLI:EU:C:2023:33

Volltext: BB-Online BBL2023-193-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass das Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes für Waren oder Dienstleistungen eines Herstellers in beherrschender Stellung sind, diesem zugerechnet werden können, wenn feststeht, dass dieses Verhalten von den Vertriebshändlern nicht selbständig angenommen wurde, sondern Teil einer einseitig von diesem Hersteller beschlossenen und mittels dieser Vertriebshändler umgesetzten Politik ist.

2. Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Wettbewerbsbehörde bei Vorliegen von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen verpflichtet ist, für die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände und insbesondere unter Berücksichtigung der gegebenenfalls von dem Unternehmen in beherrschender Stellung vorgelegten wirtschaftlichen Analysen in Bezug auf die fehlende Eignung der in Rede stehenden Verhaltensweisen, Wettbewerber, die ebenso leistungsfähig sind wie es selbst, vom Markt zu verdrängen, nachzuweisen, dass diese Klauseln den Wettbewerb beschränken können. Die Anwendung des Tests des ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers ist fakultativ. Werden die Ergebnisse eines solchen Tests jedoch von dem betreffenden Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorgelegt, so ist die Wettbewerbsbehörde verpflichtet, deren Beweiswert zu prüfen.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 101 und 102 AEUV.

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Unilever Italia Mkt. Operations Srl (im Folgenden: Unilever) und der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) wegen einer Sanktion, die diese Behörde gegen Unilever wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung auf dem italienischen Markt für den Vertrieb von Speiseeis in Einzelpackungen an bestimmte Verkaufsstellen, wie Badeanstalten und Bars, verhängt hat.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

3          Unilever ist in der Herstellung und im Vertrieb von Massenkonsumgütern tätig, darunter abgepacktes Speiseeis, das unter den Marken Algida und Carte d’Or vermarktet wird. In Italien vertreibt Unilever Eis in Einzelpackungen, die für den Konsum „Außer-Haus“ bestimmt sind, d. h. nicht im Haushalt des Verbrauchers konsumiert werden, sondern in Bars, Cafés, Sportstätten, Schwimmbädern oder anderen Freizeiteinrichtungen (im Folgenden: Verkaufsstellen), mit Hilfe eines Netzes von 150 Vertriebshändlern.

4          Am 3. April 2013 legte ein konkurrierendes Unternehmen bei der AGCM Beschwerde wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung durch Unilever auf dem Markt für Speiseeis in Einzelpackungen ein. Die AGCM leitete eine Untersuchung ein.

5          Im Laufe ihrer Untersuchung war die AGCM der Ansicht, dass sie nicht verpflichtet sei, die wirtschaftlichen Analysen zu prüfen, die Unilever vorgelegt hatte, um nachzuweisen, dass die untersuchten Praktiken nicht die Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber vom Markt bewirkten, da diese Analysen bei Ausschließlichkeitsklauseln völlig irrelevant seien und die Verwendung solcher Klauseln durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung ausreiche, um einen Missbrauch dieser Stellung festzustellen.

6          Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 stellte die AGCM fest, dass Unilever ihre beherrschende Stellung auf dem Markt für den Vertrieb von für den Konsum „Außer-Haus“ bestimmtem Speiseeis in Einzelpackungen unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV missbraucht habe.

7          Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass Unilever auf dem relevanten Markt eine Verdrängungsstrategie verfolgt habe, die geeignet gewesen sei, das Wachstum ihrer Wettbewerber auf diesem Markt zu behindern. Diese Strategie habe hauptsächlich darauf beruht, dass den Betreibern der Verkaufsstellen durch die Vertriebshändler von Unilever Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt worden seien, die sie dazu verpflichtet hätten, ihren gesamten Bedarf an abgepacktem Speiseeis ausschließlich von Unilever zu beziehen. Als Gegenleistung habe für diese Betreiber ein breites Spektrum von Rabatten und Provisionen gegolten, deren Gewährung an Umsatzbedingungen oder den Vertrieb einer bestimmten Produktpalette von Unilever geknüpft gewesen sei. Diese Rabatte und Provisionen, die in unterschiedlichen Kombinationen und auf unterschiedliche Weise fast allen Kunden von Unilever gewährt worden seien, hätten diese dazu bewegen sollen, ihre Ware weiterhin ausschließlich von diesem Unternehmen zu beziehen, indem sie sie davon abhielten, ihren Vertrag zu kündigen, um bei Wettbewerbern von Unilever zu kaufen.

8          Zwei Aspekte der Entscheidung der AGCM vom 31. Oktober 2017 sind für das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen von besonderer Bedeutung.

9          Zum einen war die AGCM, obwohl das missbräuchliche Verhalten tatsächlich nicht von Unilever, sondern von ihren Vertriebshändlern begangen wurde, der Ansicht, dass dieses Verhalten allein Unilever zuzurechnen sei, weil Unilever und ihre Vertriebshändler eine wirtschaftliche Einheit bildeten. Unilever habe nämlich zu einem gewissen Grad in die Geschäftspolitik der Vertriebshändler eingegriffen, so dass diese nicht eigenständig gehandelt hätten, als sie den Betreibern der Verkaufsstellen Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt hätten.

10        Zum anderen vertrat die AGCM die Auffassung, dass in Anbetracht der Besonderheiten des relevanten Marktes und insbesondere des geringen Platzangebots in den Verkaufsstellen sowie der entscheidenden Rolle, die der Umfang des Angebots für die Wahl der Verbraucher spiele, das Verhalten von Unilever die Möglichkeit der konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmer, in einen auf den Vorzügen ihrer Produkte beruhenden Wettbewerb zu treten, ausgeschlossen oder zumindest erschwert habe.

11        Daher verhängte die AGCM mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 gegen Unilever eine Geldbuße in Höhe von 60 668 580 Euro wegen Missbrauchs ihrer beherrschenden Stellung unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV.

12        Unilever erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Latium, Italien), das die Klage in vollem Umfang abwies.

13        Unilever legte gegen dieses Urteil beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein Rechtsmittel ein.

14        Unilever stützt dieses Rechtsmittel darauf, dass das Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Latium) hätte feststellen müssen, dass die Entscheidung der AGCM vom 31. Oktober 2017 fehlerhaft gewesen sei, was zum einen die Zurechenbarkeit des Verhaltens ihrer Vertriebshändler an sie und zum anderen die Auswirkungen des fraglichen Verhaltens betreffe, das nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu verfälschen.

15        In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht im Hinblick auf die Behandlung der beiden genannten Rechtsmittelgründe Zweifel hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts. Insbesondere weist es in Bezug auf die erste Rüge darauf hin, dass es wissen müsse, ob und unter welchen Bedingungen eine Koordinierung zwischen formal autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern so gestaltet sei, dass sie dem Bestehen eines einzigen Entscheidungszentrums gleichkomme, mit der Folge, dass das Verhalten des einen ebenfalls dem anderen zugerechnet werden könne.

16        Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Welche Kriterien sind abgesehen von Fällen der Unternehmenskontrolle für die Feststellung maßgeblich, ob die vertragliche Koordinierung zwischen formal autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern zu einer einzigen wirtschaftlichen Einheit im Sinne der Art. 101 und 102 AEUV führt? Kann insbesondere das Vorhandensein eines gewissen Grades von Eingriffen in die geschäftlichen Entscheidungen eines anderen Unternehmens, das für Beziehungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Abnehmern typisch ist, als ausreichend angesehen werden, um diese Unternehmen als Teil derselben wirtschaftlichen Einheit einzustufen? Oder muss zwischen den beiden Unternehmen eine „hierarchische“ Verbindung bestehen, die durch das Vorliegen eines Vertrags erkennbar wird, wonach sich mehrere autonome Unternehmen der Leitungs- und Koordinierungstätigkeit eines von ihnen „unterwerfen“, so dass die Behörde den Nachweis für eine systematische und kontinuierliche Reihe von Anleitungsmaßnahmen erbringen muss, die geeignet sind, die betrieblichen Entscheidungen des Unternehmens zu beeinflussen, d. h. die strategischen und operativen Entscheidungen in finanzieller und gewerblicher Hinsicht?

 

2. Ist Art. 102 AEUV für die Beurteilung, ob ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung durch die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln vorliegt, dahin auszulegen, dass die [zuständige] Wettbewerbsbehörde verpflichtet ist, zu überprüfen, ob die Wirkung dieser Klauseln darin besteht, ebenso effiziente Wettbewerber vom Markt auszuschließen, und die von der Partei vorgelegten wirtschaftlichen Analysen zur konkreten Fähigkeit der in Rede stehenden Verhaltensweisen, ebenso effiziente Wettbewerber vom Markt auszuschließen, im Einzelfall zu prüfen? Oder gibt es bei Ausschließlichkeitsklauseln oder Verhaltensweisen, die durch eine Vielzahl von missbräuchlichen Praktiken (Treuerabatte und Ausschließlichkeitsklauseln) gekennzeichnet sind, für die [zuständige] Wettbewerbsbehörde keine rechtliche Verpflichtung, den Vorwurf eines Wettbewerbsverstoßes auf das Kriterium des ebenso effizienten Wettbewerbers zu stützen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

Zur Zulässigkeit

17        Die AGCM und die italienische Regierung halten die erste Frage für unzulässig, da die Vorlageentscheidung nicht die erforderlichen Angaben enthalte. Außerdem beziehe sich diese Frage auf Art. 101 AEUV, obwohl diese Bestimmung von der AGCM nicht angewandt worden sei.

18        Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung, die nunmehr Ausdruck in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gefunden hat, die Notwendigkeit, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, es erforderlich macht, dass dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen die Fragen beruhen. Dieses Erfordernis gilt ganz besonders im Bereich des Wettbewerbs, der durch komplexe tatsächliche und rechtliche Verhältnisse gekennzeichnet ist (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 49).

19        Außerdem kann der Gerichtshof nicht über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts entscheiden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Baltijas Starptautiskā Akadēmija und Stockholm School of Economics in Riga, C‑164/21 und C‑318/21, EU:C:2022:785, Rn. 33).

20        Im vorliegenden Fall sind, wie der Generalanwalt in Nr. 19 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zum einen die in der Vorlageentscheidung enthaltenen Informationen zwar knapp, reichen aber aus, um die tatsächliche Annahme zu erläutern, auf der die erste Frage beruht. Zum anderen kann der Umstand, dass das vorlegende Gericht in der ersten Frage nicht nur auf Art. 102 AEUV, sondern auch auf Art. 101 AEUV Bezug nimmt, die Zulässigkeit der ersten Frage insgesamt nicht in Frage stellen.

21        Da allerdings der Begründung der Vorlageentscheidung zufolge die AGCM Art. 101 AEUV im Ausgangsverfahren nicht angewandt hat, ist die erste Frage, soweit sie die Auslegung von Art. 101 AEUV betrifft, als hypothetisch und somit unzulässig anzusehen, auch wenn der Begriff „Unternehmen“ den Art. 101 und 102 AEUV gemeinsam ist.

22        Folglich ist die erste Frage nur insoweit zulässig, als sie die Auslegung von Art. 102 AEUV betrifft.

Zur Begründetheit

23        Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die AGCM nur Unilever in Bezug auf das von den Vertriebshändlern begangene missbräuchliche Verhalten mit der Begründung sanktioniert hat, dass Unilever ihre beherrschende Stellung missbraucht habe. Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen, unter welchen Bedingungen das Verhalten formal autonomer und unabhängiger Wirtschaftsteilnehmer, nämlich von Vertriebshändlern, einem anderen autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmer, nämlich dem Hersteller der von diesen vertriebenen Produkte, zugerechnet werden könnte.

24        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass das Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes eines Herstellers in beherrschender Stellung sind, diesem Hersteller zugerechnet werden können und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen.

25        Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob das Bestehen einer vertraglichen Koordinierung zwischen einem Hersteller, um den diese vertragliche Koordinierung organisiert ist, und verschiedenen rechtlich autonomen Vertriebshändlern ausreicht, um eine solche Zurechnung zu ermöglichen, oder ob darüber hinaus festgestellt werden muss, dass dieser Hersteller in der Lage ist, einen bestimmenden Einfluss auf die geschäftlichen, finanziellen und industriellen Entscheidungen, die die Vertriebshändler im Zusammenhang mit der betreffenden Tätigkeit treffen können, auszuüben, der über das hinausgeht, was gewöhnlich für die Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Absatzmittlern kennzeichnend ist.

26        Insoweit trifft es zwar zu, dass Entscheidungen, die im Rahmen einer vertraglichen Koordinierung, wie etwa einer Vertriebsvereinbarung, getroffen werden, grundsätzlich nicht Teil einseitiger Handlungsweisen sind, da ihre Umsetzung zumindest die stillschweigende Zustimmung aller Parteien impliziert, sondern sich in die Beziehungen einfügen, die die an dieser Koordinierung beteiligten Parteien zueinander unterhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 1985, Ford-Werke und Ford of Europe/Kommission, 25/84 und 26/84, EU:C:1985:340, Rn. 20 und 21). Solche Entscheidungen fallen daher grundsätzlich unter das Kartellrecht nach Art. 101 AEUV.

27        Diese Schlussfolgerung schließt jedoch nicht aus, dass einem Unternehmen in beherrschender Stellung das Verhalten der Vertriebshändler seiner Produkte oder Dienstleistungen, mit denen es nur vertragliche Beziehungen unterhält, zugerechnet werden kann und dass in der Folge festgestellt wird, dass dieses Unternehmen eine beherrschende Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV missbraucht hat.

28        Jedes Unternehmen, das eine beherrschende Stellung innehat, trägt nämlich eine besondere Verantwortung dafür, dass es durch sein Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt nicht beeinträchtigt (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 135 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sollen mit einer solchen Verpflichtung nicht nur Beeinträchtigungen des Wettbewerbs verhindert werden, die unmittelbar durch das Verhalten des Unternehmens in beherrschender Stellung verursacht werden, sondern auch solche, die durch Verhaltensweisen hervorgerufen werden, deren Umsetzung von diesem Unternehmen unabhängigen juristischen Einheiten, die seinen Weisungen folgen müssen, übertragen worden ist. Wenn also das dem Unternehmen in beherrschender Stellung vorgeworfene Verhalten tatsächlich über einen Mittler, der Teil eines Vertriebsnetzes ist, umgesetzt wird, kann dieses Verhalten dem beherrschenden Unternehmen zugerechnet werden, wenn sich herausstellt, dass es gemäß den spezifischen Weisungen dieses Unternehmens und somit im Rahmen der Umsetzung einer von diesem Unternehmen einseitig beschlossenen Politik erfolgt ist, an die sich die betreffenden Vertriebshändler halten mussten.

30        In einem solchen Fall kann das Unternehmen in beherrschender Stellung, da das ihm vorgeworfene Verhalten einseitig beschlossen wurde, als Urheber dieses Verhaltens und damit gegebenenfalls für die Anwendung von Art. 102 AEUV als für dieses Verhalten allein verantwortlich angesehen werden. In einem solchen Fall sind nämlich die Vertriebshändler und folglich auch das Vertriebsnetz, das sie mit diesem Unternehmen bilden, als bloßes Instrument zur territorialen Verbreitung der Geschäftspolitik dieses Unternehmens und damit als Instrument anzusehen, mit dem die fragliche Verdrängungspraxis gegebenenfalls umgesetzt wurde.

31        Dies gilt insbesondere dann, wenn ein solches Verhalten die Form von Standardverträgen annimmt, die vollständig von einem Hersteller in beherrschender Stellung abgefasst worden sind und zugunsten seiner Produkte Ausschließlichkeitsklauseln enthalten, die die Vertriebshändler dieses Herstellers von den Betreibern der Verkaufsstellen unterzeichnen lassen müssen, ohne sie ändern zu können, es sei denn mit ausdrücklicher Zustimmung dieses Herstellers. Unter diesen Umständen kann diesem Hersteller nämlich vernünftigerweise nicht unbekannt sein, dass die Vertriebshändler aufgrund der rechtlichen und wirtschaftlichen Bindungen zu ihm seine Weisungen und auf diese Weise die von ihm beschlossene Politik umsetzen werden. Es ist daher davon auszugehen, dass ein solcher Hersteller bereit ist, die mit einem solchen Verhalten verbundenen Risiken zu tragen.

32        In diesem Fall ist die Zurechenbarkeit des Verhaltens der Vertriebshändler, die zum Vertriebsnetz für die Waren oder Dienstleistungen des Unternehmens in beherrschender Stellung gehören, zu dem beherrschenden Unternehmen weder vom Nachweis, dass die betreffenden Vertriebshändler ebenfalls Teil dieses Unternehmens im Sinne von Art. 102 AEUV sind, noch vom Bestehen einer „hierarchischen“ Verbindung abhängig, die sich aus einer systematischen und kontinuierlichen Reihe von an diese Vertriebshändler gerichteten Anleitungsmaßnahmen ergibt, die geeignet sind, die betrieblichen Entscheidungen zu beeinflussen, die diese im Hinblick auf ihre jeweiligen Tätigkeiten treffen.

33        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass das Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes für Waren oder Dienstleistungen eines Herstellers in beherrschender Stellung sind, diesem zugerechnet werden können, wenn feststeht, dass dieses Verhalten von den Vertriebshändlern nicht selbständig angenommen wurde, sondern Teil einer einseitig von diesem Hersteller beschlossenen und mittels dieser Vertriebshändler umgesetzten Politik ist.

Zur zweiten Frage

34        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass die zuständige Wettbewerbsbehörde bei Vorliegen von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen für die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nachweisen muss, dass diese Klauseln die Wirkung haben, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie das Unternehmen in beherrschender Stellung vom Markt auszuschließen, und ob diese Behörde, bei Vorliegen einer Vielzahl von streitigen Praktiken jedenfalls verpflichtet ist, die vom betreffenden Unternehmen gegebenenfalls vorgelegten wirtschaftlichen Analysen eingehend zu prüfen, insbesondere wenn sie auf dem Test des „ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers“ beruhen.

35        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 102 AEUV die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten ist.

36        Dieser Begriff ist also auf die Ahndung von Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung gerichtet, die auf einem Markt, auf dem der Grad an Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, die Aufrechterhaltung einer wirksamen Wettbewerbsstruktur behindern (Urteil vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37        Art. 102 AEUV hat jedoch keineswegs zum Ziel, zu verhindern, dass ein Unternehmen auf einem Markt aus eigener Kraft, insbesondere aufgrund seiner Fachkenntnisse und Fähigkeiten, eine beherrschende Stellung einnimmt, oder zu gewährleisten, dass sich Wettbewerber, die weniger effizient als das Unternehmen in beherrschender Stellung sind, weiterhin auf dem Markt halten. Der Wettbewerb wird nämlich nicht unbedingt durch jede Verdrängungswirkung verzerrt, denn Leistungswettbewerb kann definitionsgemäß dazu führen, dass Wettbewerber, die weniger effizient und daher für die Verbraucher im Hinblick insbesondere auf Preise, Auswahl, Qualität oder Innovation weniger interessant sind, vom Markt verschwinden oder bedeutungslos werden (Urteil vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38        Hingegen dürfen Unternehmen, die eine beherrschende Stellung innehaben, unabhängig von den Ursachen einer solchen Stellung einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt durch ihr Verhalten nicht beeinträchtigen (vgl. u. a. Urteile vom 9. November 1983, Nederlandsche BandenIndustrie-Michelin/Kommission, 322/81, EU:C:1983:313, Rn. 57, und vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 135).

39        So kann ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung insbesondere dann nachgewiesen werden, wenn das vorgeworfene Verhalten für ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie den Urheber dieses Verhaltens in Bezug auf die Kostenstruktur, die Innovationsfähigkeit oder die Qualität Verdrängungswirkung entfaltet hat oder wenn dieses Verhalten auf der Nutzung anderer Mittel als derjenigen beruhte, die zu einem „normalen“ Wettbewerb, d. h. einem Leistungswettbewerb, gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 69, 71, 75 und 76 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

40        Insoweit obliegt es den Wettbewerbsbehörden, die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen Umstände des fraglichen Verhaltens nachzuweisen (Urteile vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 18, und vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 72), was diejenigen einschließt, die durch die vom Unternehmen in beherrschender Stellung zur Verteidigung vorgelegten Beweise hervorgehoben werden.

41        Um die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens nachzuweisen, muss eine Wettbewerbsbehörde zwar nicht notwendigerweise beweisen, dass dieses Verhalten tatsächlich wettbewerbswidrige Wirkungen erzeugt hat. Art. 102 AEUV soll nämlich die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen ahnden, unabhängig davon, ob sich eine solche Ausnutzung als erfolgreich erwiesen hat oder nicht (Urteil vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher kann eine Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV feststellen, indem sie nachweist, dass das in Rede stehende Verhalten in dem Zeitraum, in dem es stattgefunden hat, unter den Umständen des konkreten Falls trotz seiner fehlenden Wirkung in der Lage war, den Leistungswettbewerb zu beschränken.

42        Dieser Nachweis muss jedoch grundsätzlich auf greifbare Beweise gestützt sein, die, indem sie über eine bloße Annahme hinausgehen, die tatsächliche Eignung der in Rede stehenden Praxis zeigen, solche Wirkungen zu entfalten, wobei, falls Zweifel daran bestehen, diese dem Unternehmen, das eine solche Praxis anwendet, zugutekommen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 1978, United Brands und United Brands Continentaal/Kommission, 27/76, EU:C:1978:22, Rn. 265, und vom 31. März 1993, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, C‑89/85, C‑104/85, C‑114/85, C‑116/85, C‑117/85 und C‑125/85 bis C‑129/85, EU:C:1993:120, Rn. 126).

43        Folglich kann eine Praxis nicht als missbräuchlich eingestuft werden, wenn sie im Planungsstadium geblieben ist. Zudem kann sich eine Wettbewerbsbehörde nicht auf die Wirkungen stützen, die diese Praxis haben könnte oder hätte haben können, wenn bestimmte besondere Umstände, die sich von den Umständen, die zum Zeitpunkt ihrer Anwendung auf dem Markt vorherrschten, unterschieden und deren Verwirklichung damals wenig wahrscheinlich war, eingetreten wären.

44        Im Übrigen kann sich eine Wettbewerbsbehörde zwar für die Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Unternehmens geeignet ist, den wirksamen Wettbewerb auf einem Markt zu beschränken, auf die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften stützen, die durch empirische oder verhaltensbezogene Studien bestätigt werden, doch reicht die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse nicht aus. Andere Faktoren, die den Umständen des konkreten Falles eigen sind, wie der Umfang dieses Marktverhaltens, die Kapazitätsengpässe der Rohstofflieferanten oder die Tatsache, dass das Unternehmen in beherrschender Stellung zumindest für einen Teil der Nachfrage ein unvermeidbarer Partner ist, sind bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob das fragliche Verhalten in Anbetracht dieser Erkenntnisse so zu verstehen ist, dass es zumindest während eines Teils des Zeitraums, in dem es praktiziert wurde, geeignet war, Verdrängungseffekte auf dem betreffenden Markt zu entfalten.

45        Einer ähnlichen Vorgehensweise ist im Übrigen in Bezug auf den Beweis für eine wettbewerbswidrige Absicht des Unternehmens in beherrschender Stellung zu folgen. Diese Absicht stellt nämlich ein Indiz für die Art und die Ziele der von diesem Unternehmen verfolgten Strategie dar, und kann daher als solches berücksichtigt werden. Das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Absicht kann auch für die Berechnung der Geldbuße von Bedeutung sein. Der Nachweis einer solchen Absicht ist jedoch weder erforderlich noch für sich genommen ausreichend, um das Vorliegen des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nachzuweisen, da der Begriff „missbräuchliche Ausnutzung“ im Sinne von Art. 102 AEUV auf einer objektiven Beurteilung des fraglichen Verhaltens beruht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 19 und 21, sowie vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 61 und 62).

46        In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof zwar speziell in Bezug auf Ausschließlichkeitsklauseln entschieden, dass Klauseln, mit denen sich Vertragspartner verpflichtet haben, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil desselben bei einem Unternehmen in beherrschender Stellung zu beziehen, auch wenn sie nicht mit Rabatten verbunden sind, naturgemäß eine Ausnutzung einer beherrschenden Stellung darstellen und dass dies auch für die Treuerabatte eines solchen Unternehmens gilt (Urteil vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission, 85/76, EU:C:1979:36, Rn. 89).

47        Im Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 138), hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung jedoch erstens für den Fall konkretisiert, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung im Verwaltungsverfahren unter Vorlage von Beweisen für seine Behauptungen geltend macht, dass sein Verhalten nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu beschränken und insbesondere die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu erzeugen.

48        Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die Wettbewerbsbehörde in dieser Situation nicht nur verpflichtet ist, das Ausmaß der beherrschenden Stellung des Unternehmens auf dem maßgeblichen Markt und den Umfang der Markterfassung durch die beanstandete Praxis sowie die Bedingungen und Modalitäten der in Rede stehenden Rabattgewährung, die Dauer und die Höhe dieser Rabatte zu prüfen, sondern außerdem verpflichtet ist, das Vorliegen einer eventuellen Strategie zur Verdrängung der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerber zu prüfen (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 139).

49        Zweitens ist die Analyse der Eignung zur Verdrängung ebenfalls maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Rabattsystem, das grundsätzlich unter das Verbot von Art. 102 AEUV fällt, objektiv rechtfertigen lässt. Außerdem kann die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung eines Rabattsystems durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Eine solche Abwägung der für den Wettbewerb vorteilhaften und nachteiligen Auswirkungen der beanstandeten Praxis auf den Wettbewerb kann jedoch nur im Anschluss an eine Analyse der dieser Praxis innewohnenden Eignung zur Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber wie des Unternehmens in beherrschender Stellung vorgenommen werden (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 140).

50        Mit dieser zweiten Konkretisierung hat der Gerichtshof zwar nur die Rabattsysteme erwähnt. Da jedoch sowohl Rabattpraktiken als auch Ausschließlichkeitsklauseln objektiv gerechtfertigt sein können oder die Nachteile, die sie verursachen, durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden können, die auch dem Verbraucher zugutekommen, ist eine solche Konkretisierung so zu verstehen, dass sie sowohl für die eine als auch für die andere dieser Praktiken gilt.

51        Abgesehen davon, dass eine solche Auslegung im Einklang mit der ersten Konkretisierung steht, die der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 139), vorgenommen hat, ist im Übrigen festzustellen, dass Ausschließlichkeitsklauseln, auch wenn sie aufgrund ihrer Natur berechtigte Wettbewerbsbedenken hervorrufen, nicht automatisch geeignet sind, Wettbewerber zu verdrängen, wie im Übrigen die Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel [102 AEUV] auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen“ (ABl. 2009, C 45, S. 7, Nr. 36) veranschaulicht.

52        Daraus folgt zum einen, dass eine Wettbewerbsbehörde, wenn sie den Verdacht hat, dass ein Unternehmen durch die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln gegen Art. 102 AEUV verstoßen hat, und dieses Unternehmen im Lauf des Verfahrens gestützt auf Beweise die konkrete Eignung dieser Klauseln, ebenso leistungsfähige Wettbewerber vom Markt auszuschließen, in Abrede stellt, im Stadium der Einstufung der Zuwiderhandlung sicherstellen muss, dass diese Klauseln unter den Umständen des konkreten Falles tatsächlich geeignet waren, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie dieses Unternehmen vom Markt auszuschließen.

53        Zum anderen ist die Wettbewerbsbehörde, die dieses Verfahren eingeleitet hat, auch verpflichtet, konkret zu beurteilen, ob diese Klauseln geeignet sind, den Wettbewerb zu beschränken, wenn das unter Verdacht stehende Unternehmen, ohne förmlich zu bestreiten, dass sein Verhalten geeignet war, den betreffenden Wettbewerb zu beschränken, im Verwaltungsverfahren vorträgt, dass es Rechtfertigungen für sein Verhalten gibt.

54        Jedenfalls begründet die Vorlage von Beweisen im Laufe des Verfahrens, die die fehlende Eignung, wettbewerbsbeschränkende Wirkungen hervorzurufen, belegen können, die Verpflichtung der Wettbewerbsbehörde, diese Beweise zu prüfen. Die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, was nach ständiger Rechtsprechung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, verlangt nämlich von den Wettbewerbsbehörden, das Unternehmen in beherrschender Stellung anzuhören, was bedeutet, dass sie mit aller gebotenen Sorgfalt die Erklärungen dieses Unternehmens zur Kenntnis nehmen und sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls, insbesondere die von dem Unternehmen vorgelegten Beweise, untersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 52).

55        Folglich kann die zuständige Wettbewerbsbehörde, wenn das Unternehmen in beherrschender Stellung eine Wirtschaftsstudie vorgelegt hat, um zu zeigen, dass die ihm zur Last gelegte Praxis nicht geeignet war, Wettbewerber zu verdrängen, die Relevanz dieser Studie nicht ausschließen, ohne die Gründe darzulegen, aus denen sie der Ansicht ist, dass diese Studie es nicht ermögliche, zum Nachweis der fehlenden Eignung der in Rede stehenden Praktiken, den wirksamen Wettbewerb auf dem betreffenden Markt zu beeinträchtigen, beizutragen, und demnach ohne diesem Unternehmen die Möglichkeit zu geben, das Beweisangebot zu ermitteln, das an deren Stelle treten könnte.

56        Was den sogenannten Test des ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers angeht, auf den das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung ausdrücklich hingewiesen hat, ist zu bemerken, dass sich dieser Begriff auf verschiedene Tests bezieht, bei denen es sich um eine Beurteilung der Eignung einer Praxis handelt, wettbewerbswidrige Verdrängungswirkungen zu entfalten, indem auf die Fähigkeit eines hypothetischen Wettbewerbers des Unternehmens in beherrschender Stellung, der hinsichtlich der Kostenstruktur ebenso effizient ist, den Kunden – ohne selbst dadurch Verluste zu erleiden – einen hinreichend günstigen Preis zu bieten, um sie trotz der entstehenden Nachteile zu einem Lieferantenwechsel zu veranlassen, abgestellt wird. Diese Fähigkeit wird im Allgemeinen anhand der Kostenstruktur des Unternehmens in beherrschender Stellung selbst bestimmt.

57        Ein derartiger Test kann aber insbesondere bei bestimmten nicht tarifären Praktiken wie z. B. einer Lieferverweigerung unangemessen sein oder wenn der fragliche Markt durch hohe Zugangsschranken geschützt ist. Im Übrigen ist ein solcher Test nur eine von mehreren Methoden, mit der beurteilt werden kann, ob eine Praxis geeignet ist, Verdrängungswirkungen zu entfalten, wobei diese Methode zudem nur den Preiswettbewerb berücksichtigt. Insbesondere kann die Verwendung anderer Ressourcen als derjenigen, die den Leistungswettbewerb regeln, durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung unter bestimmten Umständen ausreichen, um das Vorliegen eines solchen Missbrauchs festzustellen (vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2022, Servizio Elettrico Nazionale u. a., C‑377/20, EU:C:2022:379, Rn. 78).

58        Folglich können die Wettbewerbsbehörden rechtlich nicht verpflichtet sein, für die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Praxis auf den Test des ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers zurückzugreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2015, Post Danmark, C‑23/14, EU:C:2015:651, Rn. 57).

59        Selbst bei Vorliegen nicht tarifärer Praktiken kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass ein solcher Test relevant ist. Ein derartiger Test kann sich nämlich als nützlich erweisen, wenn die Folgen der in Rede stehenden Praxis quantifiziert werden können. Insbesondere bei Ausschließlichkeitsklauseln kann ein solcher Test theoretisch dazu dienen, zu bestimmen, ob ein hypothetischer Wettbewerber mit einer Kostenstruktur, die der des Unternehmens in beherrschender Stellung entspricht, seine Waren oder Leistungen anders als mit Verlust oder mit unzureichender Spanne anbieten könnte, wenn er die Entschädigungen, die die Vertriebshändler zu zahlen hätten, um den Lieferanten zu wechseln, oder die Verluste tragen müsste, die diese nach einer solchen Änderung infolge des Entzugs der zuvor eingeräumten Rabatte erleiden würden (vgl. entsprechend Urteil vom 25. März 2021, Slovak Telekom/Kommission, C‑165/19 P, EU:C:2021:239, Rn. 110).

60        Wenn ein Unternehmen in beherrschender Stellung, das einer missbräuchlichen Praxis verdächtigt wird, einer Wettbewerbsbehörde eine Analyse vorlegt, die auf einem Test des ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers beruht, kann die Wettbewerbsbehörde diesen Beweis folglich nicht außer Acht lassen, ohne auch nur dessen Beweiswert zu prüfen.

61        Dieser Umstand wird durch das Vorliegen einer Vielzahl streitiger Praktiken nicht in Frage gestellt. Selbst wenn man nämlich annimmt, dass die kumulierten Auswirkungen dieser Praktiken nicht von einem solchen Test erfasst werden können, ändert dies nichts daran, dass das Ergebnis eines derartigen Tests gleichwohl ein Indiz für die Auswirkungen einiger dieser Praktiken sein und somit relevant sein kann, um zu ermitteln, ob bestimmte Einstufungen in Bezug auf die in Rede stehenden Praktiken vorgenommen werden können.

62        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Wettbewerbsbehörde bei Vorliegen von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen verpflichtet ist, für die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände und insbesondere unter Berücksichtigung der gegebenenfalls von dem Unternehmen in beherrschender Stellung vorgelegten wirtschaftlichen Analysen in Bezug auf die fehlende Eignung der in Rede stehenden Verhaltensweisen, Wettbewerber, die ebenso leistungsfähig sind wie es selbst, vom Markt zu verdrängen, nachzuweisen, dass diese Klauseln den Wettbewerb beschränken können. Die Anwendung des Tests des ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers ist fakultativ. Werden die Ergebnisse eines solchen Tests jedoch von dem betreffenden Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorgelegt, so ist die Wettbewerbsbehörde verpflichtet, deren Beweiswert zu prüfen.

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