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Wirtschaftsrecht
28.01.2021
Wirtschaftsrecht
EuGH: Missbräuchlche Klausel in Aktienleasingvertrag (hier: vorzeitige Festlegung eines möglichen Vorteils des Gläubigers im Fall der Vertragsbeendigung)

EuGH, Urteil vom 27.1.2021 – verb. Rs. C‑229/19 und C‑289/19, Dexia Nederland BV gegen XXX (C‑229/19), Z (C‑289/19)

ECLI:EU:C:2021:68

Volltext: BB-Online BBL2021-257-1

 unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Die Bestimmungen der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sind dahin auszulegen, dass eine Klausel, die in einem zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen aleatorischen Vertrag, wie beispielsweise Aktienleasingverträgen, enthalten ist, als missbräuchlich anzusehen ist, wenn unter Berücksichtigung der den Abschluss des betreffenden Vertrags begleitenden Umstände und ausgehend vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses festgestellt wird, dass diese Klausel im Laufe der Erfüllung dieses Vertrags ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursachen kann, und zwar auch dann, wenn dieses Missverhältnis nur unter bestimmten Umständen eintreten oder die Klausel unter anderen Umständen sogar dem Verbraucher zugutekommen könnte. Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine Klausel, die im Voraus den Vorteil festlegt, den der Gewerbetreibende im Fall einer vorzeitigen Vertragsauflösung genießt, angesichts der den Vertragsschluss begleitenden Umstände bereits ab Abschluss dieses Vertrags geeignet war, ein solches Missverhältnis zu schaffen.

2. Die Bestimmungen der Richtlinie 93/13 sind dahin auszulegen, dass ein Gewerbetreibender, der als Verkäufer einem Verbraucher eine Klausel auferlegt hat, die vom nationalen Gericht für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, wenn der Vertrag ohne diese Klausel fortbestehen kann, keinen Anspruch auf die Entschädigung hat, die in einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts vorgesehen ist, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre.

Aus diesen Gründen

1          Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2          Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen der Dexia Nederland BV (im Folgenden: Dexia) und Verbrauchern wegen deren Weigerung, die von dieser Gesellschaft im Anschluss an die Kündigung von Aktienleasingverträgen zwischen diesen Verbrauchern und einer Rechtsvorgängerin von Dexia erstellten Schlussabrechnungen zu zahlen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 lautet:

„Bei Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, in denen direkt oder indirekt die Klauseln für Verbraucherverträge festgelegt werden, wird davon ausgegangen, dass sie keine missbräuchlichen Klauseln enthalten. Daher sind Klauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Grundsätzen oder Bestimmungen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die [Europäische Union] Vertragsparteien sind, nicht dieser Richtlinie zu unterwerfen; der Begriff ‚bindende Rechtsvorschriften‘ in Artikel 1 Absatz 2 umfasst auch Regeln, die nach dem Gesetz zwischen den Vertragsparteien gelten, wenn nichts anderes vereinbart wurde.“

4          Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.

(2) Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Bestimmungen oder Grundsätzen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die [Union] – insbesondere im Verkehrsbereich – Vertragsparteien sind, unterliegen nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie.“

5          Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1) Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

(3) Der Anhang enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“

6          Zu den in diesem Anhang aufgeführten Klauseln gehören u. a. Klauseln in Nr. 1 Buchst. e dieses Anhangs, die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass „dem Verbraucher, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, ein unverhältnismäßig hoher Entschädigungsbetrag auferlegt wird“.

7          In Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie wird klargestellt:

„Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.“

8          Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

9          Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Nationales Recht

10        Art. 6:271 des Burgerlijk Wetboek (Bürgerliches Gesetzbuch) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: BW) bestimmt:

„Die Auflösung eines Vertrags entbindet die Parteien von den in diesem Vertrag eingegangenen Verpflichtungen. Soweit diese Verpflichtungen bereits erfüllt sind, bleibt die Rechtsgrundlage für die Einhaltung dieser Verpflichtungen bestehen; für die Parteien entsteht jedoch eine Pflicht zur Rückgewähr oder Erstattung der bereits empfangenen Leistungen.“

11        Art. 6:277 BW bestimmt:

„(1) Wird ein Vertrag ganz oder teilweise aufgelöst, hat die Partei, deren Vertragsverletzung einen Auflösungsgrund darstellte, der anderen Partei den Schaden zu ersetzen, der dieser dadurch entsteht, dass der Vertrag nicht von beiden Parteien erfüllt, sondern aufgelöst wird.

…“

12        Art. 7A:1576e BW sieht vor:

„(1) Der Käufer ist stets berechtigt, eine oder mehrere der fällig werdenden Raten des Kaufpreises vorzeitig zu zahlen.

(2) Bei einer Einmalzahlung des gesamten ausstehenden Restbetrags hat er Anspruch auf einen Abzug in Höhe von 5 % pro Jahr auf jede der vorzeitig gezahlten Raten.

(3) Die Vertragsparteien können zugunsten des Käufers von den Bestimmungen dieses Artikels abweichen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13        Den Ausgangsrechtsstreitigkeiten liegt die Weigerung von XXX und Z zugrunde, die Restbeträge zu zahlen, die in den von Dexia erstellten Schlussabrechnungen ausgewiesen wurden, nachdem die zwischen ihnen und der Rechtsvorgängerin von Dexia geschlossenen Aktienleasingverträge wegen Rückständen bei der Zahlung der Dexia geschuldeten Monatsraten aufgelöst worden waren.

14        Im Rahmen dieser Art von Verträgen nimmt der Leasingnehmer, in der Regel ein Verbraucher, von einer Bank für einen bestimmten Zeitraum ein Darlehen über einen als „Hauptsumme“ bezeichneten Geldbetrag, mit dem diese Bank Aktien für Rechnung und zugunsten des Leasingnehmers erwirbt. Die Bank bleibt bis zur vollständigen Rückzahlung des auf diese Weise aufgenommenen Betrags Eigentümerin dieser Aktien, aber etwaige Dividenden werden an den Leasingnehmer ausgezahlt. Während der gesamten Dauer des Leasingvertrags zahlt der Leasingnehmer eine monatliche Rate entsprechend den auf die Hauptsumme zu entrichtenden Zinsen, in einigen Fällen auch zur Tilgung. Am Ende der Laufzeit werden die Aktien veräußert, und der Leasingnehmer erhält den Ertrag aus der Veräußerung dieser Aktien abzüglich des Restbetrags der Hauptsumme und gegebenenfalls der Bank noch geschuldeter Monatsraten.

15        Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass Dexia die Leasingverträge wegen verspäteter Zahlungen gemäß den Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge vorzeitig beendete. Bei der Beendigung dieser Verträge erstellte Dexia die Schlussabrechnungen gemäß den Art. 6 und 15 dieser Besonderen Bedingungen. Diese beiden Artikel sehen vor:

„6. Wenn (a) der Leasingnehmer nach schriftlicher Mahnung mit der Zahlung einer oder mehrerer monatlicher Raten oder der Erfüllung einer anderen Verpflichtung aus dem Vertrag oder einem anderen, dem vorliegendem Vertrag ähnlichen Leasingvertrag in Verzug bleibt oder (b) der Leasingnehmer einen Zahlungsaufschub beantragt oder für insolvent erklärt wird, ist die Bank berechtigt, den Vertrag und alle anderen ähnlichen Leasingverträge sofort zu beenden und den offenen Restbetrag der vereinbarten Gesamtleasingsumme(n) aus allen laufenden, dem vorliegendem Vertrag ähnlichen Leasingverträgen insgesamt zu fordern und die Wertpapiere zu einem von der Bank zu bestimmenden Zeitpunkt an der Börse oder auf andere Weise zu verkaufen. Die Bank wird den Ertrag aus diesem Verkauf von dem Betrag in Abzug bringen, den der Leasingnehmer ihr schuldet. Ein etwaiges Guthaben wird die Bank dem Leasingnehmer anschließend auszahlen.

15. … Im Fall der Auflösung des Vertrags setzt sich der Anspruch des Leasingnehmers zusammen aus einem Betrag in Höhe des Verkaufswerts der Wertpapiere zum Zeitpunkt der Auflösung abzüglich eines Betrags in Höhe des Barwerts des offenen Restbetrags der vereinbarten Gesamtleasingsumme. Der Barwert wird entsprechend der Regelung in Art. 7A:1576e Abs. 2 BW berechnet.“

16        Die vorlegenden Gerichte weisen darauf hin, dass sich der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) in jüngerer Zeit zur Vereinbarkeit dieser Klauseln mit der Richtlinie 93/13 geäußert und in einer Entscheidung vom 21. April 2017 (NL:HR:2017:773, Dexia/Tijhuis) festgestellt habe, dass Art. 6 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner zum Nachteil des Verbrauchers schaffe.

17        Darüber hinaus ergibt sich aus den Vorlageentscheidungen, dass nach Ansicht des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) bei der Methode zur Berechnung der Höhe des Betrags, den Dexia nach Art. 6 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge beanspruchen könne, der Vorteil, den Dexia aus der Beendigung ziehe, nicht berücksichtigt werde, da der Betrag, den sie erhalte, wiederum verzinst sei, und die Tatsache, dass Dexia in Anwendung von Art. 15 der Besonderen Bedingungen von dem Betrag der noch fälligen Monatsraten einen Abzug von 5 % pro Jahr vornehme, diesen Vorteil nur zu einem sehr geringen Teil ausgleiche. Diese Berechnungsmethode habe nämlich zur Folge, dass der Gewinn, den Dexia durch vorzeitige Reinvestition der Mittel auf dem Kapitalmarkt erzielen könnte, auf 5 % pro Jahr festgesetzt wurde. Sollte der Marktsatz höher als 5 % sein, komme der Unterschied zwischen dem Pauschalsatz und dem tatsächlichen Marktzinssatz Dexia zugute. Der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) hebt hervor, dass der Vorteil, den Dexia aus einer vorzeitigen Beendigung des Vertrags ziehe, je nach dem Zinssatz und dem Zeitpunkt der Beendigung tatsächlich sehr groß sein könne.

18        Schließlich habe der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) festgestellt, dass Dexia im Fall der Nichtzahlung die Möglichkeit behalte, den Vertrag zu kündigen, und dann gemäß Art. 6:277 BW Schadensersatz beanspruchen könne.

Rechtssache C‑229/19

19        Im Jahr 1999 schloss XXX mit einer Rechtsvorgängerin von Dexia zwei Leasingverträge.

20        Am 6. Juni 2005 beendete Dexia die betreffenden Leasingverträge wegen Zahlungsverzugs, nachdem sie XXX zur Zahlung aufgefordert und in Verzug gesetzt hatte, vorzeitig und erstellte Schlussabrechnungen.

21        Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass Dexia die Schlussabrechnungen gemäß den Art. 6 und 15 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge erstellt und XXX den in diesen Abrechnungen enthaltenen Schuldsaldo in Rechnung gestellt hat.

22        XXX erhob Klage u. a. auf Feststellung, dass die beiden Leasingverträge als nichtig oder aufgelöst anzusehen seien, und auf Rückzahlung der an Dexia gezahlten Beträge. Dexia erhob Widerklage auf Verurteilung von XXX zur Zahlung eines Betrags in Höhe des aus den beiden Leasingverträgen noch geschuldeten Gesamtbetrags nebst Verzugszinsen.

23        Mit Urteil vom 19. November 2008 verurteilte der Kantonrechter (Kantonsrichter, Niederlande) Dexia zur Zahlung von 2 507,69 Euro je Leasingvertrag an XXX in Form einer Entschädigung zuzüglich der gesetzlichen Zinsen und wies die Widerklage von Dexia ab.

24        Beide Parteien in der Rechtssache C‑229/19 legten gegen dieses Urteil Berufung beim Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) ein. Dexia beantragt, die Klage von XXX abzuweisen und ihrer Widerklage stattzugeben. XXX begehrt eine höhere Entschädigung als die ihr im ersten Rechtszug gewährte.

25        In diesem Zusammenhang hebt der Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) hervor, dass er, da der bei ihm anhängige Rechtsstreit Verträge betreffe, die zwischen einem Finanzdienstleister und einem Verbraucher geschlossen worden seien, von Amts wegen prüfen müsse, ob eine Klausel der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge im Hinblick auf die in der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Kriterien missbräuchlich sei, und, falls ja, diese Klausel von Amts wegen für nichtig zu erklären habe. Nach dem in den Rn. 16 bis 18 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), in dem Art. 6 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge als missbräuchliche Klausel im Sinne der Richtlinie 93/13 angesehen wurde, hat der Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) jedoch Zweifel in Bezug auf die Anwendung dieser Kriterien.

26        Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑229/19 habe der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) lediglich abstrakt geprüft, ob eine Klausel im Hinblick auf das nationale Recht nachteilige Folgen für den Verbraucher haben könne, und sei zu dem Ergebnis gelangt, dass die bloße Möglichkeit des Vorliegens eines Nachteils für den Verbraucher ausreiche, um eine solche Klausel als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie 93/13 ansehen zu können.

27        Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sei jedoch insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei den Leasingverträgen um Dauerschuldverhältnisse handele, die für eine Dauer von bis zu 20 Jahren geschlossen worden seien, so dass beim Abschluss dieser Verträge grundsätzlich noch nicht feststehe, ob ein Finanzdienstleister wie Dexia im Fall einer vorzeitigen Beendigung einen Vorteil erlange. Das Ausmaß dieses Vorteils hänge nämlich von dem zum Zeitpunkt der vorzeitigen Beendigung des betreffenden Vertrags geltenden Zinssatz ab, zu dem der vorzeitig bezogene Betrag während der verbleibenden Laufzeit dieses Vertrags angelegt werden könne.

28        Im vorliegenden Fall lege Art. 15 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge den potenziellen Vorteil des Gläubigers im Fall der vorzeitigen Beendigung des Vertrags im Vorhinein auf 5 % des ausstehenden Teils des im Leasingvertrag vereinbarten Betrags während der verbleibenden Laufzeit des Vertrags fest. Daher sei zunächst zu prüfen, ob im Licht aller Umstände des Einzelfalls zum Zeitpunkt des Abschlusses der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge die Festlegung dieses potenziellen Vorteils von Dexia missbräuchlich sei oder nicht, z. B. durch einen Vergleich dieser Klausel mit denjenigen, die üblicherweise in ähnlichen Fällen von Ratengeschäften verwendet würden, oder aber mit dem Zinssatz, der im Rahmen von Gerichtsverfahren bei der Anpassung der Beträge bei Verträgen, die nach ihrem Kapitalvolumen und ihrer Laufzeit mit den in Rede stehenden Verträgen vergleichbar seien, angewandt werde.

29        Sodann sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen, ob der normal informierte und angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher bei Abschluss des betreffenden Vertrags sich damit hätte einverstanden erklären können, dass der Vorteil von Dexia im Falle einer vorzeitigen Vertragsbeendigung abweichend von den anwendbaren Rechtsvorschriften durch die Art. 6 und 15 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge festgelegt werde, wenn man die Expertise und die Sachkenntnisse dieser Bank in Bezug auf mögliche Zinsentwicklungen sowie den Umstand berücksichtigt, dass bei Anwendung der Bestimmungen des Art. 6:277 BW kein solcher Vorteil festgelegt worden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. März 2013, Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 68 und 69, sowie vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 57 und 58).

30        Im Übrigen stehe das in den Rn. 16 bis 18 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) im Widerspruch zum Urteil vom 7. August 2018, Banco Santander und Escobedo Cortés (C‑96/16 und C‑94/17, EU:C:2018:643). Der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) lege in seinem Urteil nämlich keine bestimmten Kriterien fest, anhand deren die nationalen Gerichte beurteilen könnten, ob Art. 6 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge missbräuchlich sei, und gehe vielmehr davon aus, dass diese Bestimmung in jedem Fall mit der Richtlinie 93/13 unvereinbar sei, da sie unter bestimmten während der Vertragslaufzeit auftretenden Umständen nachteilige Folgen für den Verbraucher haben könne.

31        Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑229/19, welche Konsequenzen aus einer Nichtigerklärung der Art. 6 und 15 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge zu ziehen sind. Zum einen bleibe der Aktienleasingvertrag für die Parteien auch nach der Nichtigerklärung dieser Artikel bindend, da er ohne sie bestehen könne. Zum anderen solle sich Dexia nicht auf die Bestimmungen des BW berufen können, die unter den Umständen des vorliegenden Falles für den Verbraucher noch nachteiliger seien.

32        Unter diesen Umständen hat der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass eine Klausel aus dem Blickwinkel der in dieser Richtlinie vorgesehenen Kriterien bereits als missbräuchlich anzusehen ist, wenn diese Klausel bei einer Beurteilung nach allen den Vertragsabschluss begleitenden Umständen die bloße Möglichkeit eines erheblichen und ungerechtfertigten Missverhältnisses, abhängig von den während der Vertragslaufzeit auftretenden Umständen, in sich birgt, insbesondere weil die Klausel für einen möglichen Vorteil, der zum Zeitpunkt der vorzeitigen Vertragsbeendigung für den Gewerbetreibenden entsteht, im Voraus einen bestimmten Prozentsatz der verbliebenen Leasingsumme festlegt, abweichend von den anwendbaren Vorschriften des nationalen Rechts, wonach dieser Vorteil nicht im Voraus festgelegt ist, sondern anhand der die Vertragsbeendigung begleitenden Umstände, insbesondere der Höhe des Zinssatzes, zu dem ein vorzeitig erhaltener Betrag während der verbliebenen Laufzeit angelegt werden kann, zu ermitteln ist?

Rechtssache C‑289/19

33        Am 17. März 2000 unterzeichnete Z als Leasingnehmerin zwei Aktienleasingverträge mit einer Gesellschaft, deren Rechtsnachfolgerin Dexia ist.

34        Im Laufe des Jahres 2006 beendete Dexia die mit Z geschlossenen Aktienleasingverträge wegen eines Zahlungsverzugs vorzeitig und erstellte gemäß den Art. 6 und 15 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge Schlussabrechnungen, auf denen die Schuldsalden ausgewiesen waren, deren Zahlung Z verweigert hat.

35        Außerdem ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass Dexia im Laufe des Rechtsstreits zwischen Dexia und Z anerkannt hat, dass die sich aus diesen Verträgen ergebenden Zahlungspflichten angesichts der finanziellen Lage von Z eine übermäßig hohe finanzielle Belastung für den Betroffenen darstellten und dass sie ihm daher gemäß der nationalen Rechtsprechung zu den Folgen der Nichterfüllung der Sorgfaltspflichten einer Bank Schadensersatz zahlen müsse. Nach Ansicht von Dexia setzte sich nach dieser Rechtsprechung dieser Schadensersatz aus zwei Dritteln der bereits gezahlten Monatsraten abzüglich der bereits gezahlten Dividenden und zwei Dritteln der Restschuld zusammen, doch stehe ihr noch ein Drittel der noch nicht beglichenen Raten zu.

36        Mit Urteil vom 21. Mai 2013 verurteilte der Kantonrechter (Kantonsrichter) Dexia auf Widerklage von Z zur Zahlung von 18 804,60 Euro an diesen. Dexia legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑289/19 ein.

37        Mit Urteil vom 29. November 2016 setzte das vorlegende Gericht das Verfahren bis zur Entscheidung des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) in der Rechtssache, in der das in den Rn. 16 bis 18 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil ergangen ist, aus.

38        In Anbetracht der Antworten des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) stritten Z und Dexia nunmehr vor dem vorlegenden Gericht über die Frage, ob Dexia, da sie sich nicht auf Art. 6 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge berufen könne, gleichwohl nach den Bestimmungen der anwendbaren nationalen Regelung eine Entschädigung beanspruchen könne.

39        Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Frage, ob das nationale Gericht eine missbräuchliche Klausel durch eine dispositive Vorschrift des innerstaatlichen Rechts ersetzen könne, bereits in den Schlussanträgen von Generalanwalt Wahl in den verbundenen Rechtssachen Banco Santander und Escobedo Cortés (C‑96/16 und C‑94/17, EU:C:2018:216) angesprochen worden sei, in denen festgestellt worden sei, dass diese Möglichkeit auf die Fälle beschränkt werden müsse, in denen die Ungültigerklärung einer missbräuchlichen Klausel das Gericht verpflichten würde, den Vertrag insgesamt für nichtig zu erklären, wodurch der Verbraucher Konsequenzen ausgesetzt würde, die derart wären, dass er dadurch bestraft würde. Da der Gerichtshof jedoch in diesen verbundenen Rechtssachen die Auffassung vertreten habe, dass die Frage zu diesem Punkt nicht zu beantworten sei, bedürfe es nach wie vor einer Klärung.

40        Unter diesen Umständen hat der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Kann der Verwender einer für nichtig erklärten missbräuchlichen Klausel, die die Zahlung einer Entschädigung für den Fall regelte, dass der Verbraucher seinen Pflichten nicht nachkommt, den im Rahmen des dispositiven Rechts geltenden gesetzlichen Schadensersatz beanspruchen?

2. Ist es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, ob die Entschädigung, die bei Anwendung der gesetzlichen Schadensersatzregelung beansprucht werden kann, der in der für nichtig erklärten Klausel vorgesehenen Entschädigung entspricht bzw. geringer oder höher ist als diese?

Vorlagefragen

Zur Vorlagefrage in der Rechtssache C‑229/19

41        Mit seiner Vorlagefrage möchte der Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) im Wesentlichen wissen, ob nach den Bestimmungen der Richtlinie 93/13 in einem aleatorischen Vertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktienleasingverträgen eine Klausel, die im Voraus den Vorteil festlegt, den der Gewerbetreibende im Fall einer vorzeitigen Vertragsbeendigung genießt, allein deshalb als missbräuchlich anzusehen ist, weil diese Klausel bei einer Beurteilung ausschließlich nach Umständen, die den Abschluss des betreffenden Vertrags begleiten, im Laufe der Erfüllung dieses Vertrags ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursachen kann.

42        Im vorliegenden Fall ergibt sich, wie in Rn. 15 des vorliegenden Urteils ausgeführt, aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass Dexia nach Art. 6 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge im Fall der vorzeitigen Beendigung dieser Verträge vom Zeitpunkt der Kündigung an Anspruch auf die bis zum Zeitpunkt der vorzeitigen Beendigung des betreffenden Vertrags geschuldeten Zinsen sowie auf die Hauptsumme und auf die Zinsen hat, die während des Zeitraums von dieser vorzeitigen Beendigung bis zum ursprünglich vereinbarten Vertragsende geschuldet worden wären. Art. 15 dieser Besonderen Bedingungen sieht eine Aktualisierung von 5 % pro Jahr für die Hauptsumme und die Zinsen vor, wodurch der Vorteil, den Dexia im Fall einer vorzeitigen Kündigung genießt, im Voraus festgelegt wird, da diese die Hauptsumme und die Zinsen schneller zurückerlangt und sie reinvestieren kann.

43        Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Frage des Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) auf der Annahme beruht, dass die Art. 6 und 15 der Besonderen Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge zusammengenommen auszulegen sind, während insoweit zwischen den Parteien keine Einigkeit besteht.

44        Hierzu genügt der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung allein das vorlegende Gericht für die Feststellung und die Würdigung des Sachverhalts des ihm vorliegenden Rechtsstreits und für die Auslegung und Anwendung des einzelstaatlichen Rechts zuständig ist (Urteil vom 8. Juni 2016, Hünnebeck, C‑479/14, EU:C:2016:412, Rn. 36). Der Gerichtshof hat im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen ihm und den nationalen Gerichten den Sachverhalt und die Rechtslage zu berücksichtigen, in die sich die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen einfügen (Urteil vom 6. Dezember 2018, Preindl, C‑675/17, EU:C:2018:990, Rn. 24).

45        Außerdem erstreckt sich nach ständiger Rechtsprechung die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Auslegung des Begriffs „missbräuchliche Klausel“ in Art. 3 Abs. 1 und im Anhang der Richtlinie 93/13 sowie auf die Kriterien, die das nationale Gericht bei der Prüfung einer Vertragsklausel im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Richtlinie anwenden darf oder muss, wobei es Sache des nationalen Gerichts ist, unter Berücksichtigung dieser Kriterien über die konkrete Bewertung einer bestimmten Vertragsklausel anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Infolgedessen muss sich der Gerichtshof darauf beschränken, dem vorlegenden Gericht Hinweise an die Hand zu geben, die dieses bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klausel zu beachten hat (Urteil vom 3. September 2020, Profi Credit Polska, C‑84/19, C‑222/19 und C‑252/19, EU:C:2020:631, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46        Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 ist eine Klausel als „missbräuchlich“ anzusehen, wenn sie zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der sich aus dem Vertrag zwischen dem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden ergebenden Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

47        Mit der Bezugnahme auf die Begriffe von Treu und Glauben und des erheblichen und ungerechtfertigten Missverhältnisses zum Nachteil des Verbrauchers zwischen den Rechten und Pflichten der Vertragspartner definiert Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 nur abstrakt die Faktoren, die einer nicht im Einzelnen ausgehandelten Vertragsklausel missbräuchlichen Charakter verleihen (Urteil vom 14. März 2013, Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48        So hat der Gerichtshof entschieden, dass für die Feststellung, ob eine Klausel ein „erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis“ der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner zulasten des Verbrauchers verursacht, insbesondere diejenigen Bestimmungen zu berücksichtigen sind, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien keine Vereinbarung in diesem Sinne getroffen haben. Anhand einer solchen vergleichenden Betrachtung kann das nationale Gericht bewerten, ob – und gegebenenfalls inwieweit – der Vertrag für den Verbraucher eine weniger günstige Rechtslage schafft, als sie das geltende nationale Recht vorsieht. Hierbei ist außerdem von Bedeutung, dass die Rechtslage des Verbrauchers vor dem Hintergrund der Mittel untersucht wird, die ihm das nationale Recht zur Verfügung stellt, um der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende zu setzen (Urteil vom 26. Januar 2017, Banco Primus, C‑421/14, EU:C:2017:60, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49        Ferner kann sich die Prüfung der Frage, ob ein „erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis“ vorliegt, nicht auf eine quantitative wirtschaftliche Bewertung beschränken, die auf einem Vergleich zwischen dem Gesamtbetrag des vertragsgegenständlichen Rechtsgeschäfts und den dem Verbraucher durch die betreffende Klausel auferlegten Kosten beruht. Ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis kann sich nämlich allein aus einer hinreichend schwerwiegenden Beeinträchtigung der rechtlichen Stellung ergeben, die der Verbraucher als Partei des betreffenden Vertrags nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften innehat, sei es in Gestalt einer inhaltlichen Beschränkung der Rechte, die er nach diesen Vorschriften aus dem Vertrag herleitet, einer Beeinträchtigung der Ausübung dieser Rechte oder der Auferlegung einer zusätzlichen, nach den nationalen Vorschriften nicht vorgesehenen Verpflichtung (Urteil vom 3. Oktober 2019, Kiss und CIB Bank, C‑621/17, EU:C:2019:820, Rn. 51).

50        Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass der Vertrag die konkrete Funktionsweise des Verfahrens, auf das die betreffende Klausel Bezug nimmt, und gegebenenfalls das Verhältnis zwischen diesem und dem durch andere Klauseln vorgeschriebenen Verfahren in transparenter Weise darstellen muss, damit der betroffene Verbraucher in der Lage ist, die sich für ihn daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51        Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 stellt klar, dass die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des betreffenden Vertrags sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrags oder eines anderen Vertrags, von dem die Klausel abhängt, beurteilt wird.

52        Aus dieser Bestimmung sowie aus Art. 3 dieser Richtlinie in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof ergibt sich, dass für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel auf den Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags abzustellen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2020, Ibercaja Banco, C‑452/18, EU:C:2020:536, Rn. 48).

53        Die in diesem Art. 4 Abs. 1 genannten Umstände sind nämlich nach ständiger Rechtsprechung die, von denen der Gewerbetreibende zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Kenntnis haben konnte und die die spätere Erfüllung des Vertrags beeinflussen, da eine Vertragsklausel ein Missverhältnis zwischen den sich aus dem Vertrag ergebenden Rechten und Pflichten der Parteien bewirken kann, das sich erst im Laufe der Vertragserfüllung herausstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 54, vom 5. Juni 2019, GT, C‑38/17, EU:C:2019:461, Rn. 40, sowie vom 9. Juli 2020, Ibercaja Banco, C‑452/18, EU:C:2020:536, Rn. 48).

54        Somit ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass das nationale Gericht nach der Richtlinie 93/13 bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel ausschließlich auf den Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags abstellen und anhand aller diesen Abschluss begleitenden Umstände beurteilen muss, ob diese Klausel als solche zu einem Missverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien zugunsten des Gewerbetreibenden geführt hat. Eine solche Beurteilung kann zwar die Erfüllung des Vertrags berücksichtigen, sie kann jedoch keinesfalls vom Eintritt von Ereignissen abhängen, die nach Vertragsschluss eintreten und vom Willen der Parteien unabhängig sind.

55        Auch wenn somit unbestreitbar ist, dass sich das Missverhältnis im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in bestimmten Fällen erst während der Vertragserfüllung herausstellen kann, ist zu prüfen, ob die Klauseln des Vertrags vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses an zu diesem Missverhältnis geführt haben, und zwar auch dann, wenn dieses Missverhältnis nur unter bestimmten Umständen eintreten oder die Klausel unter anderen Umständen sogar dem Verbraucher zugutekommen könnte.

56        Zum einen liefe die gegenteilige Auffassung darauf hinaus, die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel von den Bedingungen, unter denen die Vertragserfüllung stattfindet, und etwaigen künftigen Entwicklungen der Umstände abhängig zu machen, die einen Einfluss auf den Vertrag haben, so dass die Gewerbetreibenden auf die Vertragserfüllung und diese Entwicklungen spekulieren und eine potenziell missbräuchliche Klausel aufnehmen könnten und dabei darauf setzen, dass diese Klausel unter bestimmten Umständen nicht als missbräuchlich eingestuft wird.

57        Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich sind und daher so zu betrachten sind, als hätte es sie nie gegeben. Könnte die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel aber vom Eintritt von Ereignissen nach Vertragsabschluss abhängen, die unabhängig vom Willen der Parteien sind, könnte sich das nationale Gericht darauf beschränken, die Anwendung der streitigen Klausel nur für die Zeiträume auszuschließen, in denen die fragliche Klausel als missbräuchlich einzustufen ist.

58        Außerdem muss nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das nationale Gericht, um die etwaige Missbräuchlichkeit der Vertragsklausel, auf die der bei ihm gestellte Antrag gestützt ist, beurteilen zu können, alle anderen Klauseln des betreffenden Vertrags berücksichtigen (Urteil vom 10. September 2020, A [Untervermietung einer Sozialwohnung], C‑738/19, EU:C:2020:687, Rn. 25).

59        Ist der zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossene Vertrag seinem Wesen nach aleatorisch, wie dies bei den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktienleasingverträgen der Fall ist, muss das nationale Gericht daher auch prüfen, ob eine Klausel in Anbetracht des Zusammenspiels mit den anderen Vertragsbestimmungen nicht zu einer sehr ungleichen Verteilung der von den Vertragsparteien getragenen Risiken führt.

60        Nach alledem ist auf die in der Rechtssache C‑229/19 gestellte Frage zu antworten, dass die Bestimmungen der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass eine Klausel, die in einem zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen aleatorischen Vertrag, wie beispielsweise Aktienleasingverträgen, enthalten ist, als missbräuchlich anzusehen ist, wenn unter Berücksichtigung der den Abschluss des betreffenden Vertrags begleitenden Umstände und ausgehend vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses festgestellt wird, dass diese Klausel im Laufe der Erfüllung dieses Vertrags ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursachen kann, und zwar auch dann, wenn dieses Missverhältnis nur unter bestimmten Umständen eintreten oder die Klausel unter anderen Umständen sogar dem Verbraucher zugutekommen könnte. Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine Klausel, die im Voraus den Vorteil festlegt, den der Gewerbetreibende im Fall einer vorzeitigen Vertragsauflösung genießt, angesichts der den Vertragsschluss begleitenden Umstände bereits ab Abschluss dieses Vertrags geeignet war, ein solches Missverhältnis zu schaffen.

Zu den Vorlagefragen in der Rechtssache C‑289/19

61        Mit seinen beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) wissen, ob ein Gewerbetreibender, der als Verkäufer dem Verbraucher eine Klausel auferlegt hat, die vom nationalen Gericht für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, Anspruch auf die Entschädigung nach einer dispositiven Bestimmung des nationalen Rechts hat, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre.

62        Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es dem nationalen Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13, missbräuchliche Vertragsklauseln unangewendet zu lassen, damit sie den Verbraucher nicht binden, sofern der Verbraucher nicht widerspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der betreffende Vertrag muss indes – abgesehen von der Änderung, die sich aus der Aufhebung der missbräuchlichen Klauseln ergibt – grundsätzlich unverändert fortbestehen, soweit dies nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts rechtlich möglich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2019, GT, C‑38/17, EU:C:2019:461, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63        Wenn das nationale Gericht die Nichtigkeit einer missbräuchlichen Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher feststellt, darf das nationale Gericht daher den Vertrag nicht durch Abänderung des Inhalts dieser Klausel anpassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64        Wie der Gerichtshof festgestellt hat, könnte nämlich, wenn es dem nationalen Gericht freistünde, den Inhalt der missbräuchlichen Klauseln in einem solchen Vertrag abzuändern, eine derartige Befugnis die Verwirklichung des langfristigen Ziels gefährden, das mit Art. 7 der Richtlinie 93/13 verfolgt wird. Diese Befugnis trüge dazu bei, den Abschreckungseffekt zu beseitigen, der für die Gewerbetreibenden darin besteht, dass diese missbräuchlichen Klauseln gegenüber dem Verbraucher schlicht unangewendet bleiben, da diese nämlich versucht blieben, die betreffenden Klauseln zu verwenden, wenn sie wüssten, dass, selbst wenn die Klauseln für unwirksam erklärt werden sollten, der Vertrag gleichwohl im erforderlichen Umfang vom nationalen Gericht angepasst werden könnte, so dass das Interesse der Gewerbetreibenden auf diese Art und Weise gewahrt würde (Urteile vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 69, vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai, C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 79, vom 26. März 2019, Abanca Corporación Bancaria und Bankia, C‑70/17 und C‑179/17, EU:C:2019:250, Rn. 54, sowie vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 60).

65        Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktienleasingverträge ohne die missbräuchliche Klausel fortbestehen können.

66        Hierzu ist festzustellen, dass nach der in den Rn. 62 bis 64 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung das nationale Gericht in einem Fall wie dem der Rechtssache C‑289/19 gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 nicht befugt ist, die missbräuchliche Klausel durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts zu ersetzen, wenn die Ungültigerklärung der missbräuchlichen Klausel das Gericht nicht zwingen würde, den Vertrag insgesamt für nichtig zu erklären, was für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass er dadurch geschädigt würde.

67        Nach alledem ist auf die in der Rechtssache C‑289/19 vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Bestimmungen der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass ein Gewerbetreibender, der als Verkäufer einem Verbraucher eine Klausel auferlegt hat, die vom nationalen Gericht für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, wenn der Vertrag ohne diese Klausel fortbestehen kann, keinen Anspruch auf die Entschädigung hat, die in einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts vorgesehen ist, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre.

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