EuGH: Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren im Falle der Markenfälschung kann unverhältnismäßig sein
EuGH, Urteil vom 19.10.2023 – C-655/21, G. ST. T.
ECLI:EU:C:2023:791
Volltext: BB-Online BBL2023-2497-1
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Tenor
1. Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts vorsieht, dass ein und dasselbe Verhalten sowohl als Ordnungswidrigkeit als auch als Straftat eingestuft werden kann, ohne Kriterien zu enthalten, anhand deren sich die Ordnungswidrigkeit von der Straftat abgrenzen lässt, wobei der Tatbestand im Strafgesetzbuch und im Markengesetz einen ähnlichen, ja sogar identischen Wortlaut hat.
2. Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die im Fall der wiederholten oder mit schwerwiegenden schädigenden Folgen einhergehenden Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts eine Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren vorsieht.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45) und Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen G. ST. T. wegen Markenfälschung.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS), das Anhang 1 C zum Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) (im Folgenden: WTO-Übereinkommen), unterzeichnet in Marrakesch am 15. April 1994 und genehmigt durch den Beschluss 94/800/EG vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994 L 336, S. 1), bildet, enthält einen Teil III („Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“).
4 Art. 61 in diesem Teil III Abschnitt 5 („Strafverfahren“) des TRIPS-Übereinkommens bestimmt:
„Die Mitglieder sehen Strafverfahren und Strafen vor, die zumindest bei vorsätzlicher Nachahmung von Markenwaren oder vorsätzlicher unerlaubter Herstellung urheberrechtlich geschützter Waren in gewerbsmäßigem Umfang Anwendung finden. Die vorgesehenen Sanktionen umfassen zur Abschreckung ausreichende Haft- und/oder Geldstrafen entsprechend dem Strafmaß, das auf entsprechend schwere Straftaten anwendbar ist. In geeigneten Fällen umfassen die vorzusehenden Sanktionen auch die Beschlagnahme, die Einziehung und die Vernichtung der rechtsverletzenden Waren und allen Materials und aller Werkzeuge, die überwiegend dazu verwendet wurden, die Straftat zu begehen. Die Mitglieder können Strafverfahren und Strafen für andere Fälle der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums vorsehen, insbesondere wenn die Handlungen vorsätzlich und in gewerbsmäßigem Umfang begangen werden.“
Unionsrecht
5 Im 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48 heißt es:
„Zusätzlich zu den zivil- und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfen, die in dieser Richtlinie vorgesehen sind, stellen in geeigneten Fällen auch strafrechtliche Sanktionen ein Mittel zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums dar.“
6 Gemäß ihrem Art. 1 („Gegenstand“) betrifft diese Richtlinie „die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen“.
7 In Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Unbeschadet etwaiger Instrumente in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten, die für die Rechtsinhaber günstiger sind, finden die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe gemäß Artikel 3 auf jede Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, die im Gemeinschaftsrecht und/oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, Anwendung.
(2) Diese Richtlinie gilt unbeschadet der besonderen Bestimmungen zur Gewährleistung der Rechte und Ausnahmen, die in der Gemeinschaftsgesetzgebung auf dem Gebiet des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte vorgesehen sind, namentlich in der Richtlinie 91/250/EWG [des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (ABl. 1991, L 122, S. 42)], insbesondere in Artikel 7, und der Richtlinie 2001/29/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10)], insbesondere in den Artikeln 2 bis 6 und Artikel 8.
(3) Diese Richtlinie berührt nicht:
…
b) die sich aus internationalen Übereinkünften für die Mitgliedstaaten ergebenden Verpflichtungen, insbesondere solche aus dem TRIPS-Übereinkommen, einschließlich solcher betreffend strafrechtliche Verfahren und Strafen;
c) innerstaatliche Vorschriften der Mitgliedstaaten betreffend strafrechtliche Verfahren und Strafen bei Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums.“
8 Art. 13 („Schadensersatz“) der Richtlinie 2004/48 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte auf Antrag der geschädigten Partei anordnen, dass der Verletzer, der wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass er eine Verletzungshandlung vornahm, dem Rechtsinhaber zum Ausgleich des von diesem wegen der Rechtsverletzung erlittenen tatsächlichen Schadens angemessenen Schadensersatz zu leisten hat.
Bei der Festsetzung des Schadensersatzes verfahren die Gerichte wie folgt:
a) Sie berücksichtigen alle in Frage kommenden Aspekte, wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, einschließlich der Gewinneinbußen für die geschädigte Partei und der zu Unrecht erzielten Gewinne des Verletzers, sowie in geeigneten Fällen auch andere als die rein wirtschaftlichen Faktoren, wie den immateriellen Schaden für den Rechtsinhaber,
oder
b) sie können stattdessen in geeigneten Fällen den Schadensersatz als Pauschalbetrag festsetzen, und zwar auf der Grundlage von Faktoren wie mindestens dem Betrag der Vergütung oder Gebühr, die der Verletzer hätte entrichten müssen, wenn er die Erlaubnis zur Nutzung des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums eingeholt hätte.
(2) Für Fälle, in denen der Verletzer eine Verletzungshandlung vorgenommen hat, ohne dass er dies wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, können die Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, dass die Gerichte die Herausgabe der Gewinne oder die Zahlung von Schadensersatz anordnen, dessen Höhe im Voraus festgesetzt werden kann.“
9 In Art. 16 („Sanktionen der Mitgliedstaaten“) der Richtlinie heißt es:
„Unbeschadet der in dieser Richtlinie vorgesehenen zivil- und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe können die Mitgliedstaaten in Fällen von Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums andere angemessene Sanktionen vorsehen.“
Bulgarisches Recht
Strafgesetzbuch
10 Art. 172b des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Strafgesetzbuch) bestimmt:
„(1) Wer im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts eine Marke … benutzt …, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren und mit Geldstrafe bis zu fünftausend bulgarischen Leva (BGN) bestraft.
(2) Wenn die in Abs. 1 genannte Tat wiederholt erfolgt oder schwerwiegende schädigende Folgen verursacht werden, wird dies mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu acht Jahren und einer Geldstrafe von fünftausend bis zu achttausend BGN geahndet.
(3) Der Gegenstand der Straftat wird unabhängig davon, in wessen Eigentum er steht, eingezogen und vernichtet.“
ZMGO alt und ZMGO neu
11 Art. 13 des Zakon za markite i geografskite oznachenia (Gesetz über die Marken und die geografischen Bezeichnungen) (DV Nr. 81 vom 14. September 1999) in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZMGO alt) sah vor:
„(1) Das Recht an einer Marke umfasst das Recht des Inhabers der Marke, sie zu benutzen, darüber zu verfügen und Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr ein Zeichen zu benutzen,
1. das mit der Marke für Waren oder Dienstleistungen identisch ist, die mit denjenigen identisch sind, für die sie eingetragen ist;
2. bei dem wegen seiner Identität oder Ähnlichkeit mit der Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen der Marke und des Zeichens eine Wahrscheinlichkeit der Verwechslung für die Verbraucher, einschließlich der Möglichkeit, dass das Zeichen mit der Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird, besteht.
3. das mit der Marke für Waren oder Dienstleistungen identisch oder ihr ähnlich ist, die nicht mit denen identisch oder denen ähnlich sind, für die die Marke eingetragen ist, wenn die ältere Marke im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien bekannt ist und die ohne Grundlage erfolgende Benutzung des Zeichens zur unlauteren Ausnützung der Unterscheidungskraft oder der Wertschätzung der älteren Marke führen oder diese beeinträchtigen würde.
(2) Die Benutzung im geschäftlichen Verkehr im Sinne von Abs. 1 besteht darin,
1. das Zeichen auf Waren oder deren Verpackung anzubringen;
2. mit diesem Zeichen Waren anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen oder unter diesem Zeichen Dienstleistungen anzubieten oder zu erbringen;
3. Waren mit diesem Zeichen einzuführen oder auszuführen;
… “
12 Art. 76b („Sonderfälle des Schadensersatzes“) dieses Gesetzes sah vor:
„(1) Ist der Anspruch begründet, sind jedoch die Angaben zu seiner Höhe unzureichend, so kann der Kläger als Schadensersatz Folgendes verlangen:
1. von 500 BGN bis 100 000 BGN, wobei die Bestimmung der genauen Höhe dem Gericht unter den in Art. 76a Abs. 2 und 3 vorgesehenen Voraussetzungen überlassen bleibt, oder
2. das Äquivalent der Einzelhandelspreise von rechtmäßig hergestellten Waren, die mit den Waren, die Gegenstand der Rechtsverletzung waren, identisch oder ihnen ähnlich sind.
(2) Bei der Festsetzung des Schadensersatzes nach Absatz 1 werden auch die infolge der Rechtsverletzung erzielten Gewinne berücksichtigt.“
13 Art. 81 („Ordnungswidrigkeiten und ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktionen“) dieses Gesetzes bestimmte:
„(1) Wer ohne Zustimmung des Inhabers im geschäftlichen Verkehr im Sinne des Art. 13 Waren oder Dienstleistungen benutzt, auf denen ein mit einer eingetragenen Marke identisches oder ihr ähnliches Zeichen angebracht ist, wird mit einem Bußgeld von 500 bis 1 500 BGN und, wenn es sich um Einzelunternehmer und juristische Personen handelt, mit einem Bußgeld in Höhe von 1 000 BGN bis 3 000 BGN bestraft.
(2) Bei Wiederholung der Ordnungswidrigkeit im Sinne von Abs. 1 wird gegen die Person ein Bußgeld von 1500 bis 3 000 BGN und gegen Einzelunternehmer und juristische Personen ein Bußgeld in Höhe von 3 000 bis 5 000 BGN verhängt.
(3) Wiederholt ist eine Ordnungswidrigkeit dann, wenn sie innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Bußgeldbescheids begangen wird, mit der gegen den Täter eine ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktion für dieselbe Art von Ordnungswidrigkeit verhängt wurde.
…
(5) Die in Absatz 1 genannten Waren werden unabhängig davon, wer ihr Eigentümer ist, zugunsten des Staates eingezogen und zur Vernichtung übergeben, wobei der Markeninhaber oder eine von ihm ermächtigte Person bei der Vernichtung anwesend sein kann.
…“
14 Das ZMGO alt wurde aufgehoben und durch das Zakon za markite i geografskite oznachenia (Gesetz über die Marken und die geografischen Bezeichnungen, DV Nr. 98 vom 13. Dezember 2019, im Folgenden: ZMGO neu) ersetzt. Art. 13 des ZMGO neu enthält denselben Wortlaut wie Art. 13 des aufgehobenen ZMGO alt.
15 Art. 127 („Ordnungswidrigkeiten und ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktionen“) Abs. 1 des ZMGO neu sieht vor:
„Wer ohne Zustimmung des Inhabers im geschäftlichen Verkehr im Sinne des Art. 13 Abs. 1 und 2 Waren oder Dienstleistungen benutzt, auf denen ein mit einer eingetragenen Marke identisches oder ihr ähnliches Zeichen angebracht ist, wird mit einem Bußgeld von 2 000 bis 10 000 BGN und, wenn es sich um Einzelunternehmer und juristische Personen handelt, mit einem Bußgeld in Höhe von 3 000 BGN bis 20 000 BGN bestraft.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16 G. ST. T. ist Eigentümerin eines Einzelunternehmens, das Bekleidung verkauft.
17 Im Jahr 2016 führten Bedienstete des bulgarischen Innenministeriums eine Kontrolle in einem von diesem Unternehmen in der Gemeinde Nesebar (Bulgarien) gemieteten Geschäftslokal durch und beschlagnahmte Waren, die dort zum Kauf angeboten wurden. Dem angeordneten gerichtlichen Gutachten zufolge waren die auf diesen Waren angebrachten Zeichen eingetragenen Marken ähnlich; der Gesamtwert dieser Waren wurde darin auf 1 404 590 BGN (etwa 718 000 Euro) „für Originale“ und auf 80 201 BGN (etwa 41 000 Euro) „für Nachahmungen“ geschätzt.
18 Die Rayonna prokuratura Burgas, TO Nesebar (Rayonstaatsanwaltschaft Burgas, Territorialeinheit Nesebar, Bulgarien) war der Ansicht, dass G. ST. T. somit ohne die Zustimmung der Inhaber der ausschließlichen Rechte im geschäftlichen Verkehr Marken, die Gegenstand dieser ausschließlichen Rechte seien, benutzt habe und dass diese Tätigkeit zu „schwerwiegenden schädigenden Folgen“ geführt habe, so dass die Betroffene wegen der Straftat der schweren Markenfälschung gemäß Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vor den Rayonen sad – Nesebar (Rayongericht Nesebar, Bulgarien), das vorlegende Gericht, gestellt wurde.
19 Keine der geschädigten juristischen Personen erhob Schadensersatzansprüche gegen G. ST. T. oder trat im Rahmen dieses Verfahrens als Nebenklägerin auf.
20 Das vorlegende Gericht führt im Wesentlichen aus, dass die Republik Bulgarien im Rahmen der den Mitgliedstaaten nach dem 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48 zustehenden Möglichkeit, strafrechtliche Sanktionen für die Verletzung der Rechte des geistigen Eigentums vorzusehen, Art. 172b Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs eingeführt habe. Diese Bestimmung stuft in ihrem Abs. 1 die Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts als Straftat ein und stellt in ihrem Abs. 2 auf den Fall ab, dass diese Tat wiederholt begangen wurde oder „schwerwiegende schädigende Folgen“ verursacht hat. Bulgarien habe in Art. 81 Abs. 1 des ZMGO alt, inzwischen ersetzt durch Art. 127 Abs. 1 des ZMGO neu, auch eine Ordnungswidrigkeit eingeführt, mit der dieselben Handlungen geahndet werden sollten.
21 Erstens fragt sich das vorlegende Gericht, ob eine nationale Bestimmung wie Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, nach der die Schäden des Markeninhabers zu den Tatbestandsmerkmalen der mit ihr eingeführten Straftat gehören, mit den durch die Richtlinie 2004/48 eingeführten Vorschriften über Schäden, die durch die rechtswidrige Ausübung von Rechten des geistigen Eigentums verursacht worden sind, im Einklang steht, und, wenn ja, ob die von der bulgarischen Rechtsprechung eingeführte Regelung zur Bezifferung der Schäden, die auf einer Vermutung beruht, nämlich dem Wert der zum Verkauf angebotenen Waren, berechnet auf Basis der Einzelhandelspreise rechtmäßig hergestellter Waren, mit diesen Vorschriften im Einklang steht.
22 Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen voraussetze, dass eine Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, klar die Grenzen des eine Straftat darstellenden Verhaltens festlege und insbesondere die Tatbestandsmerkmale der in Rede stehenden Straftat definiere. Im bulgarischen Recht gebe es aber Vorschriften, die ein und dasselbe Verhalten, nämlich die Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts, einmal als Ordnungswidrigkeit (Art. 81 Abs. 1 ZMGO alt und Art. 127 Abs. 1 ZMGO neu) und einmal als Straftat (Art. 172b Strafgesetzbuch) definierten. Diese Rechtsvorschriften enthielten jedoch kein Unterscheidungskriterium für die Einstufung als Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Das Fehlen eines klaren und genauen Kriteriums führe zu einander widersprechenden Praktiken und zu einer Ungleichbehandlung von Einzelnen, die praktisch die gleichen Handlungen begangen hätten.
23 Drittens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechtsvorschriften wie den bulgarischen im Hinblick auf die Schwere der Sanktionen zur Ahndung der in Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs genannten Straftat, nämlich einer hohen Freiheitsstrafe, gekoppelt mit einer schweren Geldstrafe, entgegenstehen. Das vorlegende Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Möglichkeiten der Herabsetzung der Strafe und der Aussetzung der Vollstreckung beschränkt seien und dass diese Strafen mit der Einziehung und Vernichtung der gefälschten Waren einhergingen.
24 Unter diesen Umständen hat der Rayonen sad – Nesebar (Rayongericht Nesebar) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stehen die Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung, wonach die vom Rechtsinhaber erlittenen Schäden Tatbestandsmerkmale der Straftaten nach Art. 172b Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs sind, mit den durch die Richtlinie 2004/48 eingeführten Normen hinsichtlich der durch unrechtmäßige Ausübung von Rechten des geistigen Eigentums verursachten Schäden in Einklang?
2. Falls die erste Frage bejaht wird: Steht die durch die Rechtsprechung in der Republik Bulgarien eingeführte automatische Vermutung für die Feststellung der Schäden – in Höhe des Werts der zum Verkauf angebotenen Waren, berechnet auf Basis der Einzelhandelspreise rechtmäßig hergestellter Waren – mit den Normen der Richtlinie 2004/48 in Einklang?
3. Sind mit dem in Art. 49 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen Rechtsvorschriften vereinbar, in denen eine Abgrenzung zwischen einer Ordnungswidrigkeit (Art. 127 Abs. 1 des ZMGO neu und Art. 81 Abs. 1 des ZMGO alt), der Straftat nach Art. 172b Abs. 1 NK und, falls die erste Frage verneint wird, der Straftat nach Art. 172b Abs. 2 NK fehlt?
4. Stehen die in Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vorgesehenen Strafen (Freiheitsstrafe von fünf bis acht Jahren sowie Geldstrafe in Höhe von 5 000 bis 8 000 BGN) mit dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta aufgestellten Grundsatz (das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein) in Einklang?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
25 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften und einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Höhe des erlittenen Schadens zu den Tatbestandsmerkmalen der Straftat einer schweren Markenfälschung gehört. Für den Fall, dass diese Frage verneint wird, möchte es wissen, ob eine automatische Vermutung für die Feststellung der Schäden mit den in dieser Richtlinie festgelegten Normen vereinbar ist.
26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 der Richtlinie 2004/48, der deren Anwendungsbereich betrifft, in seinen Abs. 1 und 2 vorsieht, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe auf jede Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, die im Unionsrecht oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, Anwendung finden und dass diese Richtlinie unbeschadet der besonderen Bestimmungen zur Gewährleistung der Rechte und Ausnahmen, die in der Unionsgesetzgebung auf dem Gebiet des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte vorgesehen sind, gilt.
27 Allerdings wird in Art. 2 Abs. 3 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/48 hinzugefügt, dass diese Richtlinie weder die sich aus internationalen Übereinkünften für die Mitgliedstaaten ergebenden Verpflichtungen, insbesondere solche aus dem TRIPS-Übereinkommen, einschließlich solcher betreffend strafrechtliche Verfahren und Strafen, noch innerstaatliche Vorschriften der Mitgliedstaaten betreffend diese strafrechtlichen Verfahren und Strafen bei Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums berührt.
28 Außerdem stellt Art. 16 dieser Richtlinie klar, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der in dieser Richtlinie vorgesehenen zivil- und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe in Fällen von Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums andere angemessene Sanktionen vorsehen können.
29 Schließlich heißt es im 28. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass zusätzlich zu den zivil- und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfen, die in dieser Richtlinie vorgesehen sind, in geeigneten Fällen auch strafrechtliche Sanktionen ein Mittel zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums darstellen.
30 Aus diesen Bestimmungen und diesem Erwägungsgrund geht hervor, dass die Richtlinie 2004/48 nicht die strafrechtlichen Verfahren und Strafen bei Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums regelt, den Mitgliedstaaten jedoch die Befugnis einräumt, Rechtsvorschriften nach innerstaatlichem Recht oder Völkerrecht zu erlassen, um Sanktionen, insbesondere strafrechtlicher Art, vorzusehen, die sie bei Verletzung dieser Rechte für geeignet erachten.
31 Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache des Gerichtshofs, die Umstände, unter denen er von dem innerstaatlichen Gericht angerufen wurde, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen. Insoweit hat der Gerichtshof regelmäßig hervorgehoben, dass das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen, und dass die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass es für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist. Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny u. a., [Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs – Ernennung], C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 59 bis 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Da die Richtlinie 2004/48 nicht auf nationale Vorschriften über strafrechtliche Verfahren und Strafen bei Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums anwendbar ist, ist die Auslegung dieser Richtlinie, um die das vorlegende Gericht mit seinen ersten beiden Fragen ersucht, für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens, das ein reines strafrechtliches Verfahren darstellt, nicht erforderlich.
33 Folglich sind die erste und die zweite Frage unzulässig.
Die dritte und die vierte Frage
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
34 Mit seiner dritten und seiner vierten Frage ersucht das vorlegende Gericht um die Auslegung von Art. 49 der Charta, um die Vereinbarkeit von Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs mit diesem zu prüfen.
35 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig ist, wenn die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende rechtliche Situation vom Unionsrecht erfasst wird. Insoweit ist es ständige Rechtsprechung, dass die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta als solche keine entsprechende Zuständigkeit begründen können (Urteil vom 24. Februar 2022, Viva Telecom Bulgaria, C‑257/20, EU:C:2022:125, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Die österreichische Regierung trägt vor, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der dritten und der vierten Frage nicht zuständig. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafbestimmungen stellten nämlich keine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar und könnten daher nicht anhand von Art. 49 der Charta beurteilt werden.
37 Dabei gelten gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta die Bestimmungen der Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Daher finden nach ständiger Rechtsprechung die in der Charta garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung, aber nicht außerhalb derselben (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 25 und 26).
38 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die sich aus einer von der Europäischen Union geschlossenen internationalen Übereinkunft, die ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil des Unionsrechts ist, ergebenden Verpflichtungen erfüllen, das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn [Hochschulausbildung], C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 69 und 213).
39 Das WTO-Übereinkommen, zu dem das TRIPS-Übereinkommen gehört, wurde von der Union geschlossen und ist somit ab seinem Inkrafttreten, d. h. ab dem 1. Januar 1995, fester Bestandteil des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2012, SCF, C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn [Hochschulausbildung], C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 69 bis 71).
40 Das TRIPS-Übereinkommen soll u. a. Verzerrungen des internationalen Handels dadurch verringern, dass es im Hoheitsgebiet aller WTO-Mitglieder einen wirksamen und angemessenen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums gewährleistet. Teil II dieses Übereinkommens trägt zur Verwirklichung dieses Ziels bei, indem für jede der Hauptkategorien von Rechten des geistigen Eigentums Normen aufgestellt werden, die von jedem WTO-Mitglied anzuwenden sind (Urteil vom 18. Juli 2013, Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis Deutschland, C‑414/11, EU:C:2013:520, Rn. 58). Teil III dieses Übereinkommens, der auch dieses Ziel verfolgt, betrifft die „Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“ und insbesondere die Verfahren und die Maßnahmen, die die WTO-Mitglieder im Hinblick auf dieses Ziel in ihre Rechtsordnung einführen müssen.
41 So legt Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens in Abschnitt 5 („Strafverfahren“) seines Teils III fest, dass „[die WTO-Mitglieder] … Strafverfahren und Strafen [vorsehen], die zumindest bei vorsätzlicher Nachahmung von Markenwaren oder vorsätzlicher unerlaubter Herstellung urheberrechtlich geschützter Waren in gewerbsmäßigem Umfang Anwendung finden“, dass „[d]ie vorgesehenen Sanktionen … zur Abschreckung ausreichende Haft- und/oder Geldstrafen entsprechend dem Strafmaß, das auf entsprechend schwere Straftaten anwendbar ist, [umfassen]“ und dass „[i]n geeigneten Fällen … die vorzusehenden Sanktionen auch die Beschlagnahme, die Einziehung und die Vernichtung der rechtsverletzenden Waren und allen Materials und aller Werkzeuge, die überwiegend dazu verwendet wurden, die Straftat zu begehen, [umfassen]“.
42 Daraus ergibt sich, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die sich aus dem TRIPS-Übereinkommen ergebenden Verpflichtungen einschließlich derjenigen aus Art. 61 dieses Übereinkommens erfüllen, das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen.
43 Die aus Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens abgeleitete Verpflichtung, zumindest bei vorsätzlicher Nachahmung von Markenwaren oder vorsätzlicher unerlaubter Herstellung urheberrechtlich geschützter Waren in gewerbsmäßigem Umfang Strafverfahren vorzusehen, die zu wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Strafen führen können, bindet nämlich jedes WTO-Mitglied, einschließlich der Union und ihrer Mitgliedstaaten, und ist, wie sich aus der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, unabhängig von internen Harmonisierungsmaßnahmen Bestandteil des Unionsrechts. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach ein Mitgliedstaat das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt, wenn er eine in einer Unionsrechtsbestimmung aufgestellte Verpflichtung erfüllt, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Verwaltungsmaßnahmen gegen die Personen zu ergreifen, die für die Taten im Sinne dieser Bestimmung verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 22 und 23), findet in dieser Fallgestaltung Anwendung. Dass diese Verpflichtung in einer von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft und nicht in einem internen Gesetzgebungsakt der Union festgelegt ist, hat insoweit keine Relevanz, wie sich aus der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt.
44 Folglich führt ein Mitgliedstaat, wenn er der Verpflichtung aus Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens nachkommt, das Recht der Union durch, so dass die Charta anwendbar ist.
45 Im vorliegenden Fall scheint Art. 172b Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – eine Umsetzung der Verpflichtungen aus Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens durch bulgarisches Recht darzustellen.
46 Daher ist der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten und der vierten Frage zuständig.
Zu den Vorlagefragen
– Zur dritten Frage
47 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 49 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen einer nationalen Regelung entgegensteht, die im Fall der Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts vorsieht, dass ein und dasselbe Verhalten sowohl als Ordnungswidrigkeit als auch als Straftat eingestuft werden kann, ohne Kriterien zu enthalten, anhand deren sich die Ordnungswidrigkeit von der Straftat oder gar der schweren Straftat abgrenzen lässt.
48 Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach bulgarischem Recht bestimmte Verhaltensweisen sowohl eine Ordnungswidrigkeit als auch eine Straftat darstellen könnten. Dies sei bei der Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts der Fall, die nicht nur eine Ordnungswidrigkeit im Sinne von Art. 81 Abs. 1 ZMGO alt darstelle, der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar sei, sondern auch eine Straftat im Sinne von Art. 172b Abs. 1 des Strafgesetzbuchs. Außerdem falle die in Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vorgesehene Straftat, was ihre Tatbestandsmerkmale angehe, teilweise unter Art. 172b Abs. 1 des Strafgesetzbuchs, da mit dieser Vorschrift auch diese verbotene Benutzung geahndet werden solle.
49 Dabei müssen nach dem in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen Strafvorschriften hinsichtlich der Definition sowohl des Straftatbestands als auch des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen (Urteil vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 48).
50 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt dieser Grundsatz eine besondere Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit dar und besagt unter anderem, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen klar definieren muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Einzelne anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte und der Einholung von Rechtsrat erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 56, sowie vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Im vorliegenden Fall sieht Art. 172b des Strafgesetzbuchs vor, dass jede Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts eine Straftat darstellt und zur Verhängung der in dieser Bestimmung genannten Strafen führt.
53 Zwar wird dasselbe Verhalten nach dem bulgarischen Markengesetz, dem ZMGO, auch als Ordnungswidrigkeit eingestuft und kann zur Verhängung eines Bußgelds führen.
54 Somit ergibt sich aus diesen Bestimmungen, dass ein und dasselbe Verhalten, das darin besteht, eine Marke ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts im geschäftlichen Verkehr zu benutzen, als Straftat und als Ordnungswidrigkeit eingestuft wird und daher sowohl zu strafrechtlichen als auch zu ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen führen kann.
55 Vorbehaltlich der Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört, der Gegenstand der vierten Frage ist, können die Mitgliedstaaten jedoch für ein und dieselbe Tat eine Kombination ordnungswidrigkeitenrechtlicher und strafrechtlicher Sanktionen vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34, und vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Sofern die Strafvorschrift als solche den in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen entspricht, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, steht daher dieser Grundsatz nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die ein und dasselbe Verhalten als Straftat und als Ordnungswidrigkeit einstufen und somit das durch solche Tatbestände geahndete Verhalten ähnlich oder sogar identisch definieren.
57 Die Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts wird in Art. 172b des Strafgesetzbuchs eindeutig als Straftat dargestellt, die zu den dort genannten Strafen führt. Unter diesen Umständen ist nach der in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung der in Art. 49 Abs. 1 der Charta aufgestellte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen vorbehaltlich der durch das vorlegende Gericht vorzunehmenden Überprüfung als gewahrt anzusehen.
58 Zu dem vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand, dass die nationalen Rechtsvorschriften, insbesondere Art. 81 Abs. 1 ZMGO alt und Art. 172b des Strafgesetzbuchs, keine Kriterien enthalten, anhand deren sich die Ordnungswidrigkeit von der Straftat abgrenzen lässt, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus diesem Grundsatz kein Erfordernis ergibt, dass das nationale Recht solche Kriterien enthalten muss.
59 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 49 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts vorsieht, dass ein und dasselbe Verhalten sowohl als Ordnungswidrigkeit als auch als Straftat eingestuft werden kann, ohne Kriterien zu enthalten, anhand deren sich die Ordnungswidrigkeit von der Straftat abgrenzen lässt, wobei der Tatbestand im Strafrecht und im Markengesetz einen ähnlichen, ja sogar identischen Wortlaut hat.
– Zur vierten Frage:
60 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die im Fall der Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts die Verhängung sowohl von Freiheitsstrafen als auch von Geldstrafen vorsieht, wobei die Freiheitsstrafe fünf bis acht Jahre beträgt, wenn diese Benutzung wiederholt erfolgt ist oder schwerwiegende schädigende Folgen verursacht hat.
61 Dabei weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Untergrenze dieser Freiheitsstrafe äußerst hoch sei und dass diese Strafe außerdem mit einer Geldstrafe gekoppelt werde, die ebenfalls hoch sei. Zudem seien die Möglichkeiten des Gerichts, sie herabzusetzen oder ihre Vollstreckung auszusetzen, sehr begrenzt. Schließlich trage die zusätzliche Maßnahme der Einziehung und Vernichtung der Vermögensgegenstände, die Gegenstand der Straftat seien, dazu bei, die Schwere der verhängten Sanktionen insgesamt zu erhöhen.
62 Nach Art. 49 Abs. 3 der Charta, der, wie in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt, insoweit anwendbar ist, als mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens durchgeführt wird, darf das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.
63 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens den WTO-Mitgliedern zwar die Wahl und die Modalitäten der Strafverfahren und Strafen überlässt, diese aber verpflichtet, zumindest bestimmte Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums wie vorsätzliche Nachahmung von Markenwaren oder vorsätzliche unerlaubte Herstellung urheberrechtlich geschützter Waren in gewerbsmäßigem Umfang strafrechtlich zu ahnden. Außerdem heißt es in diesem Artikel, dass die Sanktionen „zur Abschreckung ausreichende Haft- und/oder Geldstrafen entsprechend dem Strafmaß, das auf entsprechend schwere Straftaten anwendbar ist“, umfassen müssen. In geeigneten Fällen müssen die vorzusehenden Sanktionen „auch die Beschlagnahme, die Einziehung und die Vernichtung der rechtsverletzenden Waren und allen Materials und aller Werkzeuge, die überwiegend dazu verwendet wurden, die Straftat zu begehen“, umfassen.
64 Wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind in Ermangelung interner gesetzgeberischer Maßnahmen auf Unionsebene auf dem Gebiet der Sanktionen die Mitgliedstaaten befugt, unter Beachtung insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Art und Höhe dieser Sanktionen zu wählen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen gemäß letzterem Grundsatz die repressiven Maßnahmen, die nach den nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele erforderlich ist. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffes verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 45).
66 Daher müssen die zuständigen Behörden, wenn die nationalen Rechtsvorschriften eine Kumulierung von strafrechtlichen Sanktionen, wie etwa die Kopplung von Geld- und Freiheitsstrafen, vorsehen, sicherstellen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet, da andernfalls ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorläge (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 49 und 50).
67 Der Gerichtshof hat ebenfalls entschieden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die individuellen Umstände des Einzelfalls sowohl bei der Bestimmung der Sanktion als auch bei der Festlegung der Höhe der Geldstrafe berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N, C‑384/17, EU:C:2018:810, Rn. 45).
68 Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen ist auch zu berücksichtigen, dass für das nationale Gericht die Möglichkeit besteht, die Qualifizierung gegenüber der in der Anklageschrift enthaltenen Qualifizierung zu ändern – was zur Anwendung einer milderen Sanktion führen kann – oder die Sanktion im Verhältnis zur Schwere der festgestellten Straftat anzupassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2015, Chmielewski, C‑255/14, EU:C:2015:475, Rn. 26, und vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffes verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 51).
69 Im vorliegenden Fall geht erstens aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, auf dessen Grundlage die Strafverfolgung gegen G. ST. T. eingeleitet wurde, darauf abzielt, die Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts zu ahnden, wenn diese Benutzung eine gewisse Schwere aufweist, sei es, weil sie wiederholt erfolgte, sei es, weil sie erheblichen Schaden verursacht hat.
70 Soweit diese nationalen Rechtsvorschriften zur Ahndung einer solchen Handlung eine Freiheitsstrafe von fünf bis acht Jahren und eine Geldstrafe von 5 000 bis 8 000 BGN vorsehen, erscheinen sie geeignet, die legitimen Ziele zu erreichen, die mit Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens verfolgt werden, der vorschreibt, dass zumindest die vorsätzliche Nachahmung von Markenwaren in gewerbsmäßigem Umfang strafrechtlich geahndet wird.
71 Was zweitens die Frage betrifft, ob die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist, ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die für die Straftat einer schweren Verletzung im Sinne von Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vorgesehene Freiheitsstrafe auf ein Mindestmaß von fünf Jahren festgesetzt ist, was das vorlegende Gericht als „äußerst hoch“ ansieht.
72 Außerdem sieht diese Bestimmung vor, dass zu dieser Freiheitsstrafe eine Geldstrafe in Höhe von 5 000 bis 8 000 BGN hinzukommt, die von diesem Gericht ebenfalls als hoch angesehen wird.
73 Das vorlegende Gericht erwähnt außerdem die in Art. 172b Abs. 3 des Strafgesetzbuchs aufgestellte Verpflichtung, eine zusätzliche Maßnahme zu verhängen, die darin bestehe, die Tatgegenstände einzuziehen und zu vernichten. Diese Maßnahmen trügen dazu bei, die Schwere der insgesamt verhängten Sanktion zu erhöhen.
74 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens vorsieht, dass die von den WTO-Mitgliedern zu verhängenden Sanktionen „zur Abschreckung ausreichende Haft- und/oder Geldstrafen [umfassen]“. Indem diese Bestimmung die Konjunktionen „und“ und „oder“ verwendet, ermächtigt sie die WTO-Mitglieder somit, in ihren Rechtsvorschriften die Kumulierung einer Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe zum Zweck der Ahndung dieses Verhaltens vorzusehen.
75 Außerdem verpflichtet dieser Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens die WTO-Mitglieder, in geeigneten Fällen vorzusehen, dass die vorzusehenden Sanktionen „auch die Beschlagnahme, die Einziehung und die Vernichtung der rechtsverletzenden Waren und allen Materials und aller Werkzeuge, die überwiegend dazu verwendet wurden, die Straftat zu begehen“, umfassen. Abgesehen von den finanziellen Folgen, die sie für den Markenrechtsverletzer haben, sind solche Maßnahmen geeignet, zur Wirksamkeit der Sanktion beizutragen, da sie verhindern, dass Waren, die ein Recht des geistigen Eigentums verletzen, auf dem Markt bleiben und später genutzt werden können.
76 So verlangen die Bestimmungen des Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens selbst einen hinreichend hohen Schweregrad, um zu verhindern, dass das beanstandete Verhalten an den Tag gelegt wird oder sich wiederholt.
77 Folglich kann nicht geltend gemacht werden, dass eine strafrechtliche Regelung, die von einem Mitgliedstaat eingeführt wird, um Markenverletzungen von gewisser Schwere zu ahnden, allein deshalb unverhältnismäßig ist, weil sie in geeigneten Fällen neben der Verhängung einer Geldstrafe und der Vernichtung der fraglichen Waren sowie der Werkzeuge, die zur Begehung der Straftat verwendet wurden, die Verhängung einer Freiheitsstrafe vorsieht.
78 Wie sich jedoch auch aus Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens ergibt, der insoweit das ebenfalls in Art. 49 Abs. 3 der Charta aufgestellte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit widerspiegelt, muss jede in diesen Rechtsvorschriften vorgesehene strafrechtliche Sanktion der Schwere der entsprechenden Straftat angemessen sein.
79 Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht erstreckt sich das strafrechtlich relevante Verhalten im Sinne von Art. 172b des Strafgesetzbuchs, das in der „Benutzung“ einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts besteht, offenbar auf alle in Art. 13 Abs. 1 und 2 ZMGO, sowohl alt als auch neu, genannten Handlungen. Die letzteren Bestimmungen entsprechen im Wesentlichen Art. 10 Abs. 2 und 3 der Richtlinie (EU) 2015/2436 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2015, L 336, S. 1).
80 Somit kann Art. 172b des Strafgesetzbuchs offenbar jede Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts betreffen. Außerdem wird nach Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs jede Handlung, die diesem Tatbestand entspricht und wiederholt erfolgt ist oder schwerwiegende schädigende Folgen verursacht hat, u. a. mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bestraft.
81 Eine solche Strafe ist zwar in bestimmten Fällen einer Nachahmung nicht unbedingt unverhältnismäßig, doch ist festzustellen, dass eine Bestimmung wie Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, die einen besonders weit gefassten Straftatbestand mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren ahndet, nicht gewährleisten kann, dass die zuständigen Behörden in jedem Einzelfall gemäß der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils angeführten Verpflichtung aus Art. 49 Abs. 3 der Charta sicherstellen können, dass die Schwere der verhängten Strafen nicht über die Schwere der festgestellten Straftat hinausgeht.
82 Diese Behörden können nämlich veranlasst sein, ohne Zustimmung erfolgte Handlungen der Benutzung einer Marke zu prüfen, deren Auswirkung im geschäftlichen Verkehr besonders marginal bleibt, selbst wenn diese Handlungen vorsätzlich vorgenommen wurden und wiederholt erfolgt sind.
83 Abgesehen von den Fällen, in denen es um nachgeahmte Waren geht, können diese Behörden auch dazu veranlasst sein, ohne Zustimmung erfolgte Handlungen der Benutzung einer Marke zu prüfen, die zwar vorsätzlich, wiederholt und mit erheblichen Auswirkungen im geschäftlichen Verkehr vorgenommen wurden, sich aber erst nach einer komplexen Beurteilung der Tragweite des ausschließlichen Rechts als rechtswidrig erweisen.
84 Eine nationale Rechtsvorschrift wie die, auf die sich die vierte Vorlagefrage bezieht, erschwert dadurch, dass sie für alle Fälle der ohne Zustimmung erfolgten Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren vorsieht, die Aufgabe der zuständigen Behörden, unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte eine Strafe festzusetzen, deren Schwere die Schwere der festgestellten Straftat nicht übersteigt, in übersteigertem Maße.
85 Das vorlegende Gericht hat nämlich darauf hingewiesen, dass die durch das bulgarische Strafrecht eröffnete Möglichkeit, eine Strafe zu verhängen, die unter der in Art. 172b Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vorgesehenen Mindeststrafe liege, auf die Fälle beschränkt sei, in denen die mildernden Umstände entweder außergewöhnlich oder zahlreich seien. Das Gericht hat auch darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe auszusetzen, nur bestehe, wenn diese Strafe drei Jahre nicht überschreite. Im Hinblick darauf, dass Art. 172b Abs. 2 Strafgesetzbuch für alle Fälle der nicht mit Zustimmung erfolgten Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren festsetzt, können sich diese begrenzten Möglichkeiten der Strafherabsetzung und der Aussetzung der Vollstreckung als unzureichend erweisen, um in jedem Einzelfall die Bestrafung auf eine Strafe zu reduzieren, die im Verhältnis zu dieser Schwere steht.
86 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die im Fall der wiederholten oder mit schwerwiegenden schädigenden Folgen einhergehenden Benutzung einer Marke im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts eine Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren vorsieht.