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Wirtschaftsrecht
08.11.2012
Wirtschaftsrecht
EuGH: Kommission kann Klage auf Schadensersatz wegen eines unionsrechtswidrigen Kartells vor nationalem Gericht erheben

EuGH, Urteil vom 6.11.2- In der Rechtssache C‑199/11 Europese Gemeenschap gegen Otis NV, General Technic-Otis Sàrl, Kone Belgium NV, Kone Luxembourg Sàrl, Schindler NV, Schindler Sàrl, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV, ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl


Tenor


1.      Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Europäische Kommission nicht daran hindert, die Europäische Union vor einem nationalen Gericht zu vertreten, bei dem eine zivilrechtliche Klage auf Ersatz des Schadens anhängig ist, der der Union durch ein nach Art. 81 EG und Art. 101 AEUV verbotenes Kartell oder Verhalten zugefügt wurde, das von verschiedenen Organen und Einrichtungen der Union vergebene öffentliche Aufträge beeinträchtigt haben könnte, ohne dass die Kommission hierzu einer Vertretungsvollmacht dieser Organe und Einrichtungen bedarf.




2.      Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hindert die Europäische Kommission nicht daran, im Namen der Europäischen Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines Kartells oder eines Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit Art. 81 EG oder Art. 101 AEUV festgestellt wurde.


Urteil



1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 282 EG, Art. 335 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 103 und 104 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 248, S. 1) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1995/2006 des Rates vom 13. Dezember 2006 (ABl. L 390, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Haushaltsordnung).



2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Europese Gemeenschap (Europäische Gemeinschaft), vertreten durch die Europäische Kommission, einerseits und den Herstellern von Aufzügen und Fahrtreppen Otis NV, Kone Belgium NV, Schindler NV, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV, General Technic-Otis Sàrl, Kone Luxembourg Sàrl, Schindler Sàrl et ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl andererseits über einen Anspruch auf Schadensersatz wegen einer von diesen Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG.



 Rechtlicher Rahmen



 Unionsrecht



 Die Verträge



3        Art. 282 EG bestimmte:



„Die Gemeinschaft besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist; sie kann insbesondere bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben und veräußern sowie vor Gericht stehen. Zu diesem Zweck wird sie von der Kommission vertreten."



4        Mit Wirkung vom 1. Dezember 2009 wurde Art. 282 EG infolge des Inkrafttretens des AEU-Vertrags durch Art. 335 AEUV ersetzt, der wie folgt lautet:



„Die Union besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist; sie kann insbesondere bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben und veräußern sowie vor Gericht stehen. Zu diesem Zweck wird sie von der Kommission vertreten. In Fragen, die das Funktionieren der einzelnen Organe betreffen, wird die Union hingegen aufgrund von deren Verwaltungsautonomie von dem betreffenden Organ vertreten."



5        Art. 339 AEUV bestimmt:



„Die Mitglieder der Organe der Union, die Mitglieder der Ausschüsse sowie die Beamten und sonstigen Bediensteten der Union sind verpflichtet, auch nach Beendigung ihrer Amtstätigkeit Auskünfte, die ihrem Wesen nach unter das Berufsgeheimnis fallen, nicht preiszugeben; dies gilt insbesondere für Auskünfte über Unternehmen sowie deren Geschäftsbeziehungen oder Kostenelemente."



6        Art. 47 EUV lautet:



„Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit."



 Die Verordnung (EG) Nr. 1/2003



7        Der 37. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. L 1, S. 1) lautet:



„Diese Verordnung wahrt die Grundrechte und steht im Einklang mit den Prinzipien, die insbesondere in der [Charta] verankert sind. Demzufolge ist diese Verordnung in Übereinstimmung mit diesen Rechten und Prinzipien auszulegen und anzuwenden."



8        Art. 16 („Einheitliche Anwendung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts") Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:



„Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel 81 [EG] oder 82 [EG] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen. Sie müssen es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck kann das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das vor ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel 234 [EG]."



9        Art. 28 („Berufsgeheimnis") der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:



„(1)      Unbeschadet der Artikel 12 und 15 dürfen die gemäß den Artikeln 17 bis 22 erlangten Informationen nur zu dem Zweck verwertet werden, zu dem sie eingeholt wurden.



(2)      Unbeschadet des Austauschs und der Verwendung der Informationen gemäß den Artikeln 11, 12, 14, 15 und 27 sind die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und ihre Beamten, ihre Bediensteten und andere unter ihrer Aufsicht tätigen Personen sowie die Beamten und sonstigen Bediensteten anderer Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet, keine Informationen preiszugeben, die sie bei der Anwendung dieser Verordnung erlangt oder ausgetauscht haben und die ihrem Wesen nach unter das Berufsgeheimnis fallen. Diese Verpflichtung gilt auch für alle Vertreter und Experten der Mitgliedstaaten, die an Sitzungen des Beratenden Ausschusses nach Artikel 14 teilnehmen."



 Die Haushaltsordnung



10      Gemäß Art. 50 der Haushaltsordnung erkennt die Kommission den anderen Organen die erforderlichen Befugnisse zur Ausführung der sie betreffenden Einzelpläne zu.



11      Art. 59 der Haushaltsordnung bestimmt:



„(1)      Das Organ übt die Funktion des Anweisungsbefugten aus.



...



(2)      Jedes Organ legt in seinen internen Verwaltungsvorschriften fest, welchen Bediensteten angemessenen Ranges es unter Einhaltung der in seiner Geschäftsordnung vorgesehenen Bedingungen die Anweisungsbefugnis überträgt und welches der Umfang der übertragenen Befugnisse ist; außerdem sieht es darin die Möglichkeit vor, die Anweisungsbefugnis weiterzuübertragen.



..."



12      Gemäß Art. 60 Abs. 1 der Haushaltsordnung obliegt es dem Anweisungsbefugten jedes Organs, die Einnahmen und Ausgaben nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung auszuführen sowie deren Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit zu gewährleisten.



13      Art. 103 der Haushaltsordnung bestimmt:



„Stellt sich heraus, dass das Vergabeverfahren mit gravierenden Fehlern oder Unregelmäßigkeiten behaftet ist oder Betrug vorliegt, setzen die Organe es aus und können alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Einstellung des Verfahrens, ergreifen.




Stellt sich nach der Vergabe des Auftrags heraus, dass das Vergabeverfahren oder die Ausführung des Vertrags mit gravierenden Fehlern oder Unregelmäßigkeiten behaftet sind oder dass Betrug vorliegt, so können die Organe je nach Verfahrensphase beschließen, den Vertrag nicht zu schließen, die Ausführung des Vertrags auszusetzen oder gegebenenfalls den Vertrag zu beenden.



Sind diese Fehler oder Unregelmäßigkeiten oder der Betrug dem Auftragnehmer anzulasten, können die Organe außerdem im Verhältnis zur Schwere der Fehler oder Unregelmäßigkeiten oder des Betrugs die Zahlung ablehnen, bereits gezahlte Beträge einziehen oder sämtliche mit diesem Auftragnehmer geschlossenen Verträge kündigen."



14      Art. 104 der Haushaltsordnung sieht vor:



„In den Fällen, in denen die Gemeinschaftsorgane Aufträge auf eigene Rechnung vergeben, gelten sie als öffentliche Auftraggeber ..."



 Die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags



15      Nach Ziffer 26 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags (ABl. 2004, C 101, S. 54) „wird die Kommission keine von einem Antragsteller auf Kronzeugenbehandlung freiwillig bereit gestellten Informationen ohne dessen Einverständnis an einzelstaatliche Gerichte weitergeben".



 Belgisches Recht



16      Art. 17 des Gerichtsgesetzbuches (Code judiciaire) bestimmt:



„Eine Klage ist nicht annehmbar, wenn der Kläger die Eigenschaft und das Interesse nicht hat, um sie zu erheben."



17      Art. 1382 des Zivilgesetzbuchs (Code civil) sieht vor:



„Jegliche Handlung eines Menschen, durch die einem anderen ein Schaden zugefügt wird, verpflichtet denjenigen, durch dessen Verschulden der Schaden entstanden ist, diesen zu ersetzen."



 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen



 Vorgeschichte des Ausgangsrechtsstreits



18      Aufgrund mehrerer Beschwerden leitete die Kommission im Jahr 2004 eine Untersuchung ein in Bezug auf das Bestehen eines Kartells der vier wichtigsten europäischen Hersteller von Aufzügen und Fahrtreppen, nämlich der Otis-, der Kone-, der Schindler- und der ThyssenKrupp-Gruppe. Die Untersuchung führte zu der Entscheidung K(2007) 512 endg. der Kommission vom 21. Februar 2007 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (Sache COMP/E-1/38.823 - Aufzüge und Fahrtreppen) (im Folgenden: Entscheidung vom 21. Februar 2007).



19      In dieser Entscheidung stellte die Kommission fest, dass die Unternehmen, die Adressaten dieser Entscheidung sind, darunter die Beklagten des Ausgangsverfahrens, dadurch gegen Art. 81 EG verstoßen hätten, dass sie untereinander Ausschreibungen und sonstige Aufträge in Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden zuteilten, um die Märkte aufzuteilen und die Preise festzusetzen, dass sie in einigen Fällen einen Ausgleichsmechanismus vereinbarten, dass sie Informationen über Absatzmengen und Preise austauschten, und dass sie an regelmäßigen Zusammenkünften teilnahmen und sonstige Kontakte pflegten, um die vorstehenden Beschränkungen zu vereinbaren und durchzuführen. Für diese Zuwiderhandlungen verhängte die Kommission Geldbußen in Höhe von insgesamt mehr als 992 Millionen Euro.



20      Mehrere Unternehmen, darunter die Beklagten des Ausgangsverfahrens, erhoben beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung.



21      Mit Urteilen vom 13. Juli 2011, Schindler Holding u. a./Kommission (T‑138/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), General Technic-Otis/Kommission (T‑141/07, T‑142/07, T‑145/07 und T‑146/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/ Kommission (T‑144/07, T‑147/07 bis T‑150/07 und T‑154/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) und Kone u. a./Kommission (T‑151/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) wies das Gericht diese Klagen ab, jedoch mit Ausnahme der von den Unternehmen der ThyssenKrupp-Gruppe erhobenen Klagen, denen das Gericht in Bezug auf die Höhe der auferlegten Geldbußen teilweise stattgab.



22      Die Klägerinnen legten daraufhin beim Gerichtshof Rechtsmittel ein, die auf Aufhebung der genannten Urteile gerichtet waren und unter den Nrn. C‑493/11 P, C‑494/11 P, C‑501/11 P, C‑503/11 P bis C‑506/11 P, C‑510/11 P, C‑516/11 P und C‑519/11 P in das Register eingetragen wurden. Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 24. April und 8. Mai 2012 wurden die Rechtssachen C‑503/11 P bis C‑506/11 P, C‑516/11 P und C‑519/11 P im Register des Gerichtshofs gestrichen. Mit Beschlüssen vom 15. Juni 2012, United Technologies/Kommission und Otis Luxembourg u. a./Kommission, wies der Gerichtshof die Rechtsmittel in den Rechtssachen C‑493/11 P und C‑494/11 P ab. Die Rechtssachen C‑501/11 P und C‑510/11 P sind beim Gerichtshof anhängig.



 Verfahren vor dem vorlegenden Gericht



23      Am 20. Juni 2008 reichte die Europäische Gemeinschaft, nunmehr Europäische Union, vertreten durch die Kommission, bei dem vorlegenden Gericht eine Klage ein, mit der sie von den Beklagten des Ausgangsverfahrens die Zahlung eines vorläufigen Betrages von 7 061 688 Euro (zuzüglich Zinsen und Verfahrenskosten) als Ersatz des der Union aufgrund der in der Entscheidung vom 21. Februar 2007 festgestellten wettbewerbswidrigen Praktiken entstandenen Schadens verlangte. Die Union hatte nämlich an die Beklagten des Ausgangsverfahrens mehrere Aufträge für den Einbau, die Wartung und die Erneuerung von Aufzügen und Fahrtreppen in verschiedenen Gebäuden des Rates der Europäischen Union, des Europäischen Parlaments, der Kommission, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, des Ausschusses der Regionen der Europäischen Union und des Amts für Veröffentlichungen der Europäischen Union, die ihren Sitz jeweils in Belgien bzw. Luxemburg haben, vergeben. Hilfsweise beantragte die Union, u. a. zur Bestimmung des gesamten entstandenen Schadens einen Sachverständigen zu bestellen.



24      Die Beklagten des Ausgangsverfahrens sprechen der Kommission die Befugnis ab, die Union zu vertreten, da es an einer ausdrücklichen Vertretungsvollmacht der anderen Unionsorgane, die sich durch die fragliche Zuwiderhandlung geschädigt sähen, fehle. Ferner rügen sie einen Verstoß gegen die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Waffengleichheit aufgrund der besonderen Stellung der Kommission in einem Verfahren nach Art. 81 Abs. 1 EG. Angesichts des Umstands, dass gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003 die Entscheidung vom 21. Februar 2007 für das vorlegende Gericht bindend sei, sei außerdem der Grundsatz verletzt, dass niemand Richter in eigener Sache sein kann (nemo judex in sua causa).



25      Das vorlegende Gericht hat hinsichtlich des Schadens, der durch die in Luxemburg ansässigen Beklagten des Ausgangsverfahrens verursacht worden sein soll, seine Unzuständigkeit festgestellt.



26      Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank van koophandel te Brussel das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:



1.      a)     Nach Art. 282 EG, jetzt Art. 335 AEUV, wird die Union durch die Kommission vertreten; - Art. 335 AEUV einerseits sowie die Art. 103 und 104 der Haushaltsordnung andererseits bestimmen, dass die betreffenden Organe in Verwaltungsfragen, die ihr Funktionieren betreffen, die Union vertreten, mit der möglichen Folge, dass die Organe - ausschließlich oder nicht - vor Gericht stehen können; - es unterliegt keinem Zweifel, dass die Zahlung überhöhter Preise an Auftragnehmer usw. als Folge der Bildung eines Kartells unter den Begriff „Betrug" fällt; - im belgischen Recht gilt der Grundsatz lex specialis generalibus derogat; - war es, wenn dieser Rechtsgrundsatz auch in das europäische Recht Eingang findet, nicht Sache der betreffenden Organe, die Initiative für die Erhebung von Klagen (außer in Fällen, in denen die Kommission selbst Auftraggeber war) zu ergreifen?



b)      (Hilfsweise gestellte Frage) Hätte die Kommission nicht zumindest über eine Vertretungsvollmacht der Organe verfügen müssen, um deren Interessen vor Gericht zu wahren?



2.      a)     Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gewährleisten jedem das Recht auf ein faires Verfahren und den damit zusammenhängenden Grundsatz, dass niemand Richter in eigener Sache sein kann. Ist es mit diesem Grundsatz vereinbar, dass die Kommission in einer ersten Phase als öffentlicher Auftraggeber auftritt und das beanstandete Verhalten, also die Kartellbildung, als Verstoß gegen Art. 81, jetzt Art. 101 des Vertrags, mit einer Sanktion belegt, nachdem sie in diesem Verfahren selbst die Ermittlungen geführt hat, um anschließend in einer zweiten Phase den Schadensersatzprozess vor dem nationalen Gericht vorzubereiten und die Entscheidung über die Klageerhebung zu treffen, während dasselbe Kommissionsmitglied die Verantwortung für beide Angelegenheiten trägt, die miteinander verknüpft sind, und zwar umso mehr, als das angerufene nationale Gericht von der Sanktionierungsentscheidung nicht abweichen kann?



b)      (Hilfsweise gestellte Frage) Falls die Frage 2a bejaht wird, also Unvereinbarkeit besteht, wie kann dann nach dem europäischen Recht der Geschädigte (die Kommission und/oder die Organe und/oder die Union) einer rechtswidrigen Tat (der Kartellbildung) seinen Schadensersatzanspruch geltend machen, bei dem es sich ebenfalls um ein grundlegendes Recht handelt?



 Zu den Vorlagefragen



 Zur ersten Frage



27      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 282 EG und 335 AEUV dahin auszulegen sind, dass die Kommission im Rahmen einer zivilrechtlichen Klage auf Ersatz des Schadens, der der Union durch ein nach Art. 81 EG und Art. 101 AEUV verbotenes Kartell oder Verhalten zugefügt wurde, das von verschiedenen Organen und Einrichtungen der Union vergebene öffentliche Aufträge beeinträchtigt haben könnte, zur Vertretung der Union vor einem nationalen Gericht befugt ist, ohne über eine Vertretungsvollmacht der anderen betroffenen Organe oder Einrichtungen zu verfügen.



28      Die Vertretung der Gemeinschaft vor den Gerichten der Mitgliedstaaten war bis zum 1. Dezember 2009, dem Tag des Inkrafttretens des AEU-Vertrags, durch Art. 282 EG geregelt.



29      Da die Klage vor diesem Datum eingereicht wurde, ist zunächst zu prüfen, ob die Kommission nach diesem Artikel befugt war, die Gemeinschaft im Rahmen einer solchen Klage zu vertreten.



30      Nach dem Wortlaut von Art. 282 EG kann die Gemeinschaft vor Gericht stehen und wird zu diesem Zweck von der Kommission vertreten.



31      Die Beklagten des Ausgangsverfahrens machen jedoch geltend, dass Art. 282 nur eine allgemeine Regel darstelle, von der die Art. 274 EG und 279 EG eine Ausnahme vorsähen. Diese letztgenannten Bestimmungen seien durch die Haushaltsordnung durchgeführt worden, nach deren Art. 59 und 60 jedes Unionsorgan für die Ausführung seiner Haushaltsposten selbst zuständig sei. Zudem ergebe sich aus den Art. 103 und 104 der Haushaltsordnung, dass es Sache jedes einzelnen dieser Unionsorgane sei, Schadensersatzklage zu erheben, wenn sie sich durch die fragliche Zuwiderhandlung geschädigt fühlten, da die Aufträge überwiegend in ihrem eigenen Namen und auf ihre eigene Rechnung vergeben worden seien.



32      Hierzu ist festzustellen, dass in den Art. 274 EG und 279 EG sowie den Bestimmungen der Haushaltsordnung insbesondere die Befugnisse der Organe bei der Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans festgelegt sind. Dagegen begründet Art. 282 EG die Rechtsfähigkeit der Gemeinschaft und regelt deren Vertretung vor den Gerichten der Mitgliedstaaten. Die Vertretung der Gemeinschaft vor diesen Gerichten ist jedoch von den Maßnahmen zur Ausführung des Haushaltsplans, die ein Gemeinschaftsorgan erlässt, zu unterscheiden. Daher ist der Grundsatz lex specialis generalibus derogat im vorliegenden Fall irrelevant.



33      Insbesondere enthalten die Art. 103 und 104 der Haushaltsordnung, auf die sich das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage bezieht, Vorschriften über die Vergabe und Ausführung von öffentlichen Aufträgen und nicht über die Vertretung der Union vor den Gerichten der Mitgliedstaaten.



34      Folglich war die Kommission aufgrund von Art. 282 EG dazu befugt, die Gemeinschaft vor dem vorlegenden Gericht zu vertreten.



35      Zu Art. 335 AEUV ist festzustellen, dass der AEU-Vertrag für die Vertretung der Union in Verfahren vor Gerichten der Mitgliedstaaten, die vor seinem Inkrafttreten anhängig gemacht wurden und danach noch anhängig sind, keine Übergangsbestimmung enthält. Somit ist Art. 282 EG die für diese Vertretung maßgebliche Bestimmung, da der Ausgangsrechtsstreit vor dem Inkrafttreten des AEU-Vertrags anhängig gemacht worden ist.



36      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Kommission nicht daran hindert, die Union vor einem nationalen Gericht zu vertreten, bei dem eine zivilrechtliche Klage auf Ersatz des Schadens anhängig ist, der der Union durch ein nach Art. 81 EG und Art. 101 AEUV verbotenes Kartell oder Verhalten zugefügt wurde, das von verschiedenen Organen und Einrichtungen der Union vergebene öffentliche Aufträge beeinträchtigt haben könnte, ohne dass die Kommission hierzu einer Vertretungsvollmacht dieser Organe und Einrichtungen bedarf.



 Zur zweiten Frage



37      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 der Charta die Kommission daran hindert, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines Kartells oder eines Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit Art. 81 EG festgestellt wurde.



38      Insbesondere hat das vorlegende Gericht erstens Zweifel, ob im Rahmen einer solchen Klage das in Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK gewährleistete Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist, weil nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 die Entscheidung der Kommission in einem Verfahren nach Art. 81 EG für das vorlegende Gericht bindend ist. Die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG werde ihm nämlich durch eine Entscheidung vorgegeben, die von einer der Parteien des Rechtsstreits getroffen worden sei, was das nationale Gericht daran hindere, eine der Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs, nämlich den Eintritt eines schädigenden Ereignisses, uneingeschränkt zu prüfen.



39      Ferner möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Kommission im Rahmen einer solchen Klage nicht entgegen dem Grundsatz nemo judex in sua causa Richterin in eigener Sache ist.



40      Der Gerichtshof hat bereits hervorgehoben, dass sich jeder vor Gericht auf einen Verstoß gegen Art. 81 EG berufen und somit die Nichtigkeit eines nach dieser Bestimmung verbotenen Kartells oder Verhaltens geltend machen kann (Urteil vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, Slg. 2006, I‑6619, Randnr. 59).



41      Was insbesondere die Möglichkeit angeht, Ersatz des Schadens zu verlangen, der durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder ein entsprechendes Verhalten verursacht worden ist, ist zu beachten, dass die volle Wirksamkeit des Art. 81 EG und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbotes in Art. 81 Abs. 1 EG beeinträchtigt wären, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen solchen Vertrag oder durch ein solches Verhalten entstanden ist (Urteile vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, Slg. 2001, I‑6297, Randnr. 26, und Manfredi u. a., Randnr. 60).



42      Ein solcher Anspruch erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, von - oft verschleierten - Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Aus dieser Sicht können Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Union beitragen (vgl. Urteil Courage und Crehan, Randnr. 27).



43      Infolgedessen kann jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen dem Schaden und einem nach Art. 81 EG verbotenen Kartell oder Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang besteht (Urteil Manfredi u. a., Randnr. 61).



44      Dieses Recht steht somit auch der Union zu.



45      Bei seiner Ausübung müssen jedoch die Grundrechte der Beklagten beachtet werden, wie sie insbesondere in der Charta gewährleistet sind. Deren Bestimmungen gelten nach ihrem Art. 51 Abs. 1 sowohl für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union als auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.



46      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der nunmehr in Art. 47 der Charta zum Ausdruck kommt (vgl. Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849, Randnrn. 30 und 31; Beschluss vom 1. März 2011, Chartry, C‑457/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25, sowie Urteil vom 28. Juli 2011, Samba Diouf, C‑69/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 49).



47      Mit Art. 47 der Charta wird der sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebende Schutz im Unionsrecht gewährleistet. Daher ist lediglich Art. 47 der Charta heranzuziehen (Urteil vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 51).



48      Der in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes umfasst mehrere Elemente, zu denen u. a. die Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, gehören.



49      Was insbesondere das Recht auf Zugang zu einem Gericht angeht, ist zu präzisieren, dass ein „Gericht" nur dann nach Maßgabe von Art. 47 der Charta über Streitigkeiten in Bezug auf Rechte und Pflichten aus dem Unionsrecht entscheiden kann, wenn es über die Befugnis verfügt, alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen.



50      Zwar dürfen insoweit nach der nunmehr in Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003 kodifizierten Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 14. September 2000, Masterfoods und HB, C‑344/98, Slg. 2000, I‑11369, Randnr. 52) Gerichte der Mitgliedstaaten, wenn sie u. a. nach Art. 101 AEUV über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen.



51      Dieser Grundsatz gilt auch, wenn bei dem nationalen Gericht eine Klage auf Ersatz des Schadens anhängig ist, der aufgrund eines Kartells oder eines Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung der Kommission die Unvereinbarkeit mit Art. 101 AEUV festgestellt wurde.



52      Die Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union beruht somit auf einer Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und der Kommission bzw. den Unionsgerichten, bei der jeder entsprechend der ihm durch den Vertrag zugewiesenen Rolle handelt (Urteil Masterfoods und HB/Kommission, Randnr. 56).



53      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die ausschließliche Zuständigkeit für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane bei den Gerichten der Union und nicht den nationalen Gerichten liegt. Diese sind nicht befugt, die Handlungen der Organe für ungültig zu erklären (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 22. Oktober 1987, Foto-Frost, 314/85, Slg. 1987, S. 4199, Randnrn. 12 bis 20).



54      Der Grundsatz, dass die nationalen Gerichte keine Entscheidungen erlassen dürfen, die einer Entscheidung der Kommission in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV zuwiderlaufen, ist somit eine Ausprägung der Verteilung der Zuständigkeiten in der Union zwischen den nationalen Gerichten einerseits und der Kommission und den Unionsgerichten andererseits.



55      Dieser Grundsatz bedeutet jedoch nicht, dass die Beklagten des Ausgangsverfahrens damit kein Recht auf Zugang zu einem Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta mehr hätten.



56      Das Unionsrecht sieht nämlich für Kommissionsentscheidungen in Verfahren nach Art. 101 AEUV ein System der gerichtlichen Kontrolle vor, das sämtliche nach Art. 47 der Charta erforderlichen Garantien bietet.



57      Insoweit ist festzustellen, dass die Entscheidung der Kommission einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Unionsgerichte gemäß Art. 263 AEUV unterzogen werden kann. Im vorliegenden Fall haben die Beklagten des Ausgangsverfahrens, an die die Entscheidung gerichtet war, tatsächlich Klage auf deren Nichtigerklärung erhoben, wie in den Randnrn. 20 bis 22 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist.



58      Die Beklagten des Ausgangsverfahrens machen jedoch geltend, dass die Rechtmäßigkeitskontrolle, die die Unionsgerichte gemäß Art. 263 AEUV im Bereich des Wettbewerbsrechts vornehmen, insbesondere wegen des der Kommission von diesen Gerichten in Wirtschaftsfragen zugestandenen Wertungsspielraums unvollständig sei.



59      Der Gerichtshof hat insoweit darauf hingewiesen, dass, auch wenn der Kommission in Bereichen, in denen komplexe wirtschaftliche Beurteilungen erforderlich sind, in Wirtschaftsfragen ein Wertungsspielraum zusteht, dies nicht bedeutet, dass der Unionsrichter eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission zu unterlassen hat. Der Unionsrichter muss nämlich nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse untermauern können (Urteil Chalkor/Kommission, Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).



60      Außerdem muss der Unionsrichter von Amts wegen prüfen, ob die Kommission ihre Entscheidung begründet und u. a. dargelegt hat, wie sie die berücksichtigten Faktoren gewichtet und bewertet hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Chalkor/Kommission, Randnr. 61).



61      Im Übrigen ist es Sache des Unionsrichters, die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle auf der Grundlage der vom Kläger zur Stützung seiner Klagegründe vorgelegten Beweise vorzunehmen. Bei dieser Kontrolle kann der Richter weder hinsichtlich der Wahl der Gesichtspunkte, die bei der Anwendung der in den Mitteilung der Kommission „Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003" (ABl. 2006, C 210, S. 2) genannten Kriterien berücksichtigt wurden, noch hinsichtlich ihrer Bewertung auf den Wertungsspielraum der Kommission verweisen, um von einer eingehenden rechtlichen wie tatsächlichen Kontrolle abzusehen (Urteil Chalkor/Kommission, Randnr. 62).



62      Schließlich wird die Rechtmäßigkeitskontrolle ergänzt durch die dem Unionsrichter früher durch Art. 17 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81] und [82] des Vertrags (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), jetzt durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 gemäß Art. 261 AEUV eingeräumte Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung. Diese Befugnis ermächtigt den Richter über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus dazu, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße oder das verhängte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen (Urteil Chalkor/Kommission, Randnr. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).



63      Die in den Verträgen vorgesehene Kontrolle bedeutet somit, dass der Unionsrichter sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornimmt und befugt ist, die Beweise zu würdigen, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären und die Höhe der Geldbußen zu ändern. Die in Art. 263 AEUV vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle, ergänzt um die in Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße, steht daher mit dem in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Einklang (vgl. in diesem Sinne Urteil Chalkor/Kommission, Randnr. 67).



64      Der Einwand der Beklagten des Ausgangsverfahrens, diese gerichtliche Kontrolle erfolge durch den Gerichtshof, an dessen Unabhängigkeit Zweifel bestünden, weil er selbst ein Unionsorgan sei, entbehrt jeder Grundlage angesichts der in den Verträgen verankerten Garantien, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtshofs gewährleisten, und des Umstands, dass jedes Rechtsprechungsorgan zwangsläufig Teil der staatlichen oder überstaatlichen Organisation ist, zu der es gehört, was für sich allein nicht zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK führen kann.



65      Schließlich setzt ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch wie der im Ausgangsverfahren fragliche, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, nicht nur die Feststellung des Eintritts eines schädigenden Ereignisses voraus, sondern es müssen außerdem noch ein Schaden sowie ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen diesem und dem schädigenden Ereignis festgestellt werden. Aufgrund seiner Verpflichtung, keine Entscheidungen zu erlassen, die der Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird, zuwiderlaufen, muss der nationale Richter zwar vom Bestehen eines Kartells oder einer verbotenen Verhaltensweise ausgehen, doch hat er das Vorliegen eines Schadens und eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen diesem und dem fraglichen Kartell oder Verhalten zu beurteilen.



66      Auch wenn die Kommission in ihrer Entscheidung die genauen Auswirkungen der Zuwiderhandlung bestimmt hat, bleibt es nämlich Sache des nationalen Richters, im Einzelfall jeweils den Schaden desjenigen, der eine Schadensersatzklage erhoben hat, zu bestimmen. Diese Beurteilung verstößt nicht gegen Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003.



67      Nach alledem kann die Kommission im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens nicht als Richterin in eigener Sache angesehen werden.




68      Zweitens hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob im Rahmen einer zivilrechtlichen Klage wie der des Ausgangsverfahrens aufgrund des Umstands, dass die Kommission die Untersuchung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung selbst geführt hatte, der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt ist.



69      Die Beklagten des Ausgangsverfahrens sind der Ansicht, die Kommission sei aufgrund dieses Umstands ihnen gegenüber privilegiert und habe dadurch Informationen - auch vertrauliche, die somit unter das Geschäftsgeheimnis fielen - einholen und verwenden können, die nicht allen Beklagten zur Verfügung stünden.



70      Die Kommission hält dem im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens entgegen, sie habe bei der Vorbereitung der Klage nur Informationen verwendet, die in der veröffentlichten Fassung der Entscheidung vom 27. Februar 2007 enthalten seien. Ihre für das Ausgangsverfahren zuständigen Dienststellen, nämlich die Ämter „Infrastructures et logistique" in Brüssel und Luxemburg, hätten keinen privilegierten Zugang zu der vertraulichen Akte der Generaldirektion „Wettbewerb". Die Bedingungen für die Kommission seien somit die gleichen wie für jeden anderen Rechtsuchenden.



71      Der Grundsatz der Waffengleichheit, der eine logische Folge aus dem Begriff des fairen Verfahrens ist (Urteil vom 21. September 2010, Schweden u. a./API und Kommission, C‑514/07 P, C‑528/07 P und C‑532/07 P, Slg. 2010, I‑8533, Randnr. 88), gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen.



72      Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dient die Waffengleichheit der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien, indem sie gewährleistet, dass jedes Dokument, das dem Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden kann. Hingegen ist der Nachteil, zu dem das Fehlen dieses Gleichgewichts führen soll, grundsätzlich von demjenigen zu beweisen, der ihn erlitten hat.



73      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Informationen, auf die sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens beziehen, dem nationalen Gericht von der Kommission nicht vorgelegt wurden; die Kommission hat außerdem vorgetragen, dass sie sich nur auf Informationen gestützt habe, die in der nichtvertraulichen Fassung der Entscheidung, mit der die Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wurde, zu finden seien. Unter diesen Umständen ist somit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit ausgeschlossen.



74      Das Vorbringen der Beklagten des Ausgangsverfahrens, das Gleichgewicht zwischen den Parteien sei dadurch beeinträchtigt, dass die Kommission bei der Untersuchung der Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV den Zweck verfolgt habe, anschließend Ersatz des aus dieser Zuwiderhandlung entstandenen Schadens zu verlangen, widerspricht dem in Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 enthaltenen Verbot, bei der Untersuchung erlangte Informationen zu einem anderen als dem Untersuchungszweck zu verwerten.



75      Im Übrigen werden die vorstehenden Erwägungen nicht dadurch in Frage gestellt, dass sowohl die Entscheidung vom 27. Februar 2007 als auch die Entscheidung, Schadensersatzklage zu erheben, vom Kommissionskollegium getroffen wurden, denn die im Unionsrecht enthaltenen Garantien - wie sie sich aus Art. 339 AEUV, Art. 28 Verordnung Nr. 1/2003 und Ziffer 26 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags ergeben - reichen aus, um die Wahrung des Grundsatzes der Waffengleichheit im Rahmen einer solchen Klage zu sichern.



76      Schließlich greift auch das auf das Urteil Yvon/Frankreich (EGMR, Urteil vom 24. April 2003, Recueil des arrêts et décisions 2003-V) gestützte Vorbringen der Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht durch. In Bezug auf die Umstände, aufgrund deren der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Art. 6 EMRK festgestellt hat - d. h. insbesondere in Bezug auf den erheblichen Einfluss der Anträge des Kommissars der Regierung auf die Würdigung des Richters des Enteignungsverfahrens und in Bezug auf die Regelung über den Zugang zu den einschlägigen Informationen und deren Verwendung durch den Kommissar der Regierung -, gab es nämlich anders als im Fall des Ausgangsverfahrens keine gerichtliche Kontrolle und keine Garantien, die den in den Randnrn. 63 und 75 des vorliegenden Urteils genannten ähnlich oder gleichwertig wären.



77      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 47 der Charta die Kommission nicht daran hindert, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines Kartells oder eines Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit Art. 81 EG oder Art. 101 AEUV festgestellt wurde.



 Kosten



78      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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