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Wirtschaftsrecht
24.10.2013
Wirtschaftsrecht
EuGH: Keine finanziellen Sanktionen gegen Deutschland wegen des VW-Gesetzes

EuGH, Urteil vom 22.10.2013 - Rs. C‑95/12 Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland



Urteil


1 Die Europäische Kommission beantragt mit ihrer Klage,


- festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil vom 23. Oktober 2007, Kommission/Deutschland (C‑112/05, Slg. 2007, I‑8995), betreffend die Unionsrechtswidrigkeit von Bestimmungen des Gesetzes über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand vom 21. Juli 1960 (BGBl. I S. 585, und BGBl. III S. 641‑1‑1, im Folgenden: VW-Gesetz) ergeben;


- die Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen, an die Kommission ab der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache bis zur Durchführung des erwähnten Urteils Kommission/Deutschland ein Zwangsgeld in Höhe von 282 725,10 Euro für jeden Tag des Verzugs bei der Durchführung dieses Urteils Kommission/Deutschland zu zahlen;


- die Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen, an die Kommission einen Pauschalbetrag in Höhe des Produkts des Tagessatzes von 31 114,72 Euro und der Zahl der Tage der Fortdauer des Verstoßes von der Verkündung des erwähnten Urteils Kommission/Deutschland bis zur Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache oder der Beendigung des Verstoßes durch den Mitgliedstaat zu zahlen und


- der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.


Vorgeschichte des Rechtsstreits und Urteil Kommission/Deutschland


2 Als 1960 das VW-Gesetz erlassen wurde, waren der Bund und das Land Niedersachsen mit Beteiligungen von jeweils 20 % die beiden Hauptgesellschafter der Volkswagenwerk GmbH (im Folgenden: Volkswagen). In Anwendung des genannten Gesetzes wurde diese Gesellschaft mit beschränkter Haftung in eine Aktiengesellschaft umgewandelt.


3 Der Bund veräußerte seine Beteiligung in der Folge; das Land Niedersachsen hingegen hält nach wie vor eine Beteiligung von etwa 20 %.


4 § 2 Abs. 1 VW-Gesetz in der Fassung vor der Verkündung des Urteils Kommission/Deutschland bestimmte, dass sich das Stimmrecht eines Aktionärs, dem Aktien im Gesamtnennbetrag von mehr als dem fünften Teil des Grundkapitals gehörten, auf die Anzahl von Stimmen beschränkte, die Aktien im Gesamtnennbetrag des fünften Teils des Grundkapitals gewähren.


5 In § 4 („Verfassung der Gesellschaft") VW-Gesetz in der Fassung vor der Verkündung des Urteils Kommission/Deutschland hieß es:


„(1) Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen sind berechtigt, je zwei Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, solange ihnen Aktien der Gesellschaft gehören.


...


(3) Beschlüsse der Hauptversammlung, für die nach dem Aktiengesetz eine Mehrheit erforderlich ist, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst, bedürfen einer Mehrheit von mehr als vier Fünftel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals der Gesellschaft."


6 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil Kommission/Deutschland in Nr. 1 des Tenors für Recht erkannt und entschieden:


„Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, dass sie § 4 Abs. 1 sowie § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 3 [VW-Gesetz] beibehalten hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG verstoßen."


7 Auf dieses Urteil hin erließ die Bundesrepublik Deutschland das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand vom 8. Dezember 2008 (im Folgenden: Gesetz zur Änderung des VW-Gesetzes), das am 10. Dezember 2008 im Bundesgesetzblatt (BGBl. I S. 2369) verkündet wurde und am 11. Dezember 2008 in Kraft trat.


8 Durch dieses Gesetz wurden u. a. § 2 und § 4 Abs. 1 VW-Gesetz aufgehoben. § 4 Abs. 3 VW-Gesetz blieb hingegen unberührt.


Vorverfahren


9 Mit Schreiben vom 24. Dezember 2007 bat die Kommission die Bundesrepublik Deutschland, ihr die Maßnahmen mitzuteilen, die sie ergriffen habe oder zu ergreifen beabsichtige, um dem Urteil Kommission/Deutschland nachzukommen.


10 Mit Schreiben vom 6. März 2008 antwortete die Bundesrepublik Deutschland, das Bundesministerium der Justiz habe zur Durchführung des Urteils Kommission/Deutschland einen Gesetzesentwurf vorbereitet, der sich in Abstimmung zwischen den beteiligten Ressorts befinde.


11 Mit Mahnschreiben vom 5. Juni 2008 forderte die Kommission die Bundesrepublik Deutschland auf, binnen zwei Monaten Stellung zu nehmen.


12 Am selben Tag übermittelte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission den vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf des Gesetzes, mit dem das Urteil Kommission/Deutschland umgesetzt werden sollte, mit dem Hinweis, das Gesetzgebungsverfahren werde unverzüglich eingeleitet.


13 Am 1. Dezember 2008 übersandte die Kommission der Bundesrepublik Deutschland eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie diese aufforderte, binnen zwei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu erlassen, um dem Urteil Kommission/Deutschland nachzukommen.


14 Die Kommission führte aus, nach dem Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung des Urteils Kommission/Deutschland sollten § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 VW-Gesetz zwar aufgehoben, § 4 Abs. 3 VW-Gesetz aber erhalten bleiben. Auch seien ihr gegenüber keine Angaben zur Änderung der Stellen der Satzung gemacht worden, die die beanstandeten Bestimmungen des VW-Gesetzes wiedergäben.


15 Am 10. Dezember 2008 wurde das Gesetz zur Änderung des VW-Gesetzes mit gegenüber dem genannten Entwurf im Wesentlichen unverändertem Inhalt verkündet.


16 Mit Schreiben vom 17. Dezember 2008 schlug die Bundesrepublik Deutschland der Kommission vor, an den Gerichtshof gemäß Art. 43 seiner Satzung und Art. 102 seiner Verfahrensordnung einen gemeinsamen Antrag auf Auslegung des Urteils Kommission/Deutschland zu richten.


17 Da die Kommission auf diesen Vorschlag nicht einging, antwortete die Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 29. Januar 2009 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme, dass sie das Urteil Kommission/Deutschland mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes vollständig umgesetzt habe.


18 Nach Auffassung der Kommission ist die Bundesrepublik Deutschland dem Urteil Kommission/Deutschland nur teilweise nachgekommen; sie hat daher am 21. Februar 2012 die vorliegende Klage erhoben.


Zur Klage


Zur Rüge betreffend die Satzung von Volkswagen


Vorbringen der Parteien


19 Die Kommission vertritt die Auffassung, zur vollständigen Durchführung des Urteils Kommission/Deutschland müsse nicht nur das VW-Gesetz, sondern auch die Satzung von Volkswagen geändert werden. Deren aktuelle Fassung enthalte in ihrem § 25 Abs. 2 nämlich noch immer eine Bestimmung über die herabgesetzte Sperrminorität, die im Wesentlichen der in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz entspreche. Darüber hinaus sei die Bestimmung über das Höchststimmrecht erst im September 2009 - also neun Monate nach Aufhebung der entsprechenden Bestimmung des VW-Gesetzes - aus der Satzung entfernt worden. Der Gerichtshof habe in Randnr. 26 seines Urteils jedoch festgehalten, dass die genannten Satzungsbestimmungen im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr als eine nationale Maßnahme anzusehen seien.


20 Stelle der Gerichtshof fest, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen habe, so habe dieser nach Art. 260 Abs. 1 AEUV „die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben". Da die öffentliche Hand durch das Land Niedersachsen Aktionär von Volkswagen sei, habe sie als solcher daher nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, die notwendigen Änderungen der Bestimmungen der Satzung dieser Gesellschaft vorzuschlagen.


21 Die Bundesrepublik Deutschland vertritt die Auffassung, die Rüge der unterbliebenen Änderung der Satzung von Volkswagen sei unzulässig, da Letztere nicht Gegenstand des Urteils Kommission/Deutschland gewesen sei. In diesem Urteil habe der Gerichtshof nämlich nur bestimmte Vorschriften des VW-Gesetzes untersucht.


22 Jedenfalls könne die Bundesrepublik Deutschland, da es sich bei Volkswagen um ein privates Unternehmen handele, nicht für dessen Handlungen und Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden; nach § 119 Abs. 1 Nr. 5 des Aktiengesetzes vom 6. September 1965 (BGBl. I S. 1089) in der durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vom 27. April 1998 (BGBl. I S. 786) geänderten Fassung könne die Satzung einer Aktiengesellschaft nämlich nur in der Hauptversammlung durch deren Aktionäre geändert werden.


Würdigung durch das Gericht


23 Das in Art. 260 Abs. 2 AEUV vorgesehene Verfahren ist als ein besonderes gerichtliches Verfahren der Durchführung von Urteilen des Gerichtshofs, mit anderen Worten als ein Vollstreckungsverfahren, anzusehen (Urteil vom 12. Juli 2005, Kommission/Frankreich, C‑304/02, Slg. 2005, I‑6263, Randnr. 92). Daher können in seinem Rahmen nur Verstöße gegen Verpflichtungen des Mitgliedstaats aus dem Vertrag behandelt werden, die der Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 258 AEUV als begründet angesehen hat (Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Portugal, C‑457/07, Slg. 2009, I‑8091, Randnr. 47).


24 In dem Urteil Kommission/Deutschland hat der Gerichtshof aber überhaupt nicht geprüft, ob die Satzung von Volkswagen einen Verstoß gegen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus dem AEU-Vertrag begründet. Gegenstand des Rechtsstreits, in dem dieses Urteil ergangen ist, war nämlich ausschließlich die Vereinbarkeit bestimmter Vorschriften des VW-Gesetzes mit dem AEU-Vertrag.


25 Entgegen dem Vorbringen der Kommission hat der Gerichtshof in Randnr. 26 des Urteils Kommission/Deutschland nicht festgestellt, dass die Satzung von Volkswagen als solche als nationale Maßnahme anzusehen wäre, sondern, dass „[s]elbst wenn das VW-Gesetz ... lediglich eine Vereinbarung wiedergeben sollte, die als privatrechtlicher Vertrag zu qualifizieren wäre, ... die Tatsache, dass diese Vereinbarung Gegenstand eines Gesetzes geworden ist, [genügt,] um sie im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr als eine nationale Maßnahme anzusehen".


26 Folglich ist die Rüge der unterbliebenen Änderung der Satzung von Volkswagen als unzulässig zurückzuweisen.


Zur Rüge in Bezug auf das VW-Gesetz


Vorbringen der Parteien


27 Nach Auffassung der Kommission geht aus dem Urteil Kommission/Deutschland hervor, dass die Herabsetzung der Sperrminorität gemäß § 4 Abs. 3 des VW-Gesetzes eine selbständige Verletzung von Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellt. Dafür gebe es in dem Urteil mehrere Anhaltspunkte, u. a. folgende:


- Die Kommission habe drei separate Rügen geltend gemacht, von denen sich eine auf die durch § 4 Abs. 3 VW-Gesetz vorgeschriebene Herabsetzung der Sperrminorität bezogen habe, und keine davon sei vom Gerichtshof zurückgewiesen worden, wie aus Randnr. 81 des genannten Urteils hervorgehe.


- Der Bundesrepublik Deutschland seien die gesamten Kosten auferlegt worden, was zeige, dass die Kommission mit allen ihren Rügen eines Verstoßes gegen Art. 63 Abs. 1 AEUV obsiegt habe. Die Feststellung in Randnr. 83 des Urteils Kommission/Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland sei „mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen" unterlegen, so dass ihr die Kosten auferlegt worden seien, sei eher darauf zurückzuführen, dass die Klage insoweit abgewiesen worden sei, als sie auch auf eine Verletzung der in Art. 49 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit gestützt gewesen sei.


- Aus den Randnrn. 48 und 50 des Urteils Kommission/Deutschland gehe hervor, dass die Herabsetzung der Sperrminorität den öffentlichen Akteuren, die Aktionäre von Volkswagen seien, als solche die Möglichkeit gebe, wesentlichen Einfluss auf diese Gesellschaft auszuüben, ohne die nach dem allgemeinen Gesellschaftsrecht erforderlichen Investitionen zu tätigen.


- In Randnr. 51 des Urteils Kommission/Deutschland habe der Gerichtshof festgestellt, dass das Höchststimmrecht den mit der Herabsetzung der Sperrminorität geschaffenen Rahmen „vervollständige", und somit die Auffassung vertreten, dass dieser Rahmen für sich alleine bereits diesen öffentlichen Akteuren die Möglichkeit einräume, mit einer solchen, geringen Investition wesentlichen Einfluss auszuüben.


- Schließlich werde in Randnr. 54 des Urteils Kommission/Deutschland der Ausdruck „Beschränkungen" im Plural verwendet und würden § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz dort mit der Konjunktion „und" und nicht „in Verbindung mit" verknüpft, woraus sich schließen lasse, dass diese beiden Bestimmungen zwei voneinander unabhängige Beschränkungen darstellten.


28 Im Übrigen ergebe sich aus einer Gesamtbetrachtung der Randnrn. 40, 41, 51, 52 und 72 bis 81 des Urteils Kommission/Deutschland, dass das Höchststimmrecht gemäß § 2 Abs. 1 VW-Gesetz auch für sich genommen eine ungerechtfertigte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstelle. Dem Urteil lasse sich mithin nicht entnehmen, dass es der Bundesrepublik Deutschland freistünde, von den beiden Bestimmungen diejenige auszuwählen, die zur Durchführung des Urteils aufzuheben sei.


29 Was den Tenor des Urteils Kommission/Deutschland angeht, vertritt die Kommission die Auffassung, dass er im Licht der Entscheidungsgründe zu verstehen sei, insbesondere der genannten Punkte.


30 Die Bundesrepublik Deutschland vertritt die Auffassung, aus Nr. 1 des Tenors des Urteils Kommission/Deutschland gehe klar hervor, dass der vom Gerichtshof festgestellte Verstoß gegen Art. 63 Abs. 1 AEUV aus § 2 Abs. 1 VW-Gesetz „in Verbindung mit" § 4 Abs. 3 VW-Gesetz resultiere. Danach begründe erst das Zusammenspiel zwischen der Bestimmung über das Höchststimmrecht (§ 2 Abs. 1 VW-Gesetz) und der über die herabgesetzte Sperrminorität (§ 4 Abs. 3 VW-Gesetz) die in diesem Urteil festgestellte Vertragsverletzung.


31 Diese Schlussfolgerung werde insbesondere durch die Randnrn. 30, 43, 51, 54, 56 und 78 des Urteils Kommission/Deutschland bestätigt.


32 Dass der Bundesrepublik Deutschland die Kosten auferlegt worden seien, besage nichts; wie sich aus Randnr. 83 des Urteils Kommission/Deutschland ergebe, beruhe die Kostenentscheidung auf der Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen „im Wesentlichen" unterlegen sei.


Würdigung durch den Gerichtshof


33 Nach Art. 260 Abs. 1 AEUV hat, wenn der Gerichtshof feststellt, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, dieser Staat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben.


34 Nach der Verkündung des Urteils Kommission/Deutschland hat die Bundesrepublik Deutschland § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 VW-Gesetz innerhalb der ihr von der Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist aufgehoben. § 4 Abs. 3 VW-Gesetz blieb hingegen in Kraft.


35 Mithin ist zu prüfen, ob die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 260 Abs. 1 AEUV auch verpflichtet war, die letztgenannte Bestimmung des VW-Gesetzes aufzuheben oder zu ändern, um das Urteil Kommission/Deutschland vollständig durchzuführen.


36 Das wäre der Fall, wenn der Gerichtshof in diesem Urteil eine selbständige Vertragsverletzung durch § 4 Abs. 3 VW-Gesetz festgestellt hätte.


37 Insofern ist der Tenor des Urteils Kommission/Deutschland von besonderer Bedeutung, in dem die vom Gerichtshof festgestellte Vertragsverletzung bezeichnet wird. In Nr. 1 des Tenors hat der Gerichtshof, insoweit von der Klageschrift der Kommission abweichend, für Recht erkannt und entschieden: „Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, dass sie § 4 Abs. 1 sowie § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 3 [VW-Gesetz] beibehalten hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. [63 Abs. 1 AEUV] verstoßen."


38 Mit der Verwendung der Konjunktion „sowie" und des Ausdrucks „in Verbindung mit" hat der Gerichtshof zwischen der Vertragsverletzung durch § 4 Abs. 1 VW-Gesetz und derjenigen durch die gemeinsame Anwendung von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz unterschieden.


39 Anders als bei § 4 Abs. 1 VW-Gesetz hat der Gerichtshof bei § 4 Abs. 3 VW-Gesetz also keine selbständige Vertragsverletzung festgestellt, sondern nur in Verbindung mit § 2 Abs. 1 VW-Gesetz.


40 Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die Entscheidungsgründe des Urteils Kommission/Deutschland, in deren Licht dessen Tenor zu verstehen ist (vgl. Urteile vom 16. März 1978, Bosch, 135/77, Slg. 1978, 855, Randnr. 4, und vom 29. Juni 2010, Kommission/Luxemburg, C‑526/08, Slg. 2010, I‑6151, Randnr. 29).


41 Insofern geht erstens aus Randnr. 30 des Urteils Kommission/Deutschland hervor, dass sich der Gerichtshof dafür entschieden hat, die Rügen der Unvereinbarkeit von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz mit Art. 63 Abs. 1 AEUV gemeinsam zu prüfen, nicht nur wegen des Vorbringens der Parteien, sondern auch wegen der „kumulativen Wirkungen [dieser] beiden ... Bestimmungen".


42 Zweitens hat der Gerichtshof in Randnr. 43 des Urteils Kommission/Deutschland hervorgehoben, dass die Wirkungen des in § 2 Abs. 1 VW-Gesetz vorgesehenen Höchststimmrechts „in Wechselwirkung mit dem in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz vorgesehenen Erfordernis" zu untersuchen sind.


43 Drittens hat der Gerichtshof in Randnr. 50 des Urteils Kommission/Deutschland festgestellt, dass § 4 Abs. 3 VW-Gesetz ein Instrument bereitstellt, das den öffentlichen Akteuren ermöglicht, sich mit einer geringeren Investition als nach dem allgemeinen Gesellschaftsrecht erforderlich eine Sperrminorität vorzubehalten, mittels deren sie wichtige Entscheidungen blockieren können. Er hat dann aber in Randnr. 51 ausgeführt, dass § 2 Abs. 1 VW-Gesetz, indem er das Stimmrecht auf ebenfalls 20 % begrenzt, „einen rechtlichen Rahmen [vervollständigt], der diesen öffentlichen Akteuren die Möglichkeit einräumt, mit einer solchen, geringeren Investition wesentlichen Einfluss auszuüben".


44 Viertens hat der Gerichtshof in Randnr. 56 des Urteils Kommission/Deutschland festgestellt, dass „das Zusammenspiel von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. [63 Abs. 1 AEUV] dar[stellt]". Diese Feststellung unterscheidet sich deutlich von derjenigen in Randnr. 68 des genannten Urteils, wo es heißt, dass „§ 4 Abs. 1 VW-Gesetz eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. [63 Abs. 1 AEUV] darstellt".


45 Die Begründung des Urteils Kommission/Deutschland bestätigt also die aus Nr. 1 des Tenors gezogene Schlussfolgerung, dass der Gerichtshof keine selbständige Vertragsverletzung durch § 4 Abs. 3 VW-Gesetz, sondern nur in Verbindung mit § 2 Abs. 1 VW-Gesetz festgestellt hat.


46 Das Vorbringen der Kommission ist nicht geeignet, dieses Ergebnis in Frage zu stellen.


47 Erstens beruht die Auslegung der Randnrn. 48 und 50 des Urteils Kommission/Deutschland durch die Kommission auf einer unvollständigen Erfassung des Urteils, die weder den inneren Bezügen zwischen den einzelnen Stellen des Urteils noch der Gesamtheit der Begründung und ihrer Kohärenz Rechnung trägt. Indem er in Randnr. 50 des Urteils Kommission/Deutschland festgestellt hat, dass § 4 Abs. 3 VW-Gesetz „ein Instrument bereit[stellt], das den öffentlichen Akteuren ermöglicht, sich mit einer geringeren Investition als nach dem allgemeinen Gesellschaftsrecht erforderlich eine Sperrminorität vorzubehalten, mittels deren sie wichtige Entscheidungen blockieren können", hat sich der Gerichtshof nämlich, anders als die Kommission offenbar meint, nicht zu der Frage geäußert, ob diese Bestimmung für sich genommen gegen Art. 63 Abs. 1 AEUV verstößt. Außerdem ist diese Randnummer in Zusammenhang mit der ihr vorausgegangenen Argumentation zu sehen; in den Randnrn. 30 und 43 des Urteils Kommission/Deutschland hat der Gerichtshof nämlich ausgeführt, dass § 2 Abs. 1 VW-Gesetz „in Wechselwirkung mit" § 4 Abs. 3 VW-Gesetz zu prüfen ist, u. a. wegen ihrer „kumulativen Wirkungen". Was Randnr. 48 des Urteils Kommission/Deutschland angeht, auf die die Kommission ebenfalls Bezug nimmt, genügt der Hinweis, dass sie lediglich eine rein tatsächliche Feststellung enthält, nämlich, dass „bei Erlass des VW-Gesetzes im Jahr 1960 der Bund und das Land Niedersachsen die beiden Hauptaktionäre von Volkswagen - einer gerade erst privatisierten Gesellschaft - waren, an der sie jeweils 20 % des Kapitals hielten".


48 Zweitens ist Randnr. 51 des Urteils Kommission/Deutschland auch im Licht der übrigen Urteilsbegründung zu sehen. Indem er festgestellt hat, dass die Begrenzung des Stimmrechts einen rechtlichen Rahmen vervollständigt, der diesen öffentlichen Akteuren die Möglichkeit einräumt, mit einer geringeren Investition wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen von Volkswagen auszuüben, hat der Gerichtshof nämlich entgegen dem Vorbringen der Kommission die Komplementarität von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz hervorgehoben, und nicht die selbständigen Wirkungen der letztgenannten Bestimmung.


49 Drittens lässt sich entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht bereits daraus, dass in Randnr. 54 des Urteils Kommission/Deutschland der Ausdruck „Beschränkungen" im Plural oder die Konjunktion „und" verwendet wird, schließen, dass § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz zwei voneinander unabhängige Beschränkungen der Kapitalfreiheit darstellten. Der Gerichtshof hat nämlich in derselben Randnummer festgestellt, dass mit diesen beiden anderen Bestimmungen „ein Instrument" bereitgestellt wird, das die Möglichkeit für die Anleger einschränken kann, sich an der Gesellschaft zu beteiligen, um dauerhafte und direkte Wirtschaftsbeziehungen mit ihr zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die es ihnen ermöglichen, sich effektiv an ihrer Verwaltung oder ihrer Kontrolle zu beteiligen. Außerdem hat der Gerichtshof in Randnr. 56 des Urteils Kommission/Deutschland festgestellt, dass „das Zusammenspiel von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG dar[stellt]".


50 Viertens ist der Gerichtshof in Randnr. 81 des Urteils Kommission/Deutschland zwar den auf einen Verstoß gegen Art. 63 Abs. 1 AEUV gestützten Rügen der Kommission gefolgt; mangels entgegenstehender ausdrücklicher Hinweise bedeutet dies aber nicht, dass er festgestellt hätte, dass § 4 Abs. 3 VW-Gesetz eine selbständige Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellt.


51 Fünftens ist auch die Tatsache, dass der Gerichtshof der Bundesrepublik Deutschland die gesamten Kosten auferlegt hat, nicht geeignet, die Auffassung der Kommission zu stützen. Wie aus Randnr. 83 des Urteils Kommission/Deutschland hervorgeht, beruht die Kostenentscheidung auf der Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland „mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen" unterlegen ist.


52 Mithin ist die Bundesrepublik Deutschland, indem sie § 4 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 VW-Gesetz aufgehoben und somit die Verbindung zwischen letztgenannter Bestimmung und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz beseitigt hat, ihren Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV fristgemäß nachgekommen.


53 Folglich ist die entsprechende Rüge zurückzuweisen und die Klage insgesamt abzuweisen.


Kosten


54 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.


Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:


1. Die Klage wird abgewiesen.


2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.


Unterschriften

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