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Wirtschaftsrecht
27.07.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Keine Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch Ziel, regionale Versorgung des Bausektors mit Kies, Sand und Ton sicherzustellen

EuGH, Urteil vom 13.7.2023 – C-106/22, Xella Magyarország Építőanyagipari Kft. gegen Innovációs és Technológiai Miniszter

ECLI:EU:C:2023:568

Volltext: BB-Online BBL2023-1729-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

Die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit sind dahin auszulegen, dass sie einem in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen entgegenstehen, der es erlaubt, den Erwerb von Eigentum an einer als strategisch angesehenen gebietsansässigen Gesellschaft durch eine andere gebietsansässige Gesellschaft, die zu einer Gruppe von in mehreren Mitgliedstaaten niedergelassenen Gesellschaften gehört, in der ein Unternehmen aus einem Drittstaat einen bestimmenden Einfluss hat, mit der Begründung zu verbieten, dass dieser Erwerb das Interesse des Staates an der Gewährleistung der Versorgungssicherheit zugunsten des Bausektors, insbesondere auf lokaler Ebene, in Bezug auf Grundrohstoffe wie Kies, Sand und Ton beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV in Verbindung mit den Erwägungsgründen 4 und 6 der Verordnung (EU) 2019/452 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union (ABl. 2019, L 79 I, S. 1) sowie mit Art. 4 Abs. 2 EUV.

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Xella Magyarország Építőanyagipari Kft. (im Folgenden: Xella Magyarország), einer Gesellschaft ungarischen Rechts, und dem Innovációs és Technológiai Miniszter (Minister für Innovation und Technologie, Ungarn, im Folgenden: Minister) wegen eines Bescheids, mit dem dieser den Erwerb sämtlicher Anteile an der „JANES ÉS TÁRSA“ Szállítmányozó, Kereskedelmi és Vendéglátó Kft. (im Folgenden: Janes és Társa), einer anderen Gesellschaft ungarischen Rechts, die als „strategisch“ im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften über die Einführung eines Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen angesehen wird, untersagt hat.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 4, 6, 10, 13 und 36 der Verordnung 2019/452 heißt es:

„(4) Diese Verordnung berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, vom freien Kapitalverkehr abzuweichen, wie es in Artikel 65 Absatz 1 Buchstabe b AEUV vorgesehen ist. Mehrere Mitgliedstaaten haben Maßnahmen eingeführt, mit denen sie einen solchen Verkehr aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit beschränken können. …

(6) Ausländische Direktinvestitionen fallen in den Bereich der gemeinsamen Handelspolitik. Gemäß Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe e AEUV hat die Union in der gemeinsamen Handelspolitik die ausschließliche Zuständigkeit.

(10) Die Mitgliedstaaten, die über einen Überprüfungsmechanismus verfügen, sollten unter Wahrung des Unionsrechts die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um eine Umgehung ihrer Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse zu verhindern. Das sollte Investitionen aus der Union umfassen, die über künstliche Vereinbarungen vorgenommen werden, die die wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht widerspiegeln und die Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse umgehen, wenn der Investor tatsächlich im Eigentum oder unter der Kontrolle einer natürlichen Person oder eines Unternehmens aus einem Drittstaat steht. Die im AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit und der freie Kapitalverkehr bleiben davon unberührt.

(13) Bei der Ermittlung, ob eine ausländische Direktinvestition möglicherweise die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung beeinträchtigt, sollten die Mitgliedstaaten und die Kommission alle einschlägigen Faktoren berücksichtigen können, einschließlich der Auswirkungen auf kritische Infrastrukturen, Technologien, insbesondere Schlüsseltechnologien, und für die Sicherheit oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung grundlegende Ressourcen, deren Störung, Ausfall, Verlust oder Vernichtung beträchtliche Folgen in einem Mitgliedstaat oder der Union hätte. In dieser Hinsicht sollten die Mitgliedstaaten und die Kommission ferner in der Lage sein, den Kontext und die Umstände der ausländischen Direktinvestition zu berücksichtigen, insbesondere ob ein ausländischer Investor direkt oder indirekt – zum Beispiel in Form beträchtlicher Finanzausstattung, einschließlich Subventionen – von der Regierung eines Drittstaats kontrolliert wird oder ob er staatlich gelenkte Auslandsinvestitionsprojekte oder ‑programme durchführt.

(36) Stellt eine ausländische Direktinvestition einen Zusammenschluss dar, der in den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates [vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1)] fällt, so sollte die vorliegende Verordnung unbeschadet der Anwendung des Artikels 21 Absatz 4 der Verordnung … Nr. 139/2004 angewandt werden. …“

 

4          Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung 2019/452 bestimmt:

„Mit dieser Verordnung wird ein Rahmen geschaffen für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union durch die Mitgliedstaaten aus Gründen der Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung …“

 

5          In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1. ‚ausländische Direktinvestition‘ eine durch einen ausländischen Investor getätigte Investition jeder Art zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen dem ausländischen Investor und dem Unternehmer oder Unternehmen, für den bzw. das das Kapital zur fortgesetzten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem Mitgliedstaat bereitgestellt wird, einschließlich Investitionen, die eine effektive Beteiligung an der Verwaltung oder Kontrolle eines Unternehmens ermöglichen, das eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt;

2. ‚ausländischer Investor‘ eine natürliche Person aus einem Drittstaat oder ein Unternehmen aus einem Drittstaat, die bzw. das eine ausländische Direktinvestition plant oder getätigt hat;

4. ‚Überprüfungsmechanismus‘ ein allgemein anwendbares Rechtsinstrument, beispielsweise ein Gesetz oder eine Vorschrift, und die damit zusammenhängenden verwaltungstechnischen Anforderungen, Durchführungsvorschriften oder ‑anleitungen, mit denen die Bestimmungen, Bedingungen und Verfahren für die Prüfung, Untersuchung, Genehmigung, Knüpfung an Bedingungen, Untersagung oder Rückabwicklung ausländischer Direktinvestitionen aus Gründen der Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung festgelegt werden;

7. ‚Unternehmen aus einem Drittstaat‘ ein nach dem Recht eines Drittstaates gegründetes oder anderweitig errichtetes Unternehmen.“

 

6          Art. 3 („Überprüfungsmechanismen der Mitgliedstaaten“) Abs. 6 dieser Verordnung lautet:

„Die Mitgliedstaaten, die bereits über einen Überprüfungsmechanismus verfügen, sorgen für die Aufrechterhaltung, Änderung oder Ergreifung von Maßnahmen, die zur Erkennung und Verhinderung der Umgehung der Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse erforderlich sind.“

 

7          Art. 4 („Faktoren, die von den Mitgliedstaaten oder der Kommission berücksichtigt werden können“) der Verordnung sieht vor:

„(1) Bei der Feststellung, ob eine ausländische Direktinvestition die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung voraussichtlich beeinträchtigt, können die Mitgliedstaaten und die Kommission ihre potenziellen Auswirkungen unter anderem auf folgende Aspekte berücksichtigen:

c) die Versorgung mit kritischen Ressourcen, einschließlich Energie oder Rohstoffen, sowie die Nahrungsmittelsicherheit;

(2) Bei der Feststellung, ob eine ausländische Direktinvestition die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung voraussichtlich beeinträchtigt, können die Mitgliedstaaten und die Kommission insbesondere auch berücksichtigen,

a) ob der ausländische Investor direkt oder indirekt von der Regierung, einschließlich staatlicher Stellen oder der Streitkräfte, eines Drittstaats, unter anderem aufgrund der Eigentümerstruktur oder in Form beträchtlicher Finanzausstattung, kontrolliert wird,

…“

 

8          Art. 6 („Kooperationsmechanismus im Zusammenhang mit ausländischen Direktinvestitionen, die einer Überprüfung unterzogen werden“) Abs. 1 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten alle ausländischen Direktinvestitionen in ihrem Hoheitsgebiet mit, die einer Überprüfung unterzogen werden, indem sie die in Artikel 9 Absatz 2 dieser Verordnung genannten Informationen so bald wie möglich bereitstellen. …“

 

9          In Art. 9 dieser Verordnung heißt es:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Informationen, die gemäß Artikel 6 Absatz 1 mitgeteilt wurden oder um die die Kommission und andere Mitgliedstaaten gemäß Artikel 6 Absatz 6 und Artikel 7 Absatz 5 ersucht haben, der Kommission und den ersuchenden Mitgliedstaaten unverzüglich zur Verfügung gestellt werden.

(2) Die Informationen gemäß Absatz 1 umfassen folgende Angaben:

a) die Eigentümerstruktur des ausländischen Investors und des Unternehmens, in dem die ausländische Direktinvestition geplant ist oder abgeschlossen wurde, einschließlich Informationen zum tatsächlichen Investor und zur Kapitalbeteiligung;

…“

 

Ungarisches Recht

10        § 276 des Veszélyhelyzet megszűnésével összefüggő átmeneti szabályokról és a járványügyi készültségről szóló 2020. évi LVIII. törvény (Gesetz Nr. LVIII von 2020 über Übergangsregelungen im Zusammenhang mit der Beendigung einer Gefahrenlage und über die Epidemievorsorge) vom 17. Juni 2020 (Magyar Közlöny 2020/144) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Vmtv) bestimmt:

„Im Sinne dieses Untertitels bezeichnen:

1. ‚Interesse des Staates‘: das öffentliche Interesse an der Sicherheit und der Funktionsfähigkeit der Netze und Anlagen sowie an der Kontinuität der Versorgung, das nicht unter das sektorale Recht der Europäischen Union und das nationale Recht fällt;

2. ‚ausländischer Investor‘:

a) eine im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, in einem anderen Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums oder in der Schweizerischen Eidgenossenschaft eingetragene juristische Person oder sonstige Organisation, die eine bestimmte Tätigkeit im Sinne von § 277 Abs. 2 ausübt und über einen bestimmten Eigentumsanteil an bzw. Einfluss in einer in Ungarn ansässigen Gesellschaft verfügt, wenn die Person, die einen ‚mehrheitlichen Einfluss‘ in einer juristischen Person oder in einer sonstigen Organisation im Sinne des Polgári Törvénykönyvről szóló 2013. évi V. törvény (Gesetz Nr. V von 2013 über das Bürgerliche Gesetzbuch) vom 26. Februar 2013 (Magyar Közlöny 2013/31) in der für das Ausgangsverfahren geltenden Fassung (im Folgenden: Bürgerliches Gesetzbuch) hat, Staatsangehöriger eines Staates außerhalb der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweizerischen Eidgenossenschaft oder eine in einem solchen Staat eingetragene juristische Person oder sonstige Organisation ist,

b) Staatsangehöriger eines Staates außerhalb der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweizerischen Eidgenossenschaft oder eine in einem solchen Staat eingetragene juristische Person oder sonstige Organisation;

3. ‚strategische Gesellschaft‘: eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eine geschlossene Aktiengesellschaft oder eine offene Aktiengesellschaft mit Sitz in Ungarn, deren ausgeübte Tätigkeit als Haupttätigkeit oder als sonstiger Tätigkeitsbereich gemäß der Regierungsverordnung zu den Sektoren Energie, Verkehr und Kommunikation sowie zu einem Sektor von strategischer Bedeutung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis e der [Verordnung 2019/452] – mit Ausnahme der Finanzinfrastruktur – gehört.“

 

11        § 277 Vmtv sieht vor:

„(1) Wenn der Vertragsabschluss, die einseitige Willenserklärung oder die Entscheidung der Gesellschaft … eine in den Abs. 2 bis 4 genannte Folge hat, ist im Fall einer strategischen Gesellschaft im Zusammenhang mit den folgenden Rechtsgeschäften eine Mitteilung an den [Minister] und dessen Kenntnisnahme der Mitteilung erforderlich:

a) die unentgeltliche oder entgeltliche Übertragung der gesamten oder eines Teils der Eigentumsanteile an einer strategischen Gesellschaft durch jedweden Rechtstitel der Eigentumsübertragung, einschließlich der Einlage,

(2) In den Sektoren nach § 276 Nr. 3 ist, wenn der Gesamtwert der Investition 350 Mio. ungarische Forint (HUF) (etwa 935 720 Euro) oder mehr beträgt, in der Mitteilung anzugeben:

a) jeder ‚ausländische Investor‘ im Sinne von § 276 Nr. 2 Buchst. a …, wenn er infolge

aa) des Erwerbs einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung … an der betreffenden strategischen Gesellschaft auf der Grundlage eines in Abs. 1 Buchst. a bis c genannten Rechtsgeschäfts,

unmittelbar oder mittelbar einen ‚mehrheitlichen Einfluss‘ in dieser strategischen Gesellschaft im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs erwirbt,

…“

 

12        In § 283 Vmtv heißt es:

„(1) Der Minister prüft unverzüglich nach Erhalt der Mitteilung, ob

b) im Fall des Erwerbs des Eigentums, des Eigentumsrechts an Anleihen, des Nießbrauchrechts oder des Betriebsrechts durch den Anmelder die staatlichen Interessen, die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung Ungarns verletzt oder gefährdet werden bzw. die Möglichkeit des Eintretens einer solchen Verletzung oder Gefährdung besteht, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit der Erfüllung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft im Einklang mit Art. 36, Art. 52 Abs. 1 und Art. 65 Abs. 1 AEUV,

(2) Der Minister muss spätestens am 30. Arbeitstag nach Eingang der Mitteilung …:

a) wenn die in Abs. 1 Buchst. b bis e genannten Umstände nicht vorliegen, die Kenntnisnahme von der Mitteilung schriftlich bestätigen,

b) wenn die in Abs. 1 Buchst. b bis e genannten Umstände vorliegen, ein Verbot des Erwerbs des Eigentums, des Eigentumsrechts an Anleihen, des Nießbrauchrechts oder des Betriebsrechts erlassen …

…“

 

13        Anhang 1 des Magyarországi székhelyű gazdasági társaságok gazdasági célú védelméhez szükséges tevékenységi körök meghatározásáról szóló 289/2020. (VI. 17.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 289/2020 [VI. 17.] über die Festlegung der Tätigkeitsbereiche, die für den wirtschaftsbezogenen Schutz der in Ungarn ansässigen Unternehmen erforderlich sind) vom 17. Juni 2020 (Magyar Közlöny 2020/145) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung enthält die Tätigkeitsbereiche, auf deren Grundlage eine Handelsgesellschaft mit Sitz in Ungarn einem Sektor von strategischer Bedeutung für die Zwecke des Vmtv zugeordnet wird. Die in diesem Anhang aufgeführte Kategorie Nr. 22 bezieht sich auf „Rohstoffe von kritischem Interesse“, der dortige Unterpunkt 8 lautet „Sonstiger Bergbau“.

 

14        § 8:2 („Einfluss“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht vor:

„(1) ‚Mehrheitlicher Einfluss‘ ist ein Verhältnis, bei dem eine natürliche oder juristische Person (‚Einflussinhaber‘) über mehr als die Hälfte der Stimmrechte oder einen bestimmenden Einfluss in einer juristischen Person verfügt.

(2) Ein Einflussinhaber verfügt über einen bestimmenden Einfluss innerhalb einer juristischen Person, wenn er je nach Sachlage Mitglied oder Anteilseigner dieser juristischen Person ist und

a) das Recht hat, die Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans dieser juristischen Person zu wählen oder abzuberufen, oder

b) die anderen Mitglieder oder Anteilseigner dieser juristischen Person auf der Grundlage einer Vereinbarung mit dem Einflussinhaber in gleicher Weise wie dieser abstimmen oder über diesen ihre Stimmrechte ausüben, sofern sie zusammen mehr als die Hälfte der Stimmen halten.

(3) Ein mehrheitlicher Einfluss wird auch dann angenommen, wenn dem Einflussinhaber die in den Abs. 1 und 2 genannten Rechte durch mittelbaren Einfluss gewährt werden.“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15        Xella Magyarország, eine Gesellschaft ungarischen Rechts, ist auf dem ungarischen Baustoffmarkt tätig und stellt hauptsächlich Betonbauelemente her. Sie steht zu 100 % im Eigentum der Xella Baustoffe GmbH, einer Gesellschaft deutschen Rechts, die ihrerseits ebenfalls zu 100 % im Eigentum der Xella International SA steht, einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts. Die letztgenannte Gesellschaft steht wiederum indirekt im Eigentum der LSF10 XL Investments Ltd, der Dachgesellschaft des in Bermuda registrierten Lone-Star-Konzerns, der letztlich J. P. G., einem irischen Staatsangehörigen, gehört.

 

16        Mit Beschluss vom 29. März 2017 erhob die Kommission im Rahmen der Kontrolle eines Unternehmenszusammenschlusses nach der Verordnung Nr. 139/2004 keine Einwände gegen die Übernahme der Kontrolle über Xella International durch die in Luxemburg ansässige LSF10 XL Bidco SCA, eine Tochtergesellschaft von Lone Star Fund X mit Sitz in den Vereinigten Staaten und Lone Star Fund X mit Sitz in Bermuda, und erklärte den Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt vereinbar.

 

17        Janes és Társa, eine Gesellschaft ungarischen Rechts, steht im Eigentum der „PAN3“ Építőipari és Kereskedelmi Kft., einer anderen Gesellschaft ungarischen Rechts. Ihre Haupttätigkeit besteht im Abbau von Kies, Sand und Ton in ihrem Steinbruch in Lázi (Komitat Győr-Moson-Sopron, Bezirk Pannonhalma, Ungarn), einer Tätigkeit, die in der Unterkategorie 8 der in Anhang I der Regierungsverordnung Nr. 289/2020 genannten Kategorie 22 genannt ist, wonach sie als „strategische Gesellschaft“ im Sinne von § 276 Nr. 3 Vmtv eingestuft wird. Ihr Marktanteil auf dem ungarischen Markt für die Produktion der betreffenden Rohstoffe soll 0,52 % betragen.

 

18        Xella Magyarország kauft etwa 90 % der Jahresproduktion von Janes és Társa, um diese Rohstoffe in ihrem Werk in der Nähe des Steinbruchs zu Kalksandsteinen zu verarbeiten; die restlichen 10 % dieser Produktion werden von lokalen Bauunternehmen gekauft.

 

19        Am 29. Oktober 2020 schloss Xella Magyarország einen Kaufvertrag über den Erwerb von 100 % der Anteile an Janes és Társa und richtete eine Mitteilung gemäß § 277 Abs. 1 Buchst. a Vmtv an den Minister, in der sie diesen ersuchte, das betreffende Rechtsgeschäft gemäß § 283 Abs. 2 Buchst. a Vmtv zur Kenntnis zu nehmen oder zu bestätigen, dass diese Formalität in Anbetracht ihrer Eigentümerstruktur nicht erforderlich sei.

 

20        Mit Bescheid vom 30. Dezember 2020 untersagte der Minister den Vollzug des gemäß § 283 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. b Vmtv angemeldeten Rechtsgeschäfts, wobei er sich auf den in § 276 Nr. 1 Vmtv genannten Grund des „staatlichen Interesses“ berief.

 

21        Das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), das vorlegende Gericht, hob diesen Bescheid mit der Begründung auf, dass der Minister die Verfahrensvorschriften nicht beachtet und seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen sei, und gab ihm auf, ein neues Verfahren durchzuführen.

 

22        Mit dem im neuen Verfahren ergangenen Bescheid vom 20. Juli 2021 (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehender Bescheid) untersagte der Minister unter Berufung auf § 283 Abs. 2 Buchst. b Vmtv unter Berücksichtigung von § 276 Nrn. 1 und 2, Art. 277 Abs. 2 Buchst. a Doppelbuchst. aa sowie Art. 283 Abs. 1 Buchst. b Vmtv erneut die Durchführung des angemeldeten Rechtsgeschäfts.

 

23        In der Begründung dieses Bescheids stufte der Minister Xella Magyarország als „ausländischen Investor“ im Sinne von § 276 Nr. 2 Vmtv ein, weil sie indirekt im Eigentum von LSF10 XL Investments, einer in Bermuda registrierten Gesellschaft, stehe. Außerdem seien die Sicherheit und die Berechenbarkeit der Rohstoffgewinnung und ‑versorgung von strategischer Bedeutung. Die Covid‑19-Pandemie habe deutlich gemacht, dass innerhalb kurzer Zeit schwerwiegende Störungen der globalen Lieferketten auftreten könnten, was negative Auswirkungen habe, die der nationalen Wirtschaft schaden könnten. Er wies darauf hin, dass die Produktion von Bauzuschlagstoffen wie Sand, Kies und Schotter für den Bausektor bereits von ungarischen Herstellern mit ausländischem Kapital beherrscht werde.

 

24        Sollte Janes és Társa indirekt Eigentum einer in Bermuda registrierten Gesellschaft werden, stelle dies ein langfristiges Risiko für die Sicherheit der Rohstoffversorgung im Bausektor dar, insbesondere in der Region, in der dieses Unternehmen seinen Sitz habe, da Janes és Társa in dieser Region einen Marktanteil von 20,77 % habe. Der Erwerb eines strategischen Unternehmens durch einen ausländischen Eigentümer würde im Übrigen den Anteil der Unternehmen in inländischem Besitz verringern, was im weiteren Sinne dem „Interesse des Staates“ schaden könne.

 

25        Xella Magyarország focht den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid vor dem vorlegenden Gericht an und machte geltend, dass dieser Bescheid eine willkürliche Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstelle, im Hinblick auf insbesondere die Art. 54 und 55 AEUV, die Gesellschaften mit Sitz in der Union parallel die Niederlassungsfreiheit gewährten. Letztlich stehe sie im Eigentum einer Person, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union sei. Der Erwerb sei ihr einzig aufgrund des „nicht nationalen“ Charakters ihrer Eigentümerstruktur untersagt worden. Außerdem könne die mangelnde Klarheit des Begriffs „Interesse des Staates“ im Sinne des Vmtv gegen den fundamentalen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoßen.

 

26        Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV – auch unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe 4 und 6 der Verordnung 2019/452 und von Art. 4 Abs. 2 EUV – dahin auszulegen, dass er die Möglichkeit der Regelung gemäß Titel 85 des Vmtv und insbesondere der Regelung gemäß § 276 Nrn. 1 und 2 Buchst. a und § 283 Abs. 1 Buchst. b Vmtv umfasst?

2. Falls die erste Frage bejaht wird: Schließt der bloße Umstand, dass die Kommission im Hinblick auf die Beteiligungskette des indirekten ausländischen Investors ein Fusionskontrollverfahren durchgeführt, ihre Befugnisse ausgeübt und den Zusammenschluss genehmigt hat, die Ausübung des Ermessens nach Maßgabe des anwendbaren mitgliedstaatlichen Rechts aus?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

 

27        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV in Verbindung mit den Erwägungsgründen 4 und 6 der Verordnung 2019/452 sowie mit Art. 4 Abs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einem in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen entgegensteht, der es erlaubt, den Erwerb von Eigentum an einer als strategisch angesehenen gebietsansässigen Gesellschaft durch eine andere gebietsansässige Gesellschaft, die zu einer Gruppe von in mehreren Mitgliedstaaten niedergelassenen Gesellschaften gehört, in der ein Unternehmen aus einem Drittstaat einen bestimmenden Einfluss hat, mit der Begründung zu verbieten, dass dieser Erwerb das Interesse des Staates an der Gewährleistung der Versorgungssicherheit zugunsten des Bausektors, insbesondere auf lokaler Ebene, in Bezug auf Grundrohstoffe wie Kies, Sand und Ton beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht.

 

28        Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit dem Erwerb sämtlicher Anteile an Janes és Társa, einer Gesellschaft ungarischen Rechts, deren Haupttätigkeit der Abbau bestimmter Grundrohstoffe, insbesondere von Kies, Sand und Ton, ist und die aufgrund dieser Abbautätigkeit als „strategische“ Gesellschaft gilt, durch Xella Magyarország, eine Gesellschaft ungarischen Rechts, die Teil einer Unternehmensgruppe ist, deren Dachgesellschaft ihren Sitz in Bermuda hat und die letztlich einem irischen Staatsangehörigen gehört. Dieser Erwerb wurde dem zuständigen ungarischen Minister mitgeteilt, der ihn mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid im Wesentlichen mit der Begründung untersagte, dass er das Interesse des Staates an der Gewährleistung der Versorgungssicherheit zugunsten des Bausektors, insbesondere auf lokaler Ebene, in Bezug auf diese Grundrohstoffe beeinträchtige oder zu beeinträchtigen drohe.

 

Zur Bestimmung des einschlägigen Unionsrechts

 

29        Was erstens die Bezugnahme auf die Verordnung 2019/452 in der ersten Frage betrifft, ist festzustellen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erwerb, wie auch die Kommission im Wesentlichen ausgeführt hat, nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

 

30        Dieser Anwendungsbereich wird nämlich in Art. 1 Abs. 1 der Verordnung 2019/452 definiert, wonach mit dieser Verordnung ein Rahmen geschaffen wird für die Überprüfung „ausländischer Direktinvestitionen“ in der Union durch die Mitgliedstaaten aus Gründen der Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung.

 

31        Aus Art. 2 der Verordnung 2019/452, insbesondere aus den in den Nrn. 1, 2 und 7 dieses Artikels enthaltenen Begriffsbestimmungen, ergibt sich aber, dass der Begriff „ausländische Direktinvestition“ bestimmte Investitionen umfasst, die auf dauerhafte und direkte Beteiligungen eines „ausländischen Investors“ abzielen, wobei die Definition dieses Begriffs die Wendung „Unternehmen aus einem Drittstaat“ enthält, die „ein nach dem Recht eines Drittstaates gegründetes oder anderweitig errichtetes Unternehmen“ bezeichnet.

 

32        Daraus folgt, dass in Bezug auf Investitionen von Unternehmen der Anwendungsbereich der Verordnung 2019/452 auf Investitionen in der Union beschränkt ist, die von nach dem Recht eines Drittstaates gegründeten oder anderweitig errichteten Unternehmen getätigt werden.

 

33        Dagegen findet der in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen nicht nur in einem solchen Fall von Investitionen von Unternehmen aus einem Drittstaat Anwendung, sondern auch in dem im Ausgangsverfahren gerade in Rede stehenden Fall, in dem es sich um Investitionen von in Ungarn oder in einem anderen Mitgliedstaat registrierten Unternehmen handelt, in denen ein in einem Drittstaat registriertes Unternehmen einen „mehrheitlichen Einfluss“ im Sinne von § 8:2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat.

 

34        Da der zweite Fall nicht von Art. 1 der Verordnung 2019/452 erfasst wird, fallen diese nationalen Rechtsvorschriften folglich insoweit nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung, so dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erwerb, der den zweiten Fall betrifft, ebenfalls nicht unter diese Verordnung fällt.

 

35        Dies kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass sich aus Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung 2019/452 ergibt, dass die Eigentümerstruktur des ausländischen Investors als Faktor bei der Beurteilung eines potenziellen Risikos für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, das von der betreffenden Investition ausgeht, berücksichtigt werden kann.

 

36        Dieser Beurteilungsfaktor zielt nämlich speziell darauf ab, „ob der ausländische Investor direkt oder indirekt von der Regierung, einschließlich staatlicher Stellen oder der Streitkräfte, eines Drittstaats, unter anderem aufgrund der Eigentümerstruktur oder in Form beträchtlicher Finanzausstattung, kontrolliert wird“.

 

37        Da sich dieser Beurteilungsfaktor jedoch ausdrücklich nur auf die Eigentümerstruktur des „ausländischen Investors“ bezieht, einen Begriff, der in Art. 2 Nr. 2 der Verordnung 2019/452 definiert ist und auf Unternehmen in einem Drittstaat beschränkt ist, impliziert er nicht, dass der Anwendungsbereich dieser Verordnung, wie er in ihrem Art. 1 Abs. 1 definiert ist, erweitert würde, um Investitionen von Unternehmen einzubeziehen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats errichtet sind und in denen ein Unternehmen aus einem Drittstaat einen mehrheitlichen Einfluss hat.

 

38        Im Übrigen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bescheid ergangen ist, um einen Versuch der Umgehung des Überprüfungsmechanismus im Sinne von Art. 3 Abs. 6 der Verordnung 2019/452 zu bekämpfen.

 

39        Die Akten enthalten nämlich nichts, was darauf hindeuten könnte, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Situation handelt, die im zehnten Erwägungsgrund dieser Verordnung genannt ist, der die Tragweite von Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung erläutert, nämlich „Investitionen aus der Union …, die über künstliche Vereinbarungen vorgenommen werden, die die wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht widerspiegeln und die Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse umgehen, wenn der Investor tatsächlich im Eigentum oder unter der Kontrolle einer natürlichen Person oder eines Unternehmens aus einem Drittstaat steht“.

 

40        Was zweitens die Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 EUV in der ersten Frage betrifft, erläutert das vorlegende Gericht nicht, inwieweit sie für die Beantwortung dieser Frage relevant ist, so dass sie nicht anhand dieser Bestimmung zu prüfen ist.

 

41        Drittens und letztens ist zur Bestimmung der im Ausgangsverfahren möglicherweise einschlägigen Grundfreiheit festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof zwar darum ersucht, die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick auf die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über den freien Kapitalverkehr und insbesondere auf Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV zu prüfen, dass diese Rechtsvorschriften, insbesondere ihre Bestimmungen, die den Erwerb einer Beteiligung durch einen „ausländischen Investor“ betreffen, die ihm einen „mehrheitlichen Einfluss“ in einer strategischen Gesellschaft verleiht, wie sie in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid angewandt werden und auf die sich die erste Vorlagefrage ausdrücklich bezieht, jedoch unter eine andere Grundfreiheit, nämlich die Niederlassungsfreiheit, fallen.

 

42        Nach ständiger Rechtsprechung fallen nämlich nationale Rechtsvorschriften, die auf Beteiligungen anwendbar sind, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, in den Anwendungsbereich der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit und nicht in den der Vorschriften über die Kapitalverkehrsfreiheit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2019, Associação Peço a Palavra u. a., C‑563/17, EU:C:2019:144, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

43        Im vorliegenden Fall ist der Erwerb sämtlicher Anteile an einer Gesellschaft unbestreitbar ausreichend, um es der erwerbenden Gesellschaft zu ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Leitung und die Kontrolle der erworbenen Gesellschaft auszuüben (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 2019, Associação Peço a Palavra u. a., C‑563/17, EU:C:2019:144, Rn. 44).

 

44        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 54 AEUV u. a. Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts in den Genuss der Niederlassungsfreiheit kommen sollen, sofern sie nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, d. h. Gesellschaften, die die Staatszugehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.

 

45        Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Ort des satzungsmäßigen Sitzes, der Hauptverwaltung oder der Hauptniederlassung der in Art. 54 AEUV genannten Gesellschaften ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art, C‑167/01, EU:C:2003:512, Rn. 97).

 

46        Zum anderen geht aus keiner Bestimmung des Unionsrechts hervor, dass die Herkunft der Anteilseigner – seien es natürliche oder juristische Personen – von in der Union ansässigen Gesellschaften für deren Recht, sich auf die Niederlassungsfreiheit zu berufen, eine Rolle spielen würde, da der Unionsstatus einer Gesellschaft gemäß Art. 54 AEUV vom Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes und der Rechtsordnung, der sie zugehörig ist, und nicht von der Staatsangehörigkeit ihrer Anteilseigner abhängt (Urteil vom 1. April 2014, Felixstowe Dock and Railway Company u. a., C‑80/12, EU:C:2014:200, Rn. 40).

 

47        Daraus folgt, dass eine Gesellschaft wie Xella Magyarország, auch wenn sie zu einer Gruppe von Gesellschaften gehört, deren Dachgesellschaft in einem Drittstaat ansässig ist, das Recht hat, sich auf die vom AEU‑Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit zu berufen, wenn sie der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zugehörig und damit eine Gesellschaft der Union ist.

 

48        Daher kann die Herkunft der Anteilseigner von Xella Magyarország keinesfalls geltend gemacht werden, um Xella Magyarország die Niederlassungsfreiheit abzusprechen, zumal feststeht, dass der letztliche Eigentümer der Gruppe, zu der sie gehört, irischer Staatsangehöriger ist.

 

49        Somit ist die erste Vorlagefrage allein anhand der Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Niederlassungsfreiheit zu prüfen.

 

Zur Zulässigkeit der ersten Frage

50        Zur Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage ist, da in der vorstehenden Randnummer festgestellt worden ist, dass sie allein anhand der Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Niederlassungsfreiheit zu beantworten ist, darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, nicht anwendbar sind (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

51        Insoweit scheinen sämtliche Merkmale, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt kennzeichnen, auf den ersten Blick nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinauszuweisen, da zum einen sowohl Xella Magyarország, die erwerbende Gesellschaft, als auch Janes és Társa, die erworbene Gesellschaft, in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften sind, und zum anderen diese Frage die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit den Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Niederlassungsfreiheit betrifft, die es diesem Mitgliedstaat erlauben, Investitionen in gebietsansässige Gesellschaften zu verbieten, die als strategische Gesellschaften angesehen werden.

 

52        Der Umstand, dass die erwerbende Gesellschaft zu einer Gruppe von Gesellschaften gehört, die u. a. in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind, stellt jedoch einen für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage relevanten Auslandsbezug dar, auch wenn diese Gesellschaften bei dem betreffenden Erwerb offenbar keine unmittelbare Rolle spielen.

 

53        Die erste Frage des vorlegenden Gerichts betrifft nämlich ausdrücklich die Vereinbarkeit von § 276 Nr. 2 Buchst. a Vmtv, einer von diesem Gericht angeführten und in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid angewandten Bestimmung, mit dem Unionsrecht.

 

54        Nach dem Wortlaut dieser nationalen Bestimmung gelten die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften für gebietsansässige und für in anderen Mitgliedstaaten registrierte Gesellschaften, die eine Beteiligung an einem strategischen Unternehmen erwerben, sofern es sich bei der Person, die einen mehrheitlichen Einfluss in diesen Gesellschaften hat, um eine natürliche oder juristische Person aus einem Drittstaat handelt.

 

55        So wurde diese nationale Bestimmung in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid im Hinblick darauf angewandt, dass die Unternehmensgruppe, nämlich die Xella-Gruppe, zu der neben der erwerbenden Gesellschaft u. a. die Muttergesellschaft deutschen Rechts und deren „Großmuttergesellschaft“ luxemburgischen Rechts gehören, ihrerseits von einer anderen Unternehmensgruppe, nämlich der Lone-Star-Gruppe, kontrolliert wird, deren Dachgesellschaft in einem Drittstaat, im vorliegenden Fall in Bermuda, registriert ist.

 

56        Folglich ist die grenzüberschreitende Eigentümerstruktur der erwerbenden gebietsansässigen Gesellschaft innerhalb der Union, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt kennzeichnet, ein für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage relevanter Auslandsbezug.

 

57        Diese Frage ist daher zulässig.

 

Zum Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

58        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind als „Beschränkungen der freien Niederlassung“ im Sinne von Art. 49 AEUV alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteil vom 27. Februar 2019, Associação Peço a Palavra u. a., C‑563/17, EU:C:2019:144, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

59        Da die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften, wie sie in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid angewandt wurden, es den Behörden eines Mitgliedstaats erlauben, einer Gesellschaft der Union aus Gründen der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung den Erwerb einer Beteiligung an einer gebietsansässigen „strategischen“ Gesellschaft zu verbieten, die es ihr ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Leitung und die Kontrolle der letztgenannten Gesellschaft auszuüben, stellt sie offensichtlich eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dieser Gesellschaft der Union dar, und zwar im vorliegenden Fall eine besonders schwerwiegende Beschränkung.

 

 Zur eventuellen Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

 

60        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Beschränkung einer durch den AEU‑Vertrag verbürgten Grundfreiheit nur zulässig, wenn die betreffende nationale Maßnahme einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses entspricht, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 3. Februar 2021, Fussl Modestraße Mayr, C‑555/19, EU:C:2021:89, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

61        Was das Vorliegen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses betrifft, der geeignet ist, die in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften enthaltene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese Rechtsvorschriften, soweit sie es ermöglichen, u. a. den Erwerb des Eigentums an gebietsansässigen strategischen Gesellschaften zu verbieten, wenn dieser Erwerb ein Interesse des Staates beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht, im Einklang u. a. mit Art. 52 Abs. 1 AEUV die Sicherheit und Kontinuität der „Erfüllung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft“ gewährleisten sollen.

 

62        Im vorliegenden Fall geht es, wie sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid gemäß seiner Zusammenfassung in der Vorlageentscheidung ergibt, um das besondere Interesse des Staates, die Sicherheit und Kontinuität der Versorgung des Bausektors, insbesondere auf lokaler Ebene, mit bestimmten Grundrohstoffen, nämlich Kies, Sand und Ton, zu gewährleisten, die aus einer Abbautätigkeit im nationalen Hoheitsgebiet stammen.

 

63        Insoweit sieht Art. 52 Abs. 1 AEUV vor, dass eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein kann.

 

64        Nach ständiger Rechtsprechung können rein wirtschaftliche Gründe, die mit der Förderung der nationalen Wirtschaft oder deren gutem Funktionieren verbunden sind, keine Beeinträchtigungen der in den Verträgen verbürgten Grundfreiheiten rechtfertigen (Urteil vom 27. Februar 2019, Associação Peço a Palavra u. a., C‑563/17, EU:C:2019:144, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

65        Der Gerichtshof hat hingegen anerkannt, dass wirtschaftliche Überlegungen, mit denen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, oder die Gewährleistung einer Dienstleistung von allgemeinem Interesse einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen können, der eine Beschränkung einer der in den Verträgen verbürgten Grundfreiheiten rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Oktober 2013, Essent u. a., C‑105/12 bis C‑107/12, EU:C:2013:677, Rn. 53, und vom 27. Februar 2019, Associação Peço a Palavra u. a., C‑563/17, EU:C:2019:144, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

66        Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht jedoch hervor, dass die Mitgliedstaaten zwar im Wesentlichen weiterhin frei nach ihren nationalen Bedürfnissen bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, doch sind diese Gründe im Unionsrecht, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von einer im AEU‑Vertrag verbürgten Grundfreiheit rechtfertigen, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Nachprüfung durch die Organe der Union bestimmt werden kann. So können die öffentliche Ordnung und Sicherheit nur geltend gemacht werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Diese Gründe dürfen überdies nicht von ihrer eigentlichen Funktion losgelöst und in Wirklichkeit für wirtschaftliche Zwecke geltend gemacht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2000, Église de scientologie, C‑54/99, EU:C:2000:124, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

67        Speziell zu einem mit der Versorgungssicherheit zusammenhängenden Ziel hat der Gerichtshof entschieden, dass ein solches Ziel nur geltend gemacht werden kann, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil vom 8. November 2012, Kommission/Griechenland, C‑244/11, EU:C:2012:694, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

68        Im Fall von Unternehmen, die in den Bereichen Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität tätig sind und Gemeinwohldienstleistungen erbringen, hat der Gerichtshof entschieden, dass das Ziel, im Krisenfall die Versorgung mit solchen Produkten oder die Erbringung solcher Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats sicherzustellen, einen Grund der öffentlichen Sicherheit darstellen und somit gegebenenfalls eine Beeinträchtigung einer Grundfreiheit rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2012, Kommission/Griechenland, C‑244/11, EU:C:2012:694, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

69        Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ziel, die Versorgungssicherheit für den Bausektor, insbesondere auf lokaler Ebene, in Bezug auf bestimmte Grundrohstoffe, nämlich Kies, Sand und Ton, die aus einer Abbautätigkeit stammen, zu gewährleisten, entspricht jedoch nicht in gleicher Weise wie das Ziel der Versorgungssicherheit in den Bereichen Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität einem „Grundinteresse der Gesellschaft“ im Sinne der in den Rn. 66 und 67 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung; die in Rn. 68 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung ist daher nicht auf dieses Ziel anzuwenden.

 

70        Außerdem ist festzustellen, dass dieses Ziel im vorliegenden Fall geltend gemacht wird, um eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen, die, wie in Rn. 59 des vorliegenden Urteils ausgeführt, als besonders schwerwiegend anzusehen ist, da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bescheid die Ausübung dieser Grundfreiheit durch eine Gesellschaft der Union ausschließt.

 

71        Im Übrigen ist aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – nicht ersichtlich, dass der durch den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheid untersagte Erwerb wirklich zu einer „tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung“ der Versorgung mit Grundrohstoffen für den lokalen Bausektor im Sinne der in den Rn. 66 und 67 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung führen könnte.

 

72        Insoweit scheint nämlich zum einen festzustehen, dass die erwerbende Gesellschaft bereits vor diesem Erwerb etwa 90 % der Produktion der betreffenden Grundrohstoffe der Abbauanlage der erworbenen Gesellschaft gekauft hat, um diese in ihrer Fabrik in der Nähe dieser Abbauanlage zu verarbeiten, und dass die übrigen 10 % dieser Produktion von lokalen Bauunternehmen gekauft wurden.

 

73        Zum anderen ist allgemein bekannt, dass diese Grundrohstoffe aufgrund ihrer Natur einen relativ geringen Marktwert haben, vor allem im Vergleich zu ihren Transportkosten, so dass die Verwirklichung der Gefahr der Ausfuhr eines erheblichen Teils der Produktion dieser Abbauanlage anstelle des Verkaufs dieser Grundrohstoffe auf dem lokalen Markt in der Praxis wenig wahrscheinlich oder sogar ausgeschlossen erscheint.

 

74        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Niederlassungsfreiheit dahin auszulegen sind, dass sie einem in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen entgegenstehen, der es erlaubt, den Erwerb von Eigentum an einer als strategisch angesehenen gebietsansässigen Gesellschaft durch eine andere gebietsansässige Gesellschaft, die zu einer Gruppe von in mehreren Mitgliedstaaten niedergelassenen Gesellschaften gehört, in der ein Unternehmen aus einem Drittstaat einen bestimmenden Einfluss hat, mit der Begründung zu verbieten, dass dieser Erwerb das Interesse des Staates an der Gewährleistung der Versorgungssicherheit zugunsten des Bausektors, insbesondere auf lokaler Ebene, in Bezug auf Grundrohstoffe wie Kies, Sand und Ton beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht.

 

Zur zweiten Frage

75        Da das vorlegende Gericht seine zweite Frage nur für den Fall der Bejahung der ersten Frage gestellt hat und diese Frage verneint worden ist, ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 

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