BGH: Keine Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das OLG im Musterverfahren
BGH, Beschluss vom 6.12.2011 - II ZB 5/11
leitsatz
Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht besteht nicht, wenn das Prozessgericht im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG in demsel-ben Musterverfahren bereits zuvor einen Vorlagebeschluss mit identischem Feststel-lungsziel erlassen hat. In diesem Fall steht die Sperrwirkung des § 5 KapMuG dem Erlass eines weiteren Vorlagebeschlusses entgegen.
KapMuG § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2, § 5
sachverhalt
I. Die Rechtsbeschwerdeführer machen vor dem Landgericht Schadenser-satzansprüche wegen einer unzutreffenden Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1 geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das Landgericht mehrere Vorlagebeschlüsse mit gleichlautendem Feststellungsziel erlassen, um vom Ober-landesgericht beanstandete Fehler des ersten Vorlagebeschlusses zu berichtigen.
Das Landgericht hat am 12. November 2009 zunächst nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG beschlossen, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts „herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden." Mit Beschluss vom 11. März 2010 hat das Oberlandesgericht (OLG München, ZIP 2011, 51) diesen Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich er-gangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätze aufgeho-ben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das Landge-richt zurückgegeben. Dagegen haben die Kläger am 9. April 2010 die vom Oberlan-desgericht zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt. Das Landgericht hat sodann am 27. April 2010 und am 28. Juli 2010 weitere Vorlagebeschlüsse mit identischem Feststellungsziel erlassen. Den Vorlagebeschluss vom 27. April 2010 hat es mit Be-schluss vom 20. Januar 2011 selbst wieder aufgehoben.
Den Vorlagebeschluss vom 28. Juli 2010 hat das Oberlandesgericht mit Be-schluss vom 7. März 2011 aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das Landgericht zurückgegeben. Hiergegen richten sich die vom Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden der Kläger. Den Be-schluss des Oberlandesgerichts vom 11. März 2010 zum Vorlagebeschluss des Landgerichts vom 12. November 2009 hat der erkennende Senat inzwischen aufge-hoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (BGH, Beschluss vom 26. Juli 2011 - II ZB 11/10, ZIP 2011, 1790; zur Veröffentlichung in BGHZ be-stimmt).
II. Das Oberlandesgericht hat ausgeführt: Der Vorlagebeschluss vom 28. Juli 2010 sei schon deshalb aufzuheben, weil seinem Erlass die Sperrwirkung gemäß § 5 KapMuG des Beschlusses vom 12. November 2009 entgegenstehe. Dieser Be-schluss sei in demselben Ausgangsverfahren zwischen denselben Parteien ergan-gen und formuliere dasselbe Feststellungsziel. Leide der Vorlagebeschluss - wie hier der Beschluss vom 28. Juli 2010 - an schweren verfahrensrechtlichen Mängeln, ent-falle die in § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG angeordnete Bindung an den Vorlagebeschluss. Insoweit sei die Rechtsprechung zur Bindungswirkung eines Verweisungs-beschlusses nach § 281 ZPO entsprechend heranzuziehen.
aus den gründen
5 III. Die Rechtsbeschwerden der Kläger sind statthaft und zulässig. Sie haben aber in der Sache keinen Erfolg. Die in § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG ange-ordnete Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht besteht nicht, wenn das Prozessgericht im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG in demsel-ben Musterverfahren bereits zuvor einen Vorlagebeschluss mit identischem Feststel-lungsziel erlassen hat. In diesem Fall steht die Sperrwirkung des § 5 KapMuG dem Erlass eines weiteren Vorlagebeschlusses entgegen.
6 1. Die Rechtsbeschwerden sind statthaft, weil das Oberlandesgericht im ers-ten Rechtszug sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerden steht nicht entgegen, dass der Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KapMuG unanfechtbar ist. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit gilt nur für den Vorlagebeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der der Vorlagebe-schluss aufgehoben wird (BGH, Beschluss vom 26. Juli 2011 - II ZB 11/10, ZIP 2011, 1790 Rn. 6; zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).
7 2. Die Rechtsbeschwerden sind unbegründet. Das Oberlandesgericht war entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG an der Aufhebung des Vorlagebeschlusses vom 28. Juli 2010 gehindert. Der Vorlagebeschluss des Prozessgerichts ist zwar nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG für das Oberlandesgericht grundsätzlich bindend. Die Bindung gilt aber nicht uneingeschränkt.
8 a) Der erkennende Senat hat sich im vorliegenden Musterverfahren bereits in seinem Beschluss vom 26. Juli 2011 (II ZB 11/10, ZIP 2011, 1790; zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt) damit befasst, ob der geltend gemachte Anspruch Gegen-stand eines Musterverfahrens sein kann, ob das Feststellungsziel auf die Feststel-lung des Anspruchs selbst gerichtet ist und ob im Hinblick darauf die Bindungswir-kung nicht besteht. Aus den im Beschluss vom 26. Juli 2011 angeführten Gründen, auf die wegen der insoweit identischen Vorlagebeschlüsse verwiesen werden kann, ist dies nicht der Fall.
9 b) Dem Vorlagebeschluss vom 28. Juli 2010 kommt jedoch deshalb keine Bin-dungswirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG zu, weil das Landgericht damit unter Verstoß gegen § 5 KapMuG in demselben Ausgangsverfahren mit den-selben Parteien nach dem Vorlagebeschluss vom 12. November 2009 einen weite-ren Vorlagebeschluss mit identischem Feststellungsziel erlassen hat.
10 Nach § 5 KapMuG ist die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 7 KapMuG auszusetzenden Verfahren unzulässig. Durch die Vorschrift soll ausgeschlossen werden, dass ein Prozessgericht durch einen Vorlagebeschluss ein Musterverfahren zu derselben oder zu einer weiteren Anspruchsvoraussetzung ein-leitet, wenn bereits ein Musterverfahren für die gemäß § 7 KapMuG auszusetzenden Verfahren eingeleitet worden ist. Damit sollen parallel laufende Musterverfahren aus prozessökonomischen Gründen vermieden werden (vgl. Begründung des Regie-rungsentwurfs des Gesetzes zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren, BT-Drucks. 15/5091, S. 24). Demzufolge kann einem Vorlagebeschluss keine Bin-dungswirkung nach § 4 Abs. 2 Halbsatz 2 KapMuG zukommen, wenn er unter Ver-stoß gegen die Sperrwirkung des § 5 KapMuG erlassen wird. Anderenfalls wäre das Oberlandesgericht gezwungen, ein Musterverfahren durchzuführen (§ 6 KapMuG), das entgegen der Intention des § 5 KapMuG gar nicht hätte eingeleitet werden dür-fen (ebenso Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, § 5 Rn. 4; aA KK-KapMuG/Kruis, § 5 Rn. 16).
11 Die Sperrwirkung des § 5 KapMuG, die bereits mit Erlass des ersten Vorlage-beschlusses einsetzt und durch eine nicht rechtskräftige Aufhebung dieses Vorlage-beschlusses durch das Oberlandesgericht nicht entfällt, bindet in jedem Fall das Pro-zessgericht im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG. Auf den Streit über die Reich-weite des § 5 KapMuG (vgl. hierzu KK-KapMuG/Kruis, § 5 Rn. 4 f.; Maier-Reimer/Wilsing, ZGR 2006, 79, 98) kommt es danach nicht an.