BayObLG: Keine Aussetzung einer Abhilfeklage nach dem VDuG wegen anhängiger Unterlassungsklage
BayObLG, Beschluss vom 19.7.2024 – 102 VKl 1/24 e
Volltext: BB-Online BBL2024-1858-5
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Amtlicher Leitsatz
Keine Aussetzung eines Verbandsklageverfahrens mit Blick auf ein zuvor anhängig gewordenes, auf das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gestütztes Unterlassungsklageverfahren.
ZPO § 148 Abs. 1, VDuG § 11 Abs. 1
Sachverhalt
I.
Mit Schriftsatz vom 3. April 2024, beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen am 4. April 2024 und der Beklagten zugestellt am 6. Mai 2024, hat der Kläger eine Abhilfeklage nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz erhoben, die darauf gestützt ist, dass die Beklagte in unzulässiger Weise einseitig die Bedingungen mit zahlreichen Verbrauchern abgeschlossener Verträge über Videostreamingdienstleistungen geändert habe, indem die Verbraucher vor die Wahl gestellt worden seien, entweder ein höheres Entgelt zu entrichten oder eine Verschlechterung der Dienstleistung (insbesondere durch das Einspielen von Werbung) hinzunehmen. Dieses Verhalten stellt nach Auffassung des Klägers eine gemäß § 3 Abs. 1 UWG unzulässige irreführende geschäftliche Handlung im Sinne des § 5 Abs. 1 UWG dar, weshalb die betroffenen Verbraucher, die der Preiserhöhung zugestimmt haben, gemäß § 9 Abs. 2 UWG zum Schadensersatz berechtigt seien. Diejenigen betroffenen Verbraucher, die der Preiserhöhung nicht zugestimmt haben, hätten einen Schadensersatzanspruch aus § 327i Nr. 3 Alt. 2 i. V. m. § 327m Abs. 3 Satz 1 und § 280 Abs. 1 BGB, da die einseitige, nach Auffassung des Klägers unwirksame, Vertragsänderung zu einer Verschlechterung und damit zu einem Mangel des digitalen Produkts der Streamingdienstleistung im Sinne des § 327e BGB geführt habe, den die Beklagte nach der Vermutung des § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB zu vertreten habe.
Mit Schriftsatz vom 27. Mai 2024 beantragte die Beklagte, das Verfahren auszusetzen, bis der beim Landgericht München I anhängige Rechtsstreit zwischen dem Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. und der Beklagten mit dem Az. 33 O 3266/24 rechtskräftig entschieden worden ist. In diesem mit Klageschrift vom 14. März 2024 eingeleiteten Verfahren klagt die Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. gegen die Beklagte des hiesigen Verfahrens aufgrund desselben Verhaltens, gestützt auf § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 3, §§ 3, 5 Abs. 1 und 2 Nrn. 2, 3 und 7 UWG, auf Unterlassung. Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Landgericht München I mit Verfügung vom 7. Mai 2024 auf den 19. November 2024 bestimmt.
Ihren Aussetzungsantrag begründet die Beklagte im Wesentlichen damit, dass der Gesetzgeber von einer Zweistufigkeit im Verhältnis von Unterlassungsklage (auf der Grundlage des Unterlassungsklagengesetzes oder des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb) einerseits und Abhilfeklage nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz andererseits dergestalt ausgegangen sei, „dass zunächst das Verfahren über die Unterlassungsklage durchgeführt wird, in dem für die Abhilfeklage relevante Vorfragen (höchstrichterlich) geklärt werden, und erst im Anschluss über die Abhilfeklage entschieden wird“. Der Gesetzgeber habe „es jedoch versäumt, die erforderliche Koordination von auf das UWG/UKlaG gestützten Unterlassungsklagen und parallel erhobenen Abhilfeklagen nach dem neuen VDuG, die sich auf denselben Lebenssachverhalt und dieselben Rechtsfragen beziehen, entsprechend dem überragenden Leitbild der §§ 8, 11 VDuG, §§ 8 Abs. 1, 7 KapMuG und Art. 30 EuGVVO [im Folgenden: Brüssel Ia-VO] gesetzlich zu regeln“, weshalb eine planwidrige Regelungslücke bestehe, die im Wege einer „Gesamtrechtsanalogie“ zu den genannten Vorschriften zu schließen sei.
Der Kläger ist dieser Argumentation mit Schriftsatz vom 20. Juni 2024 entgegengetreten.
Aus den Gründen
II. Der Antrag war zurückzuweisen, da die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens mit Blick auf das beim Landgericht München I anhängige Verfahren 33 O 3266/24 nicht vorliegen.
1. Wie auch die Beklagte nicht verkennt, gibt es keine gesetzliche Bestimmung, welche die Aussetzung des Verfahrens ausdrücklich erlauben würde. Die einzigen Vorschriften, die sich mit einer Verfahrensaussetzung im Zusammenhang mit einer Verbandsklage (Abhilfeklage oder Musterfeststellungsklage) nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz befassen, sind § 11 Abs. 1 VDuG und § 148 Abs. 2 ZPO. Beide sind ‒ ebenso wie die allgemeine Bestimmung des § 148 Abs. 1 Alt. 1 ZPO ‒ nicht einschlägig.
a) § 11 Abs. 1 VDuG betrifft lediglich den Fall, dass ein Verbraucher bereits vor der Bekanntgabe einer Verbandsklage einen Unternehmer individuell verklagt hat und sich nach deren Bekanntgabe der Verbandsklage anschließt, welche sich auf denselben Lebenssachverhalt stützt wie die Individualklage und daraus ein vergleichbares Rechtsschutzziel ableitet (vgl. G. V.in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024 [Online-Version], § 11 VDuG Rn. 8; Wendtland in BeckOK ZPO, 52. Ed. 1. März 2024, § 148 Rn. 12). In einem solchen Fall ist die Individualklage auszusetzen bis über die Verbandsklage rechtskräftig entschieden ist, sie sich in sonstiger Weise erledigt hat oder der Verbraucher seine Anmeldung zum Verbandsklageregister wirksam zurückgenommen hat.
Hier steht nicht ein solches Konkurrenzverhältnis zwischen einer individuellen und einer kollektiven Klage inmitten, die auf denselben Lebenssachverhalt gestützt sind und vergleichbare Rechtsschutzziele verfolgen; vielmehr geht es um die Konkurrenz zweier kollektiver Klagen aufgrund desselben Lebenssachverhalts, aber mit unterschiedlichen Rechtsschutzzielen ([kollektiver] Schadensersatz vs. Unterlassung).
b) Aus demselben Grund kommt auch § 148 Abs. 2 ZPO nicht zum Tragen, der eine (fakultative) Aussetzung der Individualklage mit Blick auf eine im dargelegten Sinne einschlägige Verbandsklage für den Fall eröffnet, dass der Kläger weder Verbraucher noch gemäß § 1 Abs. 2 VDuG einem solchen gleichgestellt ist, so dass § 11 Abs. 1 VDuG nicht einschlägig ist (vgl. Wendtland, a. a. O.).
c) Die Voraussetzungen des § 148 Abs. 1 Alt. 1 ZPO sind ebenfalls nicht gegeben.
aa) Zu diesen Voraussetzungen hat der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 22. September 2021, V ZB 22/21, NJW-RR 2023, 210 Rn. 8; ebenso Beschluss vom 27. Juni 2019, IX ZB 5/19, WM 2019, 1461 Rn. 7) ausgeführt:
„Die Aussetzung der Verhandlung setzt […] Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Vorgreiflichkeit ist insbesondere gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- bzw. Interventionswirkung erzeugt […] Der Umstand, dass in dem anderen Verfahren über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung hingegen nicht. Andernfalls würde das aus dem Justizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigt. Eine Aussetzung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor […]“
bb) Hieran gemessen, kommt eine Aussetzung des vorliegenden Verfahrens mit Blick auf das zuvor beim Landgericht München I anhängig gewordene Verfahren 33 O 3266/24 nicht in Betracht.
(1) Es erscheint sogar fraglich, ob dies anders wäre, wenn in beiden Verfahren nicht nur auf der Beklagten-, sondern auch auf der Klägerseite Parteiidentität bestünde, wie dies G. V.(für das Verhältnis einer auf das Unterlassungsklagengesetz gestützten Unterlassungsklage zu einer Abhilfeklage nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz) auf der Grundlage zu erwägen scheint, dass Streitgegenstand der Unterlassungsklage gemäß § 1 UKlaG die Wirksamkeit der Klausel sei (MDR-Blog vom 13. Juli 2023 zu Nr. 4, Anlage B2).
§ 148 Abs. 1 Alt. 1 ZPO setzt voraus, dass das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, auf das es im auszusetzenden Verfahren ankommt, den Gegenstand des Bezugsverfahrens bildet; dass dieses Rechtsverhältnis auch im Bezugsverfahren nur Vorfrage der zu treffenden Entscheidung ist, genügt hingegen nicht (vgl. Greger in Zöller, ZPO, § 148 Rn. 5a). Es liegt jedoch nahe, dass hier eine Konstellation der zuletzt genannten Art vorliegt. Die Frage, ob das Verhalten der Beklagten eine unzulässige irreführende geschäftliche Handlung im Sinne des § 5 UWG darstellt, ist in beiden Verfahren lediglich eine Vorfrage für das Bestehen oder Nichtbestehen des verfahrensgegenständlichen Unterlassungsanspruchs (Verfahren vor dem Landgericht München I) bzw. des verfahrensgegenständlichen kollektiven Schadensersatzanspruchs (hiesiges Verfahren). In keinem der beiden Verfahren bildet das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer irreführenden geschäftlichen Handlung gemäß § 5 UWG den Gegenstand in dem Sinne, dass das Ergebnis des einen Verfahrens vom Ergebnis des anderen Verfahrens abhinge, das Ergebnis des anderen Verfahrens also für das Ergebnis des einen Verfahrens im oben dargelegten Sinne präjudiziell wäre.
(2) Die Frage, worin der der materiellen Rechtskraft gemäß § 322 Abs. 1 ZPO fähige Entscheidungssatz eines vom Landgericht München I im Verfahren 33 O 3266/24 gefällten Urteils bestünde, kann jedoch letztlich auf sich beruhen, da eine materielle Rechtskraft dieser Entscheidung im Verhältnis zwischen den Parteien des vorliegenden Verfahrens jedenfalls deshalb nicht einträte, weil der Kläger des Verfahrens vor dem Landgericht München I mit dem Kläger des hiesigen Verfahrens nicht identisch ist. Dass die Beklagte in diesem Umstand eine Verfahrensgestaltung sieht, die „offenbar insbesondere zum Zweck [erfolgt sei], eine Aussetzung der vorliegenden Abhilfeklage nach §§ 148, 322 ZPO zu umgehen“, ändert nichts daran, dass der Kläger im Verfahren vor dem Landgericht München I (VZBV e. V.) und der Kläger im hiesigen Verfahren (Verbraucherzentrale) berechtigt sind, unabhängig voneinander zu klagen, sofern beide in die Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbände nach § 4 des Unterlassungsklagengesetzes eingetragen sind (§ 8 Abs. 3 Nr. 3 UWG bzw. § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a] VDuG).
2. Die Argumentation der Beklagten, mit Blick auf die oben dargelegte Gesetzeslage bestehe eine planwidrige Regelungslücke, die im Wege einer „Gesamtrechtsanalogie“ zu §§ 8, 11 VDuG, § 8 Abs. 1, § 7 KapMuG und Art. 30 Brüssel Ia-VO dahingehend zu schließen sei, dass jedenfalls eine zuerst erhobene Unterlassungsklage nach dem Unterlassungsklagengesetz oder dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb einer später erhobenen Abhilfeklage nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz entgegenstehe, die daher auszusetzen sei, überzeugt nicht. Der Senat vermag schon keine planwidrige Regelungslücke zu erkennen (s. zu a]). Zudem lässt sich den von der Beklagten genannten Vorschriften der von ihr postulierte allgemeine Rechtssatz nicht entnehmen (s. zu b]). Im Übrigen erscheint die Argumentation der Beklagten auch immanent betrachtet nicht vollständig stimmig (s. zu c]).
a) Der Umstand, dass es mit Blick auf Konstellationen der vorliegenden Art (Konkurrenz zweier kollektiver Klagen, von denen die eine auf Unterlassung, die andere auf Schadensersatz gerichtet ist) keine Bestimmung zur Aussetzung eines der beiden Verfahren gibt, verweist nicht auf eine planwidrige Regelungslücke.
aa) Eine solche Planwidrigkeit will die Beklagte offenbar einer Äußerung in der Begründung des Entwurfs des Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetzes (BR-Drs. 145/23 S. 135 = BT-Drs. 20/6520 S. 118) entnehmen. Diese Äußerung betrifft Art. 9 Nr. 17 Buchst. b des Gesetzentwurfs, durch den § 6 UKlaG dahingehend geändert werden sollte, dass für Klagen nach dem Unterlassungsklagengesetz nicht mehr die Landgerichte, sondern die Oberlandesgerichte ausschließlich zuständig sind. Zur Begründung dieser am 13. Oktober 2023 in Kraft getretenen Änderung (vgl. Art. 31 Abs. 1 des Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetzes vom 8. Oktober 2023, BGBl. I Nr. 272) heißt es in der von der Beklagten in Bezug genommenen Passage: „[…] Künftig sollen die Oberlandesgerichte für die Klagen ausschließlich zuständig sein, um die Verfahren zu beschleunigen. Bei den Verfahren über Ansprüche nach dem UKlaG sind überwiegend Rechtsfragen zu klären, so dass eine Tatsacheninstanz ebenso wie bei Musterfeststellungsklagen und Abhilfeklagen nach dem VDuG ausreichend ist […] Da Unterlassungsklagen nun verjährungshemmende Wirkung haben, ist zu erwarten, dass sie künftig noch häufiger, insbesondere auch vor Abhilfeklagen erhoben werden, um bestimmte Rechtsfragen vorab höchstrichterlich zu klären und das Kostenrisiko für eine Abhilfeklage zu begrenzen.“
bb) Die von der Beklagten behauptete gesetzgeberische Intention, dass Unterlassungsklagen gegenüber Abhilfeklagen vorrangig sein sollen, lässt sich dem zitierten Text nicht entnehmen. Die Aussage erschöpft sich in der Erwartung, dass es künftig (faktisch) häufig so sein werde, dass Unterlassungsklagen vor Abhilfeklagen erhoben würden. Dass dies künftig (normativ) immer so sein müsse, wird damit aber erkennbar nicht zum Ausdruck gebracht. Erst recht fehlt jede Äußerung dazu, was denn folgen solle, wenn die „erwartete“ Reihenfolge nicht eingehalten wird.
cc) Hätte der Gesetzgeber die von der Beklagten angenommene Intention gehabt, hätte es zudem nahegelegen, dies im Gesetzestext oder der Gesetzesbegründung zum Ausdruck zu bringen. Der Gesetzentwurf enthielt drei Bestimmungen zur Aussetzung von Verfahren mit Blick auf andere Verfahren: In Art. 1 § 11 Abs. 1 VDuG-E war, wie bereits ausgeführt, vorgesehen, dass Einzelverfahren bis zur Erledigung der Verbandsklage oder der Rücknahme der Anmeldung zum Verbandsklageregister ausgesetzt werden müssen, sobald sich der klagende Verbraucher der Verbandsklage angeschlossen hat. Durch Art. 5 § 148 Abs. 3 ZPO-E sollte eine Aussetzungsmöglichkeit für den Fall geschaffen werden, dass in einem anderen Verfahren eine entscheidungserhebliche Beweisfrage bereits Gegenstand einer schriftlichen Begutachtung ist, damit dieses Gutachten im ausgesetzten Verfahren später gemäß § 411a ZPO verwertet werden kann. Und schließlich sollte durch Art. 6 Nr. 3 § 148 Abs. 2 ZPO-E der bisherige Wortlaut des § 148 Abs. 2 ZPO an die Änderungen durch das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz angepasst werden.
Der Gesetzgeber hat sich also in mehrfacher Hinsicht der Thematik der Aussetzung von Verfahren gewidmet, die ihm mithin klar vor Augen stand. Vor diesem Hintergrund ist es fernliegend anzunehmen, der Gesetzgeber habe es „versäumt“, das Verhältnis von Unterlassungsklagen (nach dem Unterlassungsklagengesetz oder dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) zu Abhilfeklagen zu regeln. Das Schweigen des Gesetzgebers spricht in Anbetracht der Umstände im Gegenteil dafür, dass nach seinem Willen ein Nebeneinander von Unterlassungsklagen und Abhilfeklagen möglich sein sollte.
b) §§ 8, 11 VDuG, § 8 Abs. 1 und § 7 KapMuG sowie Art. 30 Brüssel Ia-VO ist auch kein allgemeiner Rechtsgedanke des Inhalts zu entnehmen, „dass eine Parallelität verschiedener von qualifizierten Verbraucherverbänden im kollektiven Interesse erhobener Klagen, denen derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt und die sich im Kern mit denselben Rechtsfragen befassen, ausgeschlossen sein soll“. Die Bildung einer solchen Rechts- oder Gesamtanalogie (vgl. dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 204 ff.) scheitert daran, dass die genannten Vorschriften andere Konstellationen betreffen.
aa) Wie die Beklagte zutreffend ausführt, regelt § 8 Satz 1 VDuG, „dass ab Anhängigkeit einer Verbandsklage gegen denselben Unternehmer keine weitere Verbandsklage erhoben werden kann, deren Streitgegenstand denselben Lebenssachverhalt und dieselben Ansprüche oder dieselben Feststellungsziele betrifft“. Damit entspricht der Rechtsgedanke der Vorschrift dem Schutz, der durch die Rechtshängigkeitssperre des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO bewirkt wird (Scherer in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl. 2024, § 8 VDuG Rn. 1), der mangels Parteiidentität in beiden Verbandsklagen nicht (über § 13 Abs. 1 VDuG) unmittelbar zur Anwendung kommen kann (G. V.in Zöller, ZPO, § 8 VDuG Rn. 1). Hier hingegen fehlt es an der von der Beklagten selbst hervorgehobenen Identität der Ansprüche bzw. Feststellungsziele; denn während mit der Unterlassungsklage ein Verhalten für die Zukunft beendet werden soll, bezweckt die Abhilfeklage den (kollektiven) Ersatz bereits eingetretener Schäden.
bb) Aus demselben Grund lässt sich auch aus § 7 KapMuG nichts herleiten, der die Unzulässigkeit eines zweiten Musterverfahrens betrifft.
cc) § 11 VDuG betrifft, wie oben zu Buchst. a) dargelegt, die Sperrwirkung einer Verbandsklage gegenüber einer auf demselben Lebenssachverhalt fußenden Individualklage, weshalb aus dieser Vorschrift für die hier inmitten stehende Konkurrenz zweier kollektiver Klagen kein Rechtsgedanke hergeleitet werden kann.
dd) Auf § 8 Abs. 1 KapMuG lässt sich die Argumentation der Beklagten ebenfalls nicht stützen.
(1) Diese Bestimmung würde schon in ihrem eigentlichen Anwendungsbereich nicht die Möglichkeit eröffnen, die vorliegende Abhilfeklage mit Blick auf ein anhängiges Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz auszusetzen.
(a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 8. April 2014, XI ZB 40/11, WM 2014, 992 Rn. 19 f. m. w. N.; Beschluss vom 16. Juni 2009, XI ZB 33/08, WM 2009, 1359 Rn. 10 ff. [zu § 7 Abs. 1
KapMuG in der bis zum 31. Oktober 2012 geltenden Fassung]) betrifft die in § 8 Abs. 1 KapMuG normierte Aussetzungspflicht nur solche Rechtsstreitigkeiten, in denen ein Musterverfahrensantrag gemäß § 2 KapMuG (§ 1 KapMuG a. F.) gestellt werden kann.
(b) Diese Voraussetzung wäre im vorliegenden Fall nicht gegeben.
(aa) Die Frage, ob in einem Kollektivverfahren überhaupt ein Musterverfahrensantrag gestellt und das Kollektivverfahren dann nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt werden kann, wird selten erörtert, teilweise aber ausdrücklich verneint (Großerichter in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, § 2 KapMuG Rn. 34; wohl auch Kruis in Kölner Kommentar zum KapMuG, 2. Aufl. 2014, § 2 Rn. 11 [„Außerhalb des,normalenʼ erstinstanzlichen Verfahrens wird ein Musterverfahren in den meisten Fällen nicht in Betracht kommen.“]; Wasmuth in Asmus/Waßmuth, Kollektive Rechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2022, § 2 KapMuG Rn. 33 [mit Verweis auf Großerichter, a. a. O.]).
(bb) Darüber hinaus wird für eine Aussetzung auf der Grundlage des § 8 Abs. 1 KapMuG vorausgesetzt, dass in dem auszusetzenden Verfahren (wie hier nicht) ein Anspruch im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG geltend gemacht wird (Kruis, a. a. O., § 8 Rn. 14; Rathmann in Asmus/Waßmuth, a. a. O., § 8 KapMuG Rn. 3). Auch der von der Beklagten ins Feld geführte Melhardt (WM 2023, 1305 Rn. 21, Anlage B 11) befürwortet die Aussetzung einer Abhilfeklage mit Blick auf ein KapitalanlegerMusterverfahren nur unter der Voraussetzung, dass hinsichtlich des gleichen Gegenstands sowohl ein Kapitalanleger-Musterverfahren als auch eine Abhilfeklage angestrengt wird, was voraussetzt, dass die Abhilfeklage (anders als hier) einen der in § 1 Abs. 1 KapMuG genannten Gegenstände betrifft.
(2) Ergibt sich demnach, dass die vorliegende Abhilfeklage jedenfalls wegen ihres Gegenstands schon im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 8 Abs. 1 KapMuG nicht mit Blick auf ein Kapitalanleger-Musterverfahren ausgesetzt werden könnte, so kann diese Vorschrift erst recht nicht im Wege einer Analogie fruchtbar gemacht werden, um die von der Beklagten gewünschte Aussetzung des Abhilfeverfahrens mit Blick auf eine auf das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gestützte Unterlassungsklage zu begründen. Ein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass bei gleichem Gegenstand die Abhilfeklage gegenüber einem anderen Kollektivverfahren zurücktritt und auszusetzen wäre, lässt sich aus § 8 Abs. 1 KapMuG nicht ableiten.
ee) Auch der Hinweis auf Art. 30 Brüssel Ia-VO ist schließlich unbehelflich.
(1) Die Vorschrift betrifft den Fall, dass bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren, „die im Zusammenhang stehen“, anhängig sind; in diesem Fall kann jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen (Abs. 1). Dabei stehen Verfahren im Sinne des Art. 30 Brüssel Ia-VO im Zusammenhang, „wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“ (Abs. 3).
(2) Ob diese ‒ autonom auszulegende und weit zu verstehende (vgl. Gebauer/Berner in Gebauer/Wiedermann, Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl. 2021, Art. 30 EuGVVO Rn. 2) ‒ Norm auch den Fall zweier kollektiver Klagen betrifft, die zwar auf demselben Lebenssachverhalt beruhen, aber unterschiedliche Rechtsschutzziele verfolgen, mag dahinstehen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2019, I ZB 82/18, NJW-RR 2020, 98 zu einer individuellen negativen Feststellungsklage im Verhältnis zu einer individuellen Schadensersatzklage). Es geht jedenfalls nicht an, aus dieser einzig zur Diskussion verbliebenen Vorschrift des in Deutschland unmittelbar geltenden EU-Verordnungsrechts (Art. 288 Abs. 2 AEUV), die ausschließlich für den Fall gilt, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Klagen anhängig sind, im Wege einer „Gesamtrechtsanalogie“ für das autonome deutsche Recht zu schließen, dass für den Fall, dass an verschiedenen deutschen Gerichten zwei hinsichtlich ihrer Zielsetzung unterschiedliche Kollektivklagen zum selben Lebenssachverhalt anhängig sind, eines der Verfahren ausgesetzt werden kann (oder muss). Ein solcher Schluss wäre schon mit der Entscheidung des Gesetzgebers, an die Aussetzung eines Verfahrens grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen (§ 148 Abs. 1 ZPO), nicht zu vereinbaren.
c) Im Übrigen sprechen folgende Aspekte gegen den Rechtsstandpunkt der Beklagten:
aa) Der von der Beklagten dem Gesetzgeber zugeschriebenen Erwartung, „dass zunächst das Verfahren über die Unterlassungsklage durchgeführt wird, in dem für die Abhilfeklage relevante Vorfragen (höchstrichterlich) geklärt werden, und erst im Anschluss über die Abhilfeklage entschieden wird“, liegt erkennbar die Annahme zugrunde, dass diese höchstrichterliche Klärung im Verfahren der Unterlassungsklage zügiger erfolgen könne als im Rahmen der Abhilfeklage. Dies scheint jedoch mit Blick auf die hier erhobene, auf § 8 UWG gestützte Unterlassungsklage insofern fragwürdig. Für diese sind die Landgerichte erstinstanzlich ausschließlich zuständig (§ 14 Abs. 1 UWG), so dass der höchstrichterlichen Klärung (vorbehaltlich einer Sprungrevision gemäß § 566 ZPO) zunächst ein Berufungsverfahren zum Oberlandesgericht voranzugehen hat (§ 511 Abs. 1 ZPO, § 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG). Für die Abhilfeklage dagegen sind die Oberlandesgerichte (bzw. in Bayern das Bayerische Oberste Landesgericht) ausschließlich erstinstanzlich zuständig (§ 3 Abs. 1 VDuG), so dass gegen deren Entscheidung unmittelbar der Bundesgerichtshof angegangen werden kann (§ 18 Abs. 4 VDuG, § 133 GVG).
bb) Die Beklagte sieht die Gemeinsamkeit der beiden Klagen zugrunde liegenden Lebenssachverhalte darin, dass in beiden Verfahren zu klären sei, ob es sich bei der E-Mail vom 3. Januar 2024, mit welcher die Beklagte ihre Nutzer über die bevorstehenden Änderungen hinsichtlich der Leistung der Beklagten informiert hat, um eine irreführende geschäftliche Handlung im Sinne des § 5 UWG handle oder nicht. Diese Argumentation berücksichtigt nicht, dass der Kläger des hiesigen Verfahrens zwei verschiedene kollektive Schadensersatzansprüche geltend macht, nämlich zum einen für diejenigen Nutzer, die der Erhöhung des Entgelts zugestimmt haben (Antrag 1. a.) und zum anderen für diejenigen Nutzer, die das trotz Verschlechterung der Leistung nicht getan haben (Antrag 1. b.). Nur Antrag 1. a. ist jedoch auf das Vorliegen einer irreführenden geschäftlichen Handlung im Sinne des § 5 UWG gestützt, während Grundlage des Antrags 1. b. ein von der Beklagten gemäß § 280 Abs. 1 BGB zu vertretender Produktmangel im Sinne des § 327e BGB sein soll. Insoweit ist also entgegen der Behauptung der Beklagten der Lebenssachverhalt in beiden Verfahren nur teilweise identisch.
III. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 und 3 Satz 1 ZPO; vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2018, III ZB 71/18, NJW 2019, 376 Rn. 5) liegen nicht vor.
1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 24. September 2013, II ZR 396/12, ZIP 2014, 191 Rn. 2; zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) nicht bereits dann gegeben, wenn noch keine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, sondern nur dann, „wenn die Rechtssache eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deswegen das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt, d.h. die allgemein von Bedeutung ist. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann, wenn ihre Beantwortung zweifelhaft ist, weil sie vom Bundesgerichtshof noch nicht entschieden ist und in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt wird oder wenn sie in der Literatur in gewissem Umfang umstritten ist […] Derartige Unklarheiten bestehen nicht, wenn abweichende Ansichten in der Literatur vereinzelt geblieben und nicht oder nicht nachvollziehbar begründet sind …“
Die Rechtsfrage, ob eine Abhilfeklage nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz mit Blick auf eine anhängige Unterlassungsklage ausgesetzt werden darf, die (zum Teil) auf demselben Lebenssachverhalt beruht, ist zwar noch nicht durch den Bundesgerichtshof entschieden worden; sie wird jedoch, soweit ersichtlich, weder in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt, noch ist sie in der Literatur in gewissem Umfang umstritten. Weder die oben wiedergegebene Äußerung von G. V.noch diejenige von Melhardt befasst sich mit einem solchen Zusammentreffen; vielmehr bezieht sich G. V.auf ein Zusammentreffen einer auf das Unterlassungsklagengesetz gestützten Unterlassungsklage mit einer Abhilfeklage, während Melhardt sich mit der Frage der Möglichkeit einer Aussetzung nach § 8 KapMuG für den Fall eines Nebeneinanders von Kapitalanleger-Musterverfahren und Verbandsklage (Abhilfeklage oder Musterfeststellungsklage) nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz befasst. Zudem lässt sich für die Annahme der Beklagten, die Aussetzungsmöglichkeit sei aufgrund einer „Gesamtrechtsanalogie“ zu den oben genannten Vorschriften geboten, aus den zitierten Aufsätzen von G. V.und Melhardt nichts herleiten.
2. Eine Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) wäre nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschl. v. 25. August 2020, VIII ZR 59/20, NJW-RR 2020, 1275 Rn. 21; zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) nur dann geboten, „wenn der zu entscheidende Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Für die Entwicklung höchstrichterlicher Leitsätze besteht aber nur dann ein Bedürfnis, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt […]“
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Wie oben ausgeführt, ist mit Blick auf die von der Beklagten gewünschte Aussetzungsmöglichkeit keine Gesetzeslücke vorhanden, die es zu schließen gälte; auch wirft die Auslegung der für eine Aussetzung in Betracht kommenden Vorschriften keine Schwierigkeiten auf, denen durch die höchstrichterliche Aufstellung von Auslegungsleitsätzen abgeholfen werden müsste.
3. Von diesem Beschluss abweichende Rechtsprechung liegt, soweit ersichtlich, nicht vor, so dass eine Zulassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO) nicht in Betracht kam (vgl. Feskorn in Zöller, ZPO, § 543 Rn. 15 i. V. m. § 574 Rn. 9).