BGH: Keine Befugnis der Zivilkammer, selbst über Übertragung eines in originäre Einzelrichter-Zuständigkeit fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden
BGH, Beschluss vom 23.4.2024 – VIII ZB 75/23
ECLI:DE:BGH:2023:230423BVIIIZB75.23.0
Volltext: BB-Online BBL2024-1921-5
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Amtlicher Leitsatze
Im Beschwerdeverfahren ist die Zivilkammer nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. September 2017 – IX ZB 84/16, NZI 2017, 991 Rn. 11; vom 30. April 2020 – I ZB 61/19, BGHZ 225, 252 Rn. 24; vom 24. Mai 2023 – VII ZB 73/21, juris Rn. 9).
§ 91a Abs 1 S 1 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, § 568 S 1 ZPO, § 568 S 2 ZPO, § 576 Abs 3 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG
Aus den Gründen
I.
1 Der Kläger hat die Beklagten auf Räumung und Herausgabe einer von diesen gemieteten Wohnung in Anspruch genommen. Er hat den geltend gemachten Anspruch auf vorgerichtliche Kündigungserklärungen sowie auf eine Kündigung gestützt, die sein Prozessbevollmächtigter in einem Schriftsatz während des Rechtsstreits erklärt hat. Dieser Schriftsatz ist über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) des Prozessbevollmächtigten des Klägers bei dem Amtsgericht eingereicht und vom Amtsgericht nebst Prüfvermerk über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten an dessen beA übermittelt worden.
2 Die Parteien haben den Rechtsstreit in der Hauptsache durch einen gerichtlichen Vergleich beendet. Dieser sieht vor, dass das Gericht in entsprechender Anwendung der Regelung des § 91a ZPO über die Kosten des Rechtsstreits und des Vergleichs entscheiden soll.
3 Das Amtsgericht hat die Kosten des Rechtsstreits und des Vergleichs gegeneinander aufgehoben. Das Landgericht hat die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Beklagten durch die mit drei Mitgliedern besetzte Kammer zurückgewiesen. Es hat die Rechtsbeschwerde hinsichtlich der Frage zugelassen, ob eine Kündigungserklärung, die - wie hier - in einem mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Anwaltsschriftsatz erfolgt, per beA an das Gericht übermittelt und von diesem über EGVP an das beA des Prozessbevollmächtigten des Kündigungsadressaten versandt worden ist, dem Formerfordernis gemäß § 568 Abs. 1, § 126 Abs. 3, § 126a BGB entspricht.
4 Mit der Rechtsbeschwerde verfolgen die Beklagten ihr Begehren, dem Kläger die gesamten Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen, weiter.
II.
5 Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
6 1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts über die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist für den Senat bindend (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO).
7 Hierbei kommt es nicht darauf an, ob das Beschwerdegericht die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO zutreffend beurteilt hat (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 27. April 2021 - VIII ZB 44/20, NJW-RR 2021, 737 Rn. 10; vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 43/23, juris Rn. 14; jeweils mwN). Die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch die Kammer ist zudem unabhängig davon wirksam, ob - wie hier nicht - eine Übertragungsentscheidung des originär zuständigen Einzelrichters im Sinne von § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPO vorliegt. An eine unter Verstoß gegen § 568 Satz 2 ZPO erfolgte Zulassung ist das Rechtsbeschwerdegericht gemäß § 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO gleichwohl gebunden (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2020 - I ZB 61/19, BGHZ 225, 252 Rn. 21 mwN).
8 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, weil das Beschwerdegericht - was vom Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen zu beachten ist - unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entgegen § 568 Satz 1 ZPO nicht durch den originär zuständigen Einzelrichter, sondern trotz einer nicht (wirksam) erfolgten Übertragung des Verfahrens gemäß § 568 Satz 2 ZPO durch die Kammer entschieden hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. April 2023 - VII ZB 33/22, juris Rn. 8; vom 24. Mai 2023 - VII ZB 73/21, juris Rn. 7).
9 a) Gemäß § 568 Satz 1 ZPO entscheidet das Beschwerdegericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen worden ist. Hier hat der Amtsrichter die mit der sofortigen Beschwerde angefochtene Kostenentscheidung nach § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO getroffen. In einem solchen Fall ist die Kammer (§ 75 GVG) gemäß § 568 Satz 2 ZPO nur dann zur Entscheidung über die Beschwerde berufen, wenn der Einzelrichter durch eine gesonderte Entscheidung das Verfahren dem Beschwerdegericht zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung übertragen hat. Dies setzt einen entsprechenden Beschluss des Einzelrichters voraus (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 21. September 2017 - IX ZB 84/16, NZI 2017, 991 Rn. 10; vom 30. April 2020 - I ZB 61/19, BGHZ 225, 252 Rn. 23; vom 24. Mai 2023 - VII ZB 73/21, aaO Rn. 8; jeweils mwN; siehe bereits Senatsbeschluss vom 11. Februar 2003 - VIII ZB 56/02, NJW 2003, 1875 unter II 1, 3).
10 b) An einem solchen Beschluss des Einzelrichters fehlt es im Streitfall. Vielmehr hat die Kammer mit Beschluss vom 23. Oktober 2023 das Verfahren auf sich selbst zur Entscheidung übertragen. Das ist verfahrensfehlerhaft. Die Kammer ist - abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall, dass die Zuständigkeit des Einzelrichters (ausnahmsweise) zweifelhaft ist (§ 348 Abs. 2 ZPO analog; vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 16. September 2003 - X ARZ 175/03, BGHZ 156, 147, 152) - nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Insoweit ist unerheblich, ob der Einzelrichter an einem solchen Kammerbeschluss mitwirkt, weil nach § 568 Satz 2 ZPO die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für eine Übertragung auf die Kammer vorliegen, in die alleinige Entscheidungskompetenz des Einzelrichters fällt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. September 2017 - IX ZB 84/16, aaO Rn. 11; vom 30. April 2020 - I ZB 61/19, aaO Rn. 24; vom 24. Mai 2023 - VII ZB 73/21, aaO Rn. 9 mwN).
11 c) Die Bestimmung des § 568 Satz 3 ZPO, wonach auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung ein Rechtsmittel nicht gestützt werden kann, steht der Erheblichkeit des dem Beschwerdegericht unterlaufenen Verfahrensfehlers nicht entgegen. Die Vorschrift knüpft insoweit an den vorangehenden Satz 2 an, wonach der gemäß Satz 1 originär zuständige Einzelrichter das Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen dem Beschwerdegericht überträgt (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Februar 2003 - VIII ZB 56/02, aaO unter II 3). Darum geht es hier nicht. Es besteht kein Streit darüber, ob der Einzelrichter das Verfahren zu Recht nach § 568 Satz 2 ZPO der Kammer übertragen hat. Vorliegend hat der Einzelrichter insoweit überhaupt keine Entscheidung getroffen. Dieser Fall wird von § 568 Satz 3 ZPO nicht erfasst (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Februar 2003 - VIII ZB 56/02, aaO; vom 21. September 2017 - IX ZB 84/16, aaO Rn. 12; vom 30. April 2020 - I ZB 61/19, aaO Rn. 25 mwN; vom 24. Mai 2023 - VII ZB 73/21, aaO Rn. 10 mwN).
12 d) Da das Beschwerdegericht nach alledem zu Unrecht entgegen § 568 Satz 1 ZPO nicht durch den Einzelrichter, sondern durch die mit drei Mitgliedern besetzte Kammer entschieden hat, war es nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 1 ZPO). Angesichts dieses absoluten Rechtsbeschwerdegrunds ist es unerheblich, ob sich der angefochtene Beschluss aus anderen Gründen als richtig darstellt (§577 Abs. 3 ZPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Februar 2003 - VIII ZB 56/02, aaO unter II 4; vom 21. September 2017 - IX ZB 84/16, aaO Rn. 13; vom 30. April 2020 - I ZB 61/19, aaO Rn. 26; vom 24. Mai 2023 - VII ZB 73/21, aaO Rn. 11 mwN). III.
13 Die angefochtene Entscheidung kann deshalb keinen Bestand haben; sie ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht - Einzelrichter - zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Hinsichtlich der Gerichtskosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG Gebrauch.
14 Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass gegen eine Kostenentscheidung gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO die Rechtsbeschwerde nicht aus materiell-rechtlichen Gründen zugelassen werden darf, da es nicht Zweck des Kostenverfahrens ist, Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären oder das Recht fortzubilden, soweit es - wie im Streitfall - um Fragen des materiellen Rechts geht (st. Rspr.; vgl. Senatsbeschlüsse vom 28. Oktober 2008 - VIII ZB 28/08, NJW-RR 2009, 422 Rn. 5; vom 14. Mai 2013 - VIII ZB 51/12, juris Rn. 6; vom 19. September 2023 - VIII ZB 44/22, NJW-RR 2023, 1572 Rn. 4 f.; vom 30. Januar 2024 - VIII ZB 43/23, juris Rn. 14; jeweils mwN).