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Wirtschaftsrecht
30.01.2025
Wirtschaftsrecht
EuGH: Kartellschadensersatz – Nationale Regelung, die ein Sammelklage-Inkasso ausschließt, kann gegen Unionsrecht verstoßen

EuGH, Urteil vom 28.1.2025 – C-253/23, ASG 2 Ausgleichsgesellschaft für die Sägeindustrie Nordrhein-Westfalen GmbH gegen Land Nordrhein-Westfalen

ECLI:EU:C:2025:40

Volltext: BB-Online BBL2025-257-1

unter www.betriebs-berater.de

 

Tenor

Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4, Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union sowie Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie der Auslegung einer nationalen Regelung, die bewirkt, dass mutmaßlich durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte daran gehindert werden, ihre Schadensersatzansprüche an einen Rechtsdienstleister zur gebündelten Geltendmachung im Rahmen einer Schadensersatzklage abzutreten, die sich nicht auf eine – insbesondere in Bezug auf die Feststellung des Sachverhalts – bestandskräftige und bindende Entscheidung stützt, mit der eine Wettbewerbsbehörde eine solche Zuwiderhandlung festgestellt hat, entgegenstehen, soweit

-        das nationale Recht keinerlei andere Möglichkeit zur Bündelung individueller Forderungen dieser Geschädigten vorsieht, die geeignet wäre, eine wirksame Durchsetzung dieser Schadensersatzansprüche zu gewährleisten, und

-        sich die Erhebung einer individuellen Schadensersatzklage für diese Geschädigten in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls als unmöglich oder übermäßig schwierig erweist, mit der Folge, dass ihnen ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verwehrt würde.

Sollte sich diese nationale Regelung nicht unionsrechtskonform auslegen lassen, gebieten es diese Bestimmungen des Unionsrechts dem nationalen Gericht, die nationale Regelung unangewendet zu lassen.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 2 Nr. 4, Art. 3 Abs. 1 und Art. 9 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ASG 2 Ausgleichsgesellschaft für die Sägeindustrie Nordrhein-Westfallen GmbH (im Folgenden: ASG 2) und dem Land Nordrhein-Westfalen (Deutschland) (im Folgenden: Land) wegen einer auf Schadensersatz gerichteten Sammelklage der ASG 2 auf der Grundlage von Ersatzansprüchen, die ihr von 32 Sägewerken abgetreten wurden, wegen einer mutmaßlichen Zuwiderhandlung des Landes und anderer Waldbesitzer gegen Art. 101 AEUV.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Charta

3          Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) Abs. 1 der Charta lautet:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“

 

Verordnung (EG) Nr. 1/2003

4          Im 13. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:

„Bieten Unternehmen im Rahmen eines Verfahrens, das auf eine Verbotsentscheidung gerichtet ist, der Kommission an, Verpflichtungen einzugehen, die geeignet sind, die Bedenken der Kommission auszuräumen, so sollte die Kommission diese Verpflichtungszusagen durch Entscheidung für die Unternehmen bindend erklären können. Ohne die Frage zu beantworten, ob eine Zuwiderhandlung vorgelegen hat oder noch vorliegt, sollte in solchen Entscheidungen festgestellt werden, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht. Entscheidungen bezüglich Verpflichtungszusagen lassen die Befugnisse der Wettbewerbsbehörden und der Gerichte der Mitgliedstaaten, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung festzustellen und über den Fall zu entscheiden, unberührt. Entscheidungen bezüglich Verpflichtungszusagen sind für Fälle ungeeignet, in denen die Kommission eine Geldbuße aufzuerlegen beabsichtigt.“

 

5          Art. 9 („Verpflichtungszusagen“) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Beabsichtigt die Kommission, eine Entscheidung zur Abstellung einer Zuwiderhandlung zu erlassen, und bieten die beteiligten Unternehmen an, Verpflichtungen einzugehen, die geeignet sind, die ihnen von der Kommission nach ihrer vorläufigen Beurteilung mitgeteilten Bedenken auszuräumen, so kann die Kommission diese Verpflichtungszusagen im Wege einer Entscheidung für bindend für die Unternehmen erklären. Die Entscheidung kann befristet sein und muss besagen, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht.“

 

Richtlinie 2014/104

6          In den Erwägungsgründen 4, 12 und 13 der Richtlinie 2014/104 heißt es:

„(4) Das nach Unionsrecht geltende Recht auf Ersatz von Schäden infolge von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Union oder nationales Wettbewerbsrecht setzt voraus, dass in jedem Mitgliedstaat Verfahrensvorschriften bestehen, die gewährleisten, dass dieses Recht wirksam geltend gemacht werden kann. Die Notwendigkeit wirksamer Rechtsbehelfe ergibt sich auch aus dem Recht auf wirksamen Rechtsschutz, wie es in Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 [EUV] und in Artikel 47 Absatz 1 der [Charta] festgelegt ist. Die Mitgliedstaaten sollten wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleisten.

(12) Diese Richtlinie bestätigt erneut den gemeinschaftlichen Besitzstand in Bezug auf das Recht auf Ersatz des durch Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Union verursachten Schadens – insbesondere hinsichtlich der Klagebefugnis und der Definition des Schadens im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs –, ohne der Weiterentwicklung dieses Besitzstands vorzugreifen. Jeder, der durch eine derartige Zuwiderhandlung einen Schaden erlitten hat, kann Ersatz des eingetretenen Vermögensschadens (damnum emergens) und des ihm entgangenen Gewinns (lucrum cessans) zuzüglich der Zahlung von Zinsen verlangen, unabhängig davon, ob diese Kategorien im nationalen Recht getrennt oder einheitlich definiert sind. …

(13) Das Recht auf Schadensersatz ist für jede natürliche oder juristische Person – Verbraucher, Unternehmen wie Behörden – anerkannt, ohne Rücksicht darauf, ob eine unmittelbare vertragliche Beziehung zu dem zuwiderhandelnden Unternehmen besteht, und unabhängig von einer vorherigen Feststellung der Zuwiderhandlung durch eine Wettbewerbsbehörde. Mit dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet werden, Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes für die Durchsetzung der Artikel 101 und 102 AEUV einzuführen. Unbeschadet des Ersatzes für entgangene Geschäftsmöglichkeiten sollte der vollständige Ersatz im Rahmen dieser Richtlinie nicht zu Überkompensation führen, weder durch Strafschadensersatz noch durch Mehrfachentschädigung oder andere Arten von Schadensersatz.“

 

7          Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 sieht vor:

„In dieser Richtlinie sind bestimmte Vorschriften festgelegt, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass jeder, der einen durch eine Zuwiderhandlung eines Unternehmens oder einer Unternehmensvereinigung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht, den vollständigen Ersatz dieses Schadens von diesem Unternehmen oder dieser Unternehmensvereinigung zu verlangen, wirksam geltend machen kann. In dieser Richtlinie sind Vorschriften festgelegt, mit denen der unverfälschte Wettbewerb im Binnenmarkt gefördert und Hindernisse für sein reibungsloses Funktionieren beseitigt werden, indem in der ganzen [Europäischen] Union ein gleichwertiger Schutz für jeden gewährleistet wird, der einen solchen Schaden erlitten hat.“

 

8          Art. 2 der Richtlinie 2014/104 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

4. ‚Schadensersatzklage‘ eine Klage nach nationalem Recht, mit der ein Schadensersatzanspruch vor einem nationalen Gericht von einem mutmaßlich Geschädigten, von jemandem im Namen eines mutmaßlich Geschädigten oder mehrerer mutmaßlich Geschädigter – sofern diese Möglichkeit im Unionsrecht oder im nationalen Recht vorgesehen ist – oder von einer natürlichen oder juristischen Person, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten ist, einschließlich der Person, die den Anspruch erworben hat, geltend gemacht wird;

12. ‚bestandskräftige Zuwiderhandlungsentscheidung‘ eine Zuwiderhandlungsentscheidung, gegen die ein ordentliches Rechtsmittel nicht oder nicht mehr eingelegt werden kann;

…“

 

9          Art. 3 („Recht auf vollständigen Schadensersatz“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass jede natürliche oder juristische Person, die einen durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, den vollständigen Ersatz dieses Schadens verlangen und erwirken kann.“

 

10        In Art. 4 („Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz“) der Richtlinie 2014/104 heißt es:

„Im Einklang mit dem Effektivitätsgrundsatz gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass alle nationalen Vorschriften und Verfahren für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen so gestaltet sind und so angewandt werden, dass sie die Ausübung des Unionsrechts auf vollständigen Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Im Einklang mit dem Äquivalenzgrundsatz dürfen nationale Vorschriften und Verfahren für Klagen auf Ersatz des Schadens, der aus Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 AEUV entsteht, für mutmaßlich Geschädigte nicht weniger günstig sein als die Vorschriften und Verfahren für ähnliche Klagen auf Ersatz des Schadens, der aus Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht entsteht.“

 

11        Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 lautet:

„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz nach Artikel 101 oder 102 AEUV oder nach nationalem Wettbewerbsrecht vor einem ihrer nationalen Gerichte als unwiderlegbar festgestellt gilt.“

 

Deutsches Recht

12        § 1 Abs. 1 des Gesetzes über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz – RDG) vom 12. Dezember 2007 (BGBl. 2007 I S. 2840) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: RDG) sieht vor:

„Dieses Gesetz regelt die Befugnis, in der Bundesrepublik Deutschland außergerichtliche Rechtsdienstleistungen zu erbringen. Es dient dazu, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen.“

 

13        § 2 („Begriff der Rechtsdienstleistung“) RDG bestimmt:

„(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert.

(2) Rechtsdienstleistung ist, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1, die Einziehung fremder oder zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung abgetretener Forderungen, wenn die Forderungseinziehung als eigenständiges Geschäft betrieben wird, einschließlich der auf die Einziehung bezogenen rechtlichen Prüfung und Beratung (Inkassodienstleistung). Abgetretene Forderungen gelten für den bisherigen Gläubiger nicht als fremd.

…“

 

14        § 3 RDG („Befugnis zur Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen“) lautet:

„Die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen ist nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch dieses Gesetz oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.“

 

15        In § 10 RDG heißt es:

„(1) Natürliche und juristische Personen sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), dürfen aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen in folgenden Bereichen erbringen:

1. Inkassodienstleistungen …

…“

 

16        § 11 („Besondere Sachkunde, Berufsbezeichnungen“) Abs. 1 RDG sieht vor:

„Inkassodienstleistungen erfordern besondere Sachkunde in den für die beantragte Inkassotätigkeit bedeutsamen Gebieten des Rechts, insbesondere des Bürgerlichen Rechts, des Handels‑, Wertpapier- und Gesellschaftsrechts, des Zivilprozessrechts einschließlich des Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrechts sowie des Kostenrechts.“

 

17        § 12 RDG legt die Voraussetzungen für eine Registrierung für die Erbringung von Rechtsdienstleistungen fest und erteilt insoweit eine Verordnungsermächtigung zur Regelung der Einzelheiten, u. a. hinsichtlich des Nachweises der in § 10 RDG genannten theoretischen Sachkunde.

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

18        Am 31. März 2020 reichte die ASG 2 beim Landgericht Dortmund (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, eine Sammelklage auf Schadensersatz gegen das Land ein, die auf den Ersatz des durch ein Kartell entstandenen Schadens gerichtet war und auf Ansprüchen beruhte, die ihr von 32 Sägewerken mit Sitz in Deutschland, Belgien und Luxemburg (im Folgenden: betroffene Sägewerke) abgetreten worden waren.

 

19        Dem Land wurde vorgeworfen, unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV mindestens im Zeitraum vom 28. Juni 2005 bis zum 30. Juni 2019 die Preise für Nadelstammholz (im Folgenden: Rundholz) für sich und andere Waldbesitzer in diesem Bundesland vereinheitlicht zu haben (im Folgenden: in Rede stehendes Kartell).

 

20        Das Bundeskartellamt (Deutschland) hatte diese Vorgehensweise untersucht und 2009 eine Verpflichtungszusagenentscheidung nach § 32b des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (im Folgenden: GWB) und Art. 101 AEUV gegen das Land und andere, in gleicher Weise am Vertrieb von Rundholz beteiligte Länder erlassen (im Folgenden: Entscheidung von 2009).

 

21        Die betroffenen Sägewerke begehren vom Land den Ersatz des Schadens, der ihnen während der gesamten Dauer des in Rede stehenden Kartells durch die kartellbedingt überhöhten Preise, zu denen sie aus dem Land stammendes Rundholz gekauft hätten, entstanden sei.

 

22        Hierzu traten alle betroffenen Sägewerke ihre Ansprüche auf Ersatz des ihnen durch das in Rede stehende Kartell entstandenen Schadens an die ASG 2 ab. Die ASG 2, die als „Rechtsdienstleisterin“ im Sinne des RDG über eine Zulassung nach diesem Gesetz verfügt, macht somit – gegen ein Erfolgshonorar – den Schadensersatz im eigenen Namen und auf eigene Kosten, aber für Rechnung der Zedenten vor dem vorlegenden Gericht gebündelt geltend.

 

23        Die Kartellschadensersatzforderung soll auf mehreren Hunderttausend Rundholzbezügen der betroffenen Sägewerke beruhen. Für jedes Sägewerk sollen mehrere Tausend bis hin zu mehreren Zehntausend Bezüge zu verzeichnen sein.

 

24        Das Land stellt vor dem vorlegenden Gericht die Begründetheit der Klage und die Aktivlegitimation der ASG 2 in Abrede. Zu letzterem Punkt macht es geltend, dass die betroffenen Sägewerke ihre Schadensersatzansprüche unter Verstoß gegen das RDG an die ASG 2 abgetreten hätten. Daher seien diese Abtretungen nichtig. Die Zulassung nach dem RDG, über die die ASG 2 verfüge, gestatte ihr nämlich nicht die Beitreibung von Forderungen, die aus Schäden durch mutmaßliche Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht entstanden seien.

 

25        Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach deutschem Recht bei Massen- und Streuschäden die Klagen von Einzelpersonen durch ein sogenanntes Abtretungsmodell – auch als Sammelklage‑Inkasso bezeichnet – (im Folgenden: Sammelklage‑Inkasso) gebündelt werden könnten. Hierbei träten mutmaßlich Geschädigte ihre geltend gemachten Forderungen an einen Rechtsdienstleister ab, der die im RDG vorgesehene Zulassung erhalten habe, die es ihm dem Grundsatz nach gestatte, die gebündelten Forderungen im eigenen Namen und auf eigene Kosten für Rechnung der Zedenten gegen eine Erfolgsprovision beizutreiben.

 

26        Diese Praxis sei vom Bundesgerichtshof (Deutschland) für verschiedene Schadensersatzklagen gebilligt worden, namentlich im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über die Vermietung von Immobilien oder über die Entschädigung von Fluggästen. Dagegen legten die Untergerichte das RDG dahin aus, dass ein Sammelklagen‑Inkasso beim Ersatz von Schäden durch eine mutmaßliche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht insbesondere dann unzulässig sei, wenn es sich um eine sogenannte Stand‑alone-Klage handle, d. h. eine Schadensersatzklage, die sich nicht auf eine – insbesondere in Bezug auf die Feststellung des Sachverhalts – bestandskräftige und bindende Entscheidung stütze, mit der eine Wettbewerbsbehörde eine solche Zuwiderhandlung festgestellt habe (im Folgenden: Stand‑alone-Klage auf Schadensersatz). Der Bundesgerichtshof habe noch keine Gelegenheit gehabt, diese Frage zu entscheiden.

 

27        Im deutschen Recht gibt es nach dem Dafürhalten des vorlegenden Gerichts keinen zum Sammelklagen‑Inkasso gleichwertigen Rechtsbehelf, der eine wirksame Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen ermöglichen würde.

 

28        Daher sei die Wirksamkeit des Rechts auf Ersatz des durch ein Kartell verursachten Schadens nicht gewährleistet, insbesondere bei Streuschäden. Bei einer solchen Fallgestaltung sei der Einzelbetrag des Schadens nämlich dermaßen gering, dass er den Einzelnen dazu verleite, auf den ihm vom Unionsrecht verliehenen Schadensersatzanspruch zu verzichten.

 

29        Unter diesen Umständen stelle das Sammelklage‑Inkasso die einzige ökonomisch sinnvolle und praktikable Möglichkeit dar, einen solchen Schadensersatz zu verlangen. Das vorlegende Gericht meint allerdings, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abtretungen nach den Bestimmungen des RDG in ihrer Auslegung durch einige nationale Gerichte als nichtig anzusehen seien, so dass die bei ihm anhängige Klage abzuweisen wäre.

 

30        Es stelle sich aber die Frage, ob das Unionsrecht einer solchen Auslegung des RDG entgegenstehe, da diese Auslegung des nationalen Rechts insoweit, als sie den durch ein Kartell Geschädigten ein Sammelklage‑Inkasso vorenthalte, sowohl mit der Richtlinie 2014/104 als auch mit dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts und dem Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz unvereinbar sein könnte.

 

31        Das vorlegende Gericht wirft erstens die Frage auf, ob sich eine solche Unvereinbarkeit aus einer Gesamtschau von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 – in dem das in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannte Recht der durch ein Kartell Geschädigten auf vollständigen Ersatz der Kartellschäden niedergelegt sei – und Art. 2 Nr. 4 dieser Richtlinie ableiten lässt. Die zuletzt genannte Bestimmung beziehe sich nämlich ausdrücklich auf das Sammelklage‑Inkasso, da der Begriff „Schadensersatzklage“ im Sinne dieser Bestimmung eine Klage von „einer natürlichen oder juristischen Person, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten ist, einschließlich der Person, die den Anspruch erworben hat“, einschließe.

 

32        Zweitens sei zweifelhaft, ob die sich aus der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils dargestellten Auslegung des nationalen Rechts ergebende Unmöglichkeit für Geschädigte, ein Sammelklage‑Inkasso zu betreiben, mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 101 AEUV vereinbar sei. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Richtlinie 2014/104 ergebe sich, dass jedermann vollständigen Ersatz des Schadens verlangen könne, der ihm durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstanden sei. Die Mitgliedstaaten müssten daher die Effektivität des Rechts auf Ersatz dieses Schadens gewährleisten und dürften seine Ausübung nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Dies trage zum Schutz des öffentlichen Interesses an der Sicherstellung eines wirksamen Wettbewerbs in der Union bei.

 

33        Drittens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob der sich aus der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung des nationalen Rechts ergebende Umstand, dass den Geschädigten kein Sammelklage‑Inkasso zur Verfügung stehe, ihren in Art. 47 Abs. 1 der Charta, Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beeinträchtigt. In einer Situation wie der, um die es in der bei ihm anhängigen Rechtssache gehe, die Massen- oder Streuschäden zum Gegenstand habe, würde den Geschädigten nämlich die Möglichkeit genommen, den einzigen im nationalen Recht vorgesehenen wirksamen Rechtsbehelf zu nutzen, um ihr Recht auf Entschädigung durchzusetzen.

 

34        Letztlich sei, falls im Ergebnis festgestellt werden sollte, dass das nationale Recht mit dem Unionsrecht unvereinbar sei, eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich, da eine solche Auslegung contra legem wäre.

 

35        Unter diesen Umständen hat das Landgericht Dortmund beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 47 der Charta sowie Art. 2 Nr. 4 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104, dahin auszulegen, dass es einer Auslegung und Anwendung des Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, durch welches einem möglicherweise durch einen – aufgrund des Art. 9 der Richtlinie 2014/104 bzw. der diesen umsetzenden nationalen Vorschriften mit Bindungswirkung feststehenden – Verstoß gegen Art. 101 AEUV Geschädigten verwehrt wird, seine Ansprüche – insbesondere in Fällen von Massen- oder Streuschäden – an einen zugelassenen Rechtsdienstleister treuhänderisch abzutreten, damit dieser sie gebündelt mit Ansprüchen anderer vermeintlich Geschädigter im Wege einer Follow‑on-Klage durchsetzt, wenn andere gleichwertige gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen nicht bestehen, insbesondere weil sie nicht zu Leistungsurteilen führen oder aus sonstigen prozessualen Gründen nicht praktikabel bzw. aus wirtschaftlichen Gründen objektiv nicht zumutbar sind, und somit insbesondere die Verfolgung geringfügiger Schäden praktisch unmöglich oder jedenfalls übermäßig erschwert würde?

2. Ist das Unionsrecht jedenfalls dann in dieser Weise auszulegen, wenn die fraglichen Schadensersatzansprüche ohne eine vorangehende und mit Bindungswirkung im Sinne nationaler, auf Art. 9 der Richtlinie 2014/104 beruhender Vorschriften versehenen Entscheidung der Europäischen Kommission oder nationaler Behörden im Hinblick auf die vermeintliche Zuwiderhandlung verfolgt werden müssen (sogenannte „Stand‑alone-Klage“), wenn andere gleichwertige gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen zur zivilrechtlichen Verfolgung aus den in Frage 1 bereits genannten Gründen nicht bestehen und insbesondere wenn ansonsten eine Verletzung des Art. 101 AEUV überhaupt nicht, also weder im Wege des „public enforcement“ noch des „private enforcement“, verfolgt werden würde?

 

3. Wenn mindestens eine der beiden Fragen zu bejahen ist, müssen dann die entsprechenden Normen des deutschen Rechts, wenn eine europarechtskonforme Auslegung ausscheidet, unangewendet bleiben, was zur Folge hätte, dass die Abtretungen jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt wirksam sind und eine effektive Rechtsdurchsetzung möglich wird?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit der ersten Frage

36        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 sowie Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bewirkt, dass mutmaßlich durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte daran gehindert werden, ihre Schadensersatzansprüche an einen Rechtsdienstleister zur gebündelten Geltendmachung im Rahmen einer Follow‑on-Klage abzutreten, d. h. einer Schadensersatzklage, die auf eine bestandskräftige Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde folgt, mit der eine solche Zuwiderhandlung festgestellt wurde (im Folgenden: Follow‑on-Klage auf Schadensersatz).

 

37        Die Otto Fuchs Beteiligungen, das Land und die Kommission halten diese Frage für unzulässig. Die Klage im Ausgangsverfahren sei nicht als Follow‑on‑, sondern als Stand‑alone-Klage auf Schadensersatz anzusehen.

 

38        Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage nach ständiger Rechtsprechung auf eine Auslegung des Unionsrechts beziehen muss, die für die vom vorlegenden Gericht zu erlassende Entscheidung objektiv erforderlich ist (Urteile vom 12. Januar 2023, DOBELES HES, C‑702/20 und C‑17/21, EU:C:2023:1, Rn. 81, sowie vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 65).

 

39        Es ist allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 27, sowie vom 19. September 2024, Booking.com und Booking.com [Deutschland], C‑264/23, EU:C:2024:764, Rn. 34).

 

40        Daraus folgt, dass, da für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt, der Gerichtshof die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 28, sowie vom 19. September 2024, Booking.com und Booking.com [Deutschland], C‑264/23, EU:C:2024:764, Rn. 35).

 

41        Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung aber entnehmen, dass die erste Frage, da sie sich auf eine Follow‑on-Klage auf Schadensersatz bezieht, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.

 

42        Das vorlegende Gericht verweist nämlich darauf, dass es mit einer von der ASG 2 erhobenen Schadensersatzklage befasst sei, die auf den Ersatz des Schadens gerichtet sei, der den betroffenen Sägewerken durch das in Rede stehende Kartell entstanden sein soll. Das Gericht führt aus, dass es im Ausgangsverfahren außer der Entscheidung von 2009 keine weitere Entscheidung gebe.

 

43        Wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wurde die Entscheidung von 2009 aufgrund von § 32b GWB erlassen, dessen Wortlaut, wie vom Bundeskartellamt in seinen schriftlichen Erklärungen bestätigt, dem von Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 entspricht.

 

44        Eine auf der Grundlage von Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 erlassene Verpflichtungszusagenentscheidung enthält allerdings keine bestandskräftige Feststellung eines Verstoßes gegen die Art. 101 und 102 AEUV.

 

45        Art. 9 dieser Verordnung sieht nämlich nach Maßgabe ihres 13. Erwägungsgrundes vor, dass die Kommission im Rahmen eines nach dieser Bestimmung eingeleiteten Verfahrens von der Verpflichtung freigestellt ist, eine Zuwiderhandlung zu benennen und festzustellen, da sich ihre Aufgabe darauf beschränkt, die von den beteiligten Unternehmen vorgeschlagenen Verpflichtungszusagen gemäß den in ihrer vorläufigen Beurteilung festgestellten Bedenken und im Hinblick auf die von ihr verfolgten Ziele zu prüfen und gegebenenfalls zu akzeptieren. Der Erlass einer Verpflichtungszusagenentscheidung schließt somit das Verfahren über die Zuwiderhandlung gegenüber diesen Unternehmen ab und erlaubt es ihnen, die Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes und gegebenenfalls die Verhängung einer Geldbuße zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2010, Kommission/Alrosa, C‑441/07 P, EU:C:2010:377, Rn. 40 und 48).

 

46        In Bezug auf die Entscheidung von 2009 lässt sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen, dass das Bundeskartellamt darin Schwellenwerte für Kooperationen bei der Vermarktung von Rundholz sowie Maßnahmen zur Verringerung der Position des Landes auf dem betreffenden Markt festgelegt hat.

 

47        Daher kann die Entscheidung von 2009 nicht als eine bestandskräftige Zuwiderhandlungsentscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde im Sinne von Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 12 der Richtlinie 2014/104 angesehen werden. Die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Klage der ASG 2 kann daher nicht als eine Follow‑on-Klage auf Schadensersatz angesehen werden.

 

48        Die erste Frage ist daher unzulässig.

 

Zur zweiten und zur dritten Frage

49        Mit seinen Fragen 2 und 3, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4, Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 2014/104 sowie Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bewirkt, dass mutmaßlich durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte daran gehindert werden, ihre Schadensersatzansprüche an einen Rechtsdienstleister zur gebündelten Geltendmachung im Rahmen einer Stand‑alone-Klage auf Schadensersatz abzutreten.

 

50        Falls ja, möchte das Gericht wissen, ob es die entsprechenden Bestimmungen dieser nationalen Regelung, sollte deren unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sein, unangewendet zu lassen hätte.

 

Zur Zulässigkeit

51        Die Otto Fuchs Beteiligungen und das Land stellen die Zulässigkeit der zweiten und der dritten Frage in Abrede.

 

52        Erstens sei die zweite Frage hypothetisch bzw. für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich, und weder sie noch die dritte Frage bezögen sich auf die Auslegung des Unionsrechts.

 

53        Aus dem Inhalt der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht jedoch hervor, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits objektiv erforderlich ist.

 

54        Das vorlegende Gericht möchte nämlich wissen, ob die in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen des Unionsrechts der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den durch das in Rede stehende Kartell Geschädigten eine Inanspruchnahme des Sammelklage‑Inkassos verwehrt. Falls ja, wirft es die Frage auf, welche Konsequenzen aus einer solchen Unvereinbarkeit abzuleiten wären, falls eine unionsrechtskonforme Auslegung der Bestimmungen des RDG nicht möglich sei.

 

55        Zweitens machen die Otto Fuchs Beteiligungen und das Land der Sache nach geltend, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts auf unzutreffenden Prämissen beruhten. So sei das Gericht insbesondere zum einen zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Bestimmungen des RDG dahin auszulegen seien, dass sie einem Sammelklage‑Inkasso im Bereich des Wettbewerbsrechts grundsätzlich entgegenstünden. Zum anderen habe es fälschlicherweise angenommen, dass es den durch ein Kartell Geschädigten, soweit sie nicht auf ein Sammelklage‑Inkasso zurückgreifen könnten, praktisch unmöglich gemacht oder jedenfalls übermäßig erschwert werde, ihren durch das Unionsrecht zuerkannten Entschädigungsanspruch geltend zu machen, da das deutsche Recht ihnen keine ebenso wirksame Alternative biete, diesen Entschädigungsanspruch geltend zu machen.

 

56        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs werden die Vorlagefragen eines nationalen Gerichts zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen gestellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2023, EDP – Energias de Portugal u. a., C‑331/21, EU:C:2023:812, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

57        Da allein das vorlegende Gericht für die Auslegung und Anwendung des einzelstaatlichen Rechts zuständig ist, hat der Gerichtshof in Bezug auf den rechtlichen Kontext, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Überdies kann die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils genannte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, die für die Vorlagefragen gilt, nicht allein dadurch widerlegt werden, dass eine der Parteien des Ausgangsverfahrens bestimmte Tatsachen bestreitet, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat und die den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2016, Breitsamer und Ulrich, C‑113/15, EU:C:2016:718, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

58        Die in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannten Prämissen beruhen indessen auf einer Würdigung des nationalen Rahmens, in den sich der Ausgangsrechtsstreit einfügt, durch das vorlegende Gericht. Diese Würdigung fällt ausschließlich in die Zuständigkeit dieses Gerichts und der Gerichtshof hat ihre Richtigkeit nicht zu überprüfen.

 

59        Unter diesen Umständen – und unbeschadet einer solchen Überprüfung durch das vorlegende Gericht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2018, Altiner und Ravn, C‑230/17, EU:C:2018:497, Rn. 23) – ist festzustellen, dass die zweite und die dritte Frage zulässig sind.

 

Zur Beantwortung der Fragen

60        Art. 101 Abs. 1 AEUV erzeugt in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen und lässt in deren Person Rechte entstehen, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben (Urteile vom 30. Januar 1974, BRT und Société belge des auteurs, compositeurs et éditeurs, 127/73, EU:C:1974:6, Rn. 16, sowie vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

61        Insoweit wären die volle Wirksamkeit von Art. 101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in seinem Abs. 1 ausgesprochenen Verbots beeinträchtigt, wenn es nicht jedermann möglich wäre, Ersatz des Schadens zu verlangen, der ihm durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 26, sowie vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

62        Infolgedessen kann jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen diesem Schaden und einer solchen Zuwiderhandlung ein ursächlicher Zusammenhang besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 61, und vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

63        Das jedermann zustehende Recht auf Ersatz eines solchen Schadens erhöht die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, von – oft verschleierten – Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können; damit trägt es zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Union bei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

64        Wie sich aus dem 12. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 ergibt, wurde dieses Recht auf Ersatz des durch Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie kodifiziert, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass jede natürliche oder juristische Person, die einen solchen Schaden erlitten hat, den vollständigen Ersatz dieses Schadens verlangen und erwirken kann.

 

65        Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 wird ausgeführt, dass dieses Recht auf Ersatz voraussetzt, dass in jedem Mitgliedstaat Verfahrensvorschriften bestehen, die gewährleisten, dass dieses Recht wirksam geltend gemacht werden kann. Nach diesem Erwägungsgrund ergibt sich die Notwendigkeit wirksamer Rechtsbehelfe auch aus dem Recht auf wirksamen Rechtsschutz, wie es in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankert ist. Diesem Recht entspricht die in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehene Pflicht der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit dieser Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 44, sowie vom 6. Oktober 2020, État luxembourgeois [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 47).

 

66        Insoweit legt die Richtlinie 2014/104, wie in ihrem Art. 1 Abs. 1 vorgesehen, bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen fest, die der Unionsgesetzgeber für erforderlich gehalten hat, damit jeder, der einen durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht, den vollständigen Ersatz dieses Schadens von einem Unternehmen oder einer Unternehmensvereinigung zu verlangen, wirksam geltend machen kann.

 

67        In diesem Zusammenhang definiert Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/104 den Begriff „Schadensersatzklage“ als Klage nach nationalem Recht, mit der ein Schadensersatzanspruch vor einem nationalen Gericht von einem mutmaßlich Geschädigten, von jemandem im Namen eines mutmaßlich Geschädigten oder mehrerer mutmaßlich Geschädigter – sofern diese Möglichkeit u. a. im nationalen Recht vorgesehen ist – oder von einer natürlichen oder juristischen Person, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten ist, einschließlich der Person, die den Anspruch erworben hat, geltend gemacht wird.

 

68        Damit sieht die Richtlinie die Möglichkeit vor, dass eine Schadensersatzklage entweder unmittelbar von der natürlichen oder juristischen Person erhoben wird, der ein unionsrechtlicher Schadensersatzanspruch zusteht, oder von einem Dritten, an den das Recht des mutmaßlich Geschädigten, Ersatz zu verlangen, abgetreten wurde.

 

69        Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/104 beinhaltet aber, wie der Generalanwalt in den Nrn. 100 und 101 seiner Schlussanträge der Sache nach ausgeführt hat, keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, einen Sammelklagenmechanismus wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einzuführen. Ebenso wenig werden in diesem Artikel die Voraussetzungen geregelt, unter denen die Abtretung eines Anspruchs auf Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens durch den Geschädigten im Vorfeld einer entsprechenden Sammelklage gültig ist.

 

70        Folglich gehören sowohl die Einführung eines Sammelklagenmechanismus für Schadensersatzklagen als auch die Voraussetzungen, unter denen die Abtretung eines Schadensersatzanspruchs, der mutmaßlich mit einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht in Verbindung steht, an eine natürliche oder juristische Person zum Zweck der Erhebung einer solchen Sammelklage vor einem nationalen Gericht durch diese Person zu den Modalitäten der Geltendmachung dieses Schadensersatzanspruchs, die nicht von der Richtlinie 2014/104 geregelt werden.

 

71        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Regelung der Modalitäten für die Geltendmachung des Anspruchs auf Ersatz eines durch Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, wobei der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 29, sowie vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

72        Der Effektivitäts- und der Äquivalenzgrundsatz spiegeln sich in dem von der Richtlinie 2014/104 erfassten Bereich in deren Art. 4 wider, der in der Sache die Formulierung aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgreift. Für die Prüfung der zweiten und der dritten Frage ist jedoch nur auf den Effektivitätsgrundsatz abzustellen, der allein vom vorlegenden Gericht angeführt wird.

 

73        In dieser Bestimmung heißt es, dass die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem zuletzt angeführten Grundsatz gewährleisten, dass alle nationalen Vorschriften und Verfahren für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen so gestaltet sind und so angewandt werden, dass sie die Ausübung des Unionsrechts auf vollständigen Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

 

74        Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass die nationalen Vorschriften im Bereich des Wettbewerbsrechts nicht die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV beeinträchtigen dürfen und den Besonderheiten von Rechtssachen aus diesem Bereich angepasst sein müssen, die grundsätzlich eine komplexe Analyse der zugrunde liegenden Tatsachen und wirtschaftlichen Zusammenhänge erfordern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2023, Repsol Comercial de Productos Petrolíferos, C‑25/21, EU:C:2023:298, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

75        Außerdem ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für die Wahrung des in Art. 47 Abs. 1 der Charta verbürgten Rechts auf effektiven gerichtlichen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 bezieht sich, wie in Rn. 65 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf das Recht auf einen solchen Schutz.

 

76        Wie sich den Rn. 28 bis 33 des vorliegenden Urteils entnehmen lässt, hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob die nationale Rechtsprechung, die das RDG in dem Sinne auslegt, dass den durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigten die Inanspruchnahme eines Sammelklage‑Inkassos verwehrt wird, mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist.

 

77        Hierzu führt das vorlegende Gericht zum einen aus, diese Klage sei der einzige Rechtsbehelf, der diesen Personen eine wirksame gebündelte Geltendmachung ihres Schadensersatzanspruchs ermögliche. Zum anderen könnten diese Personen in eigenem Namen und für eigene Rechnung eine Schadensersatzklage erheben, was ihnen jedoch keine wirksame Durchsetzung ihres Anspruchs ermögliche. In Anbetracht des Umstands, dass eine individuelle Klage im Bereich von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht besonders komplex, langwierig und teuer sei, neigten die Geschädigten dazu, von der Erhebung einer solchen individuellen Klage abzusehen, insbesondere wenn es um einen geringen Betrag gehe.

 

78        Sämtliche Parteien des Ausgangsrechtsstreits mit Ausnahme der ASG 2 sowie die anderen in Art. 23 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten haben in ihren Erklärungen allerdings eine Reihe von Gesichtspunkten vorgetragen, die auf eine Nuancierung der Aussagen im Vorabentscheidungsersuchen hinauslaufen.

 

79        So ziehen diese Parteien und Beteiligten erstens die Aussage des vorlegenden Gerichts, das nationale Recht verwehre den durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigten grundsätzlich die Inanspruchnahme eines Sammelklage‑Inkassos, in Zweifel. Das Sammelklage‑Inkasso sei lediglich im Zusammenhang mit bestimmten wettbewerbsrechtlichen Fällen für ungeeignet befunden worden, in denen sein Einsatz de facto zu einem Verstoß gegen die Bestimmungen des RDG führen würde, die das Tätigwerden eines Rechtsdienstleisters bei einem Interessenkonflikt verböten.

 

80        Zweitens sei die Feststellung zu nuancieren, dass das nationale Recht keine Alternative zum Sammelklage‑Inkasso biete, die es den Geschädigten ermögliche, ihren Schadensersatzanspruch gebündelt geltend zu machen. Die Abtretung von Forderungen in Form eines echten Factorings – d. h. keine bloß fiduziarische Übertragung, sondern eine vollständige Forderungsübertragung an einen Dritten gegen sofortige Zahlung einer finanziellen Gegenleistung von diesem Dritten an den Zedenten – wie auch die Streitgenossenschaft – die in einer gemeinschaftlichen Klage mehrerer Kläger bestehe, die es ihnen u. a. ermögliche, zur Feststellung der Höhe ihres jeweiligen Schadens Bewertungen und Begutachtungen gemeinsam vornehmen zu lassen – stellten insoweit Alternativen dar, die von der deutschen Rechtspraxis in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten erwogen und zugelassen worden seien.

 

81        Drittens werde die Erwägung des vorlegenden Gerichts, wonach die Geschädigten dazu neigten, auf die Geltendmachung ihres Schadensersatzanspruchs zu verzichten, wenn sie ihn lediglich im Rahmen einer individuellen Klage verfolgen könnten, in der vorliegenden Rechtssache durch die Höhe der Einzelforderungen der betroffenen Sägewerke in Frage gestellt, wodurch deren etwaiges Desinteresse an dieser Art von Klage relativiert werde.

 

82        Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass allein das vorlegende Gericht darüber zu befinden hat, ob durch eine Auslegung des nationalen Rechts in der Weise, dass ein Sammelklage‑Inkasso in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten ausgeschlossen ist, eine Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs, den das Unionsrecht den durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigten verleiht, unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird und ihnen ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz verwehrt wird.

 

83        Dabei hat es indes die maßgeblichen Gesichtspunkte der im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten für die Geltendmachung des Anspruchs auf Ersatz des durch eine solche Zuwiderhandlung entstandenen Schadens in ihrer Gesamtheit zu würdigen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 45).

 

84        Somit dürfte das vorlegende Gericht nur dann die Schlussfolgerung ziehen, dass das nationale Recht in einer Auslegung, die ein solches Sammelklage‑Inkasso ausschließt, nicht den in den Rn. 71 bis 75 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen des Unionsrechts genügt, wenn es bei dieser Würdigung zu dem Ergebnis gelangt, dass zum einen keiner der Mechanismen einer gebündelten Geltendmachung, die das nationale Recht alternativ zum Sammelklage‑Inkasso vorsieht, es zulässt, den Anspruch der Personen oder Gruppe von Personen, die einen Ersatz des Schadens begehren, der durch eine mutmaßliche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstanden sein soll – hier also die betroffenen Sägewerke –, wirksam durchzusetzen, und dass zum anderen die im nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Erhebung einer individuellen Klage die Durchsetzung dieses Schadensersatzanspruchs unmöglich machen oder übermäßig erschweren und damit ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beeinträchtigen.

 

85        Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass das Vorhandensein von Mechanismen, die eine Bündelung individueller Forderungen ermöglichen, in Anbetracht der Besonderheiten von wettbewerbsrechtlichen Rechtssachen und insbesondere des in Rn. 74 des vorliegenden Urteils angeführten Umstands, dass die Erhebung von Schadensersatzklagen wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht grundsätzlich eine komplexe Analyse der zugrunde liegenden Tatsachen und wirtschaftlichen Zusammenhänge erfordert, zwar geeignet ist, die Durchsetzung der Schadensersatzansprüche der Geschädigten zu erleichtern. Solche Mechanismen können insbesondere die Erhebung von Stand‑alone-Klagen auf Schadensersatz erleichtern, zu deren Stützung es keinerlei bestandskräftige Feststellung einer Zuwiderhandlung durch eine Wettbewerbsbehörde gibt.

 

86        Die Komplexität solcher Schadensersatzklagen und die damit einhergehenden Verfahrenskosten lassen für sich genommen allerdings nicht die Schlussfolgerung zu, dass eine Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs im Rahmen einer individuellen Klage praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde, was zur Folge hätte, dass den durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigten ohne Mechanismen zur Bündelung ihrer individuellen Ansprüche ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verwehrt würde. Zu einer solchen Schlussfolgerung könnte das vorlegende Gericht nämlich nur dann gelangen, wenn es auf der Grundlage der Würdigung sämtlicher rechtlicher und tatsächlicher Umstände des Einzelfalls zu der Feststellung gelangte, dass konkrete Gesichtspunkte des nationalen Rechts der Erhebung solcher individueller Klagen entgegenstehen.

 

87        Sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass der Mechanismus des Sammelklage‑Inkassos im Ausgangsverfahren den einzigen Verfahrensweg darstellt, der den betroffenen Sägewerken die Möglichkeit gibt, ihren mutmaßlich mit dem in Rede stehenden Kartell zusammenhängenden Schadensersatzanspruch geltend zu machen, ließe eine solche Feststellung die Anwendung der nationalen Bestimmungen unberührt, die im Interesse des Schutzes des Einzelnen die Tätigkeit der Erbringer solcher Inkassodienstleistungen regeln, u. a. um die Qualität dieser Dienstleistungen sowie die Objektivität und Verhältnismäßigkeit der von solchen Dienstleistern erhaltenen Vergütungen zu gewährleisten und Interessenkonflikte wie auch missbräuchliche Verfahrenshandlungen zu verhindern.

 

88        Was schließlich die Konsequenzen betrifft, die aus einer etwaigen Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz durch das vorlegende Gericht zu ziehen wären, ergibt sich aus den Rn. 60 und 64 des vorliegenden Urteils, dass sich der in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 kodifizierte Anspruch auf vollständigen Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstandenen Schadens aus der Art. 101 Abs. 1 AEUV zuerkannten unmittelbaren Wirkung ableitet.

 

89        Der Gerichtshof hat zudem festgestellt, dass Art. 47 der Charta aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (Urteile vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, sowie vom 20. Februar 2024, X [Keine Angabe von Kündigungsgründen], C‑715/20, EU:C:2024:139, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

90        Ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, ist indessen nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 57 und 58, sowie vom 25. Januar 2024, Em akaunt BG, C‑438/22, EU:C:2024:71, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

91        Folglich wird das vorlegende Gericht in dem in Rn. 84 des vorliegenden Urteils genannten Fall zunächst unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und der dort anerkannten Auslegungsmethoden festzustellen haben, ob es die Möglichkeit hat, den maßgeblichen Bestimmungen des RDG eine unionsrechtskonforme Auslegung zu geben, ohne aber eine Auslegung contra legem dieser Bestimmungen vorzunehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

92        Wie in Rn. 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt, haben insoweit einige der am Verfahren vor dem Gerichtshof Beteiligten geltend gemacht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen eine Inanspruchnahme des Sammelklage‑Inkassos in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten nicht ausschlössen und von bestimmten nationalen Gerichten dahin ausgelegt würden, dass die Inanspruchnahme des Sammelklage‑Inkassos in einem konkreten Fall von der Einhaltung der Bedingungen abhängig gemacht werde, mit denen die Qualität der Dienstleistungen, ein angemessenes Niveau der Vergütung des Dienstleisters sowie das Fehlen eines Interessenkonflikts bei ihm gewährleistet werden sollten.

 

93        Das vorlegende Gericht hätte die angeführten Bestimmungen nur dann unangewendet zu lassen, wenn überhaupt keine unionsrechtskonforme Auslegung möglich wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

94        Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4, Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 2014/104 sowie Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Auslegung einer nationalen Regelung, die bewirkt, dass mutmaßlich durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte daran gehindert werden, ihre Schadensersatzansprüche an einen Rechtsdienstleister zur gebündelten Geltendmachung im Rahmen einer Stand‑alone-Klage auf Schadensersatz abzutreten, entgegenstehen, soweit

–            das nationale Recht keinerlei andere Möglichkeit zur Bündelung individueller Forderungen dieser Geschädigten vorsieht, die geeignet wäre, eine wirksame Durchsetzung dieser Schadensersatzansprüche zu gewährleisten, und

–            sich die Erhebung einer individuellen Schadensersatzklage für diese Geschädigten in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls als unmöglich oder übermäßig schwierig erweist, mit der Folge, dass ihnen ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verwehrt würde.

 

Sollte sich diese nationale Regelung nicht unionsrechtskonform auslegen lassen, gebieten es diese Bestimmungen des Unionsrechts dem nationalen Gericht, die nationale Regelung unangewendet zu lassen.

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