BVerfG: II. Verfassungsbeschwerden der Kanzlei
BVerfG, Urteil vom 27.6.2018 – 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1583/17
ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20180627.2bvr128717
Volltext des Urteils: BB-ONLINE BBL2018-1679-1
NICHT AMTLICHE LEITSÄTZE
1. International tätige Kanzleien, die ihren Hauptverwaltungssitz weder in Deutschland noch in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union haben, können sich auf materielle Grundrechte berufen.
2. Ausnahmsweise kann sich eine internationale Rechtsanwaltssozietät auf materielle Grundrechte berufen, wenn sie aufgrund der Betroffenheit ihres nationalen Standorts von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen wie eine inländische juristische Person zu behandeln ist.
GG Art. 19 Abs. 3
Aus den Gründen
V.
24 Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Ihnen kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie sind mangels Beschwerdeberechtigung der Beschwerdeführerin unzulässig.
25 … Eine Verfassungsbeschwerde kann gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG von jedermann mit der Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Beschwerdeberechtigt ist demnach nur, wer Träger des Rechts ist, dessen Verletzung er rügt (vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 90 Rn. 75). Die Beschwerdeführerin ist grundsätzlich nicht Trägerin von Grundrechten, da sie keine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG ist (1.). Die Betroffenheit eines ihrer deutschen Kanzleistandorte von hoheitlichen Eingriffsmaßnahmen führt im vorliegenden Fall nicht dazu, dass ihre Verfassungsbeschwerden wie die einer inländischen juristischen Person zu behandeln sind (2.). Eine Grundrechtsberechtigung folgt schließlich nicht aus den Regelungen des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags vom 29. Oktober 1954 (3.).
26 1. a) Träger von Grundrechten sind in erster Linie natürliche Personen. Darüber hinaus gelten die Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Art. 19 Abs. 3 GG beschränkt den Begriff der juristischen Person nicht auf vollrechtsfähige Vereinigungen (vgl. BVerfGE 3, 383 <391 f.>; 83, 341 <351>). Erfasst werden auch nicht rechtsfähige Personenzusammenschlüsse, wenn sie eine festgefügte Struktur haben, auf gewisse Dauer angelegt und nach der einfach-gesetzlichen Rechtslage zumindest auf manchen Gebieten taugliches Zuordnungssubjekt von Rechten sind (vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Abs. 3, Rn. 238 f.; Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3, Rn. 37 ff. [Mai 2009]; Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 3, Rn. 55).
27 Ausländische juristische Personen können sich dagegen nicht auf materielle Grundrechte berufen. Ihnen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung lediglich die grundrechtsähnlichen Rechte der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG zuerkannt, weil diese objektive Verfahrensgrundsätze enthalten, die jedem zugutekommen müssen, der nach den Verfahrensnormen parteifähig ist oder von dem Verfahren unmittelbar betroffen ist (vgl. BVerfGE 12, 6 <8>; 21, 362 <373>; 61, 82 <104>). Wortlaut und Sinn von Art. 19 Abs. 3 GG verbieten eine ausdehnende Auslegung auf ausländische juristische Personen im Hinblick auf materielle Grundrechte (vgl. BVerfGE 21, 207 <209>; 100, 313 <364>). Eine Ausnahme bilden nur ausländische juristische Personen, die ihren Sitz in der Europäischen Union haben. Auf sie ist die Grundrechtsberechtigung zu erstrecken, wenn ein hinreichender Inlandsbezug besteht, der die Geltung der Grundrechte in gleicher Weise wie für inländische juristische Personen geboten erscheinen lässt (vgl. BVerfGE 129, 78 <97 ff.>).
28 b) Für die Beantwortung der Frage, ob es sich um eine inländische oder eine ausländische juristische Person handelt, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und nach in der Literatur ganz überwiegend vertretener Ansicht entscheidend, wo die juristische Person ihren Sitz hat (sog. Sitztheorie); auf die Staatsangehörigkeit der hinter ihr stehenden natürlichen Personen kommt es hingegen nicht an (vgl. BVerfGE 21, 207 <208 f.>; 23, 229 <236>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2002 - 1 BvR 2284/95 -, juris, Rn. 14; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Dezember 2007 - 1 BvR 853/06 -, juris, Rn. 10; Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Abs. 3, Rn. 296; Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 3, Rn. 79 f.; Sachs, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 54 und 56; Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3, Rn. 78 f. [Mai 2009] m.w.N. auch zur Gegenansicht).
29 Der Sitz einer juristischen Person bestimmt sich nach dem tatsächlichen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Wird sie an mehreren Standorten tätig und erstreckt sich ihr Aktionsbereich gegebenenfalls sogar auf mehrere Länder, bestimmt sich ihr Sitz nach dem Ort der tatsächlichen Hauptverwaltung (vgl. Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3, Rn. 78 [Mai 2009]; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 66). Hauptverwaltungssitz eines Wirtschaftsunternehmens ist der Ort, an dem das oberste Verwaltungsorgan die Mehrheit seiner Entscheidungen über die Geschäftsführung trifft (vgl. Quaritsch, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2. Aufl. 2000, § 120 Rn. 48) beziehungsweise an dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1986 - V ZR 10/85 [BB 1986, 2153 Ls] -, NJW 1986, S. 2194 <2195> m.w.N.). Eine inter-national verflochtene juristische Person hat mithin nur dann ihren Hauptverwaltungssitz im Inland, wenn auch die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung im Inland fällt (vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Abs. 3, Rn. 296).
30 c) Nach diesen Maßgaben ist die Beschwerdeführerin keine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG.
31 Beschwerdeführerin ist die Partnership Jones Day und nicht ihr rechtlich unselbstständiger Münchener Kanzleistandort als solcher oder gar ein Zusammenschluss ihrer drei deutschen Standorte. Zwar weisen die Rubren der Verfassungsbeschwerden und die vorgelegten Vollmachten gemäß § 22 Abs. 2 BVerfGG die „Rechtsanwaltskanzlei Jones Day... München“ als Beschwerdeführerin aus und sind die Vollmachten von dem „Partner-In-Charge Germany“ unterzeichnet. Wenn die Beschwerdeführerin in den Verfassungsbeschwerden als partnerschaftlich organisierte und an über 40 Standorten weltweit tätige Rechtsanwaltskanzlei mit über 2.500 Berufsträgern in der Rechtsform einer Partnership nach dem Recht des US-Bundesstaats Ohio beschrieben wird, wird jedoch deutlich, dass die Partnership Jones Day in ihrer Gesamtheit als Beschwerdeführerin auftreten soll.
32 An welchem Ort sich der Hauptverwaltungssitz der Beschwerdeführerin befindet, geht weder aus den Verfassungsbeschwerdeschriften vom 8. Juni und 13. Juli 2017 noch aus der Replik der Beschwerdeführerin vom 8. Februar 2018 hervor. Sie trägt nicht vor, wo und von welchen Entscheidungsträgern die wesentlichen Entscheidungen über die Geschäftsführung der Partnership getroffen werden, sondern teilt lediglich negativ mit, dass sich eine Hauptverwaltung nicht am Ort ihrer Firmenregistrierung in Ohio befinde. Soweit sie behauptet, Verwaltungstätigkeiten würden von verschiedenen Standorten der Kanzlei aus ausgeübt, benennt sie diese Standorte wiederum nicht.
33 Auf der Grundlage des Vorbringens der Beschwerdeführerin kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass sich ihr Hauptverwaltungssitz in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union befindet. Dass die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung an den deutschen Kanzleistandorten oder an einem Standort in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union getroffen wird, behauptet die Beschwerdeführerin nicht. Dies erscheint auch fernliegend, da nach der Stellungnahme des Generalbundesanwalts, der die Beschwerdeführerin insoweit nicht entgegengetreten ist, nur etwa 500 der über 2.500 Rechtsanwälte an den insgesamt zehn europäischen Standorten tätig sind. Nur drei der über 40 Standorte befinden sich in Deutschland, die meisten hingegen in den USA. Eine herausgehobene Stellung innerhalb der Partnership kommt damit offenkundig weder den deutschen noch den anderen europäischen Standorten zu.
34 d) Selbst nach allen anderen zur Bestimmung inländischer juristischer Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG vertretenen Ansätzen (vgl. Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3, Rn. 79 [Mai 2009] m.w.N.) wäre die Beschwerdeführerin nicht als eine solche anzusehen. Ihre Gründung erfolgte nach ausländischem Recht, nämlich dem des US-Bundestaats Ohio. Dass die Beschwerdeführerin von deutschen Staatsangehörigen beherrscht wird, wird nicht vorgetragen und ist nicht ersichtlich.
35 2. Die Beschwerdeführerin kann sich auch nicht deshalb auf materielle Grundrechte berufen, weil sie aufgrund der Betroffenheit ihres Münchener Standorts von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen wie eine inländische juristische Person zu behandeln ist. Dabei kann dahinstehen, ob einer ausländischen juristischen Person, deren rechtlich unselbstständige inländische Standorte von hoheitlichen Eingriffen betroffen sind, unter den Voraussetzungen, die die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Entscheidung vom 18. März 2009 - 2 BvR 1036/08 - aufgestellt hat, eine Berufung auf materielle Grundrechte ausnahmsweise zugebilligt werden kann oder ob dies nur gilt, wenn die ausländische juristische Person ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat. Denn aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin ergibt sich nicht, dass die in der Kammerentscheidung vom 18. März 2009 aufgestellten Kriterien erfüllt sind.
36 a) Mit dem genannten Beschluss vom 18. März 2009 hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts unter anderem über die Verfassungsbeschwerde einer internationalen Rechtsanwaltssozietät entschieden, die sich gegen die Anordnung der Durchsuchung ihrer Standorte in Düsseldorf und Frankfurt am Main richtete. Die Sozietät war in der Rechtsform einer General Partnership nach englischem Recht organisiert. Sie verfügte über sechs Standorte in Deutschland, an denen ungefähr 570 Rechtsanwälte beschäftigt waren, während über 1.900 weitere Rechtsanwälte in ausländischen Büros arbeiteten (insoweit in der veröffentlichten anonymisierten Fassung des Beschlusses nicht abgedruckt). Die 1. Kammer des Zweiten Senats kam zu dem Ergebnis, dass die Verfassungsbeschwerde der General Partnership angesichts der Betroffenheit sowie der organisatorisch eigenständigen Stellung und des inländischen Tätigkeitsmittelpunktes der Beschwerdeführerin an beiden von der Durchsuchung betroffenen Standorten wie die von einer inländischen juristischen Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG erhobene Verfassungsbeschwerde zu behandeln sei.
37 b) Dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, hat die Beschwerdeführerin nicht dargelegt. Auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens kann nicht von einer organisatorisch eigenständigen Stellung des Münchener Standorts der Beschwerdeführerin ausgegangen werden.
38 In ihren Verfassungsbeschwerdeschriften vom 8. Juni und 13. Juli 2017 hat sie sich mit keinem Wort dazu geäußert, welche maßgeblichen Entscheidungen am Münchener Standort in eigener unternehmerischer Verantwortung getroffen werden können. Es bleibt beispielsweise offen, ob hier in eigener Verantwortung über Personalangelegenheiten entschieden werden darf, ob die geschäftliche Ausrichtung des Standorts selbst bestimmt werden kann oder über ein eigenes Budget verfügt wird.
39 In ihrer Replik vom 8. Februar 2018 äußert sich die Beschwerdeführerin zwar eingehender zu den am Münchener Standort getroffenen Entscheidungen. Dem Vortrag kann aber nicht entnommen werden, dass dem Münchener Standort der Beschwerdeführerin ein ausreichendes Maß an organisatorischer Eigenständigkeit zukommt. Soweit es dort heißt, dass die örtlichen „Partner-In-Charge“ jeweils unter der Aufsicht des „Managing Partner“ und in Abstimmung mit den „Partner-In-Charge“ der Regionen für die Geschäftsführung der einzelnen Standorte verantwortlich seien, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass eine eigene Verantwortung der örtlichen „Partner-In-Charge“ gerade nicht besteht. Auch die mit den Verfassungsbeschwerden vorgelegten Vollmachten legen keinen hohen Grad an organisatorischer Eigenständigkeit des Münchener Standorts nahe. Denn sie sind nicht von der für diesen Standort zuständigen „Partner-In-Charge München“, sondern vom „Partner-In-Charge Germany“ unterzeichnet.
40 3. Schließlich vermögen die Regelungen des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags vom 29. Oktober 1954 eine Grundrechtsberechtigung der Beschwerdeführerin nicht zu begründen.
41 a) Das Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag vom 7. Mai 1956 (BGBl II S. 487) steht im Rang eines einfachen Gesetzes unterhalb der Verfassung. Eine Änderung des Grundgesetzes kann durch ein solches Gesetz nicht herbeigeführt werden. Art. VI Abs. 1 des Vertrags ist demnach dahin auszulegen, dass die US-amerikanischen Gesellschaften beim Zugang zu den Fachgerichten gleich zu behandeln sind.
42 b) Die im Vertrag vom 29. Oktober 1954 getroffenen Vereinbarungen erfordern keine Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG auf US-amerikanische juristische Personen, wie sie der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 19. Juli 2011 (BVerfGE 129, 78) für juristische Personen mit Sitz in Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorgenommen hat. Diese Entscheidung reagiert auf die europäische Vertrags- und Rechtsentwicklung und die Ausgestaltung der Europäischen Union als hochintegrierter Staatenverbund (vgl. BVerfGE 129, 78 <96 f. und 99>). Eine vergleichbare Rechtsentwicklung hat zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA nicht stattgefunden.
43 Diese Entscheidung ist unanfechtbar.